51

»Du hast Jacob umgebracht?« Fast hätte ich die Worte nicht über die Lippen gebracht. »Aber warum?«

»Er hätte alles ruiniert«, antwortet Ian schlicht. »Hätte Anya sich von mir ferngehalten, wäre ihm nichts passiert. Es war ihre Schuld.«

Ich denke an die Frau vor dem Staatsgericht und an die alten Turnschuhe, die sie getragen hat. »Hat sie Geld gebraucht?«

Ian lacht. »Geld wäre einfach gewesen. Nein, sie wollte, dass ich ein Vater bin. Sie wollte, dass ich den Jungen an den Wochenenden zu mir nehme und ihm zum Geburtstag etwas schenke …« Er hält inne, als ich aufstehe und mich am Wannenrand abstütze. Vorsichtig prüfe ich, ob meine schmerzenden Beine mein Gewicht tragen können. Meine Füße brennen, als das Blut in sie zurückfließt. Ich schaue in den Spiegel, erkenne mich aber selbst kaum wieder.

»Du hättest von ihm erfahren«, sagt Ian, »und von Anya. Du hättest mich verlassen.«

Er steht hinter mir und legt mir sanft die Hände auf die Schultern. Ich sehe den Blick in seinem Gesicht, den ich schon so oft am Morgen nach einer Prügelattacke gesehen habe. Ich habe mir dann immer eingeredet, das sei Reue – obwohl er sich nie entschuldigt hat –, jetzt aber erkenne ich, dass das Angst ist. Er hat Angst, dass ich ihn als den Mann erkenne, der er wirklich ist. Er hat Angst, dass ich ihn nicht länger brauche.

Vermutlich hätte ich Jacob genauso sehr geliebt wie meinen eigenen Sohn. Ich hätte ihn aufgenommen, mit ihm gespielt und Geschenke für ihn ausgesucht, nur um die Freude auf seinem Gesicht zu sehen. Und plötzlich habe ich das Gefühl, als hätte Ian mir nicht nur eins, sondern zwei Kinder genommen, und diese verlorenen Leben verleihen mir neue Kraft.

*

Ich täusche Schwäche vor, schaue ins Waschbecken und werfe dann den Kopf mit aller Kraft zurück, die mir noch geblieben ist. Als mein Schädel auf Knochen trifft, höre ich ein Übelkeit erregendes Krachen.

Ian lässt mich los, drückte beide Hände auf sein Gesicht, und Blut sickert zwischen seinen Fingern hindurch. Ich renne an ihm vorbei ins Schlafzimmer und weiter zur Treppe, doch er ist schneller als ich. Bevor ich runterlaufen kann, packt er mich am Handgelenk. Seine blutigen Finger rutschen an meiner nassen Haut ab, und ich versuche, mich zu befreien. Ich ramme ihm den Ellbogen in den Bauch und ernte dafür einen Schlag, der mir den Atem raubt. Auf dem Treppenabsatz ist es stockdunkel, und ich verliere die Orientierung. Wo ist die Treppe? Ich taste mit dem nackten Fuß umher, und meine Zehen finden den Metallbeschlag der ersten Stufe.

Ich ducke mich unter Ians Arm weg und strecke beide Hände nach der Wand aus. Als würde ich Liegestützen machen, biege ich die Ellbogen durch, stoße mich dann ab und werfe mich mit meinem ganzen Gewicht gegen ihn. Ian stößt einen kurzen Schrei aus, als er den Halt verliert und die Treppe runterfällt.

Dann … Stille.

Ich schalte das Licht an.

Ian liegt am Fuß der Treppe und rührt sich nicht. Er liegt mit dem Gesicht nach unten auf den Schieferplatten, und ich sehe eine klaffende Wunde an seinem Hinterkopf, aus der Blut sickert. Ich stehe einfach nur da und schaue ihn an. Ich zittere am ganzen Leib.

Schließlich packe ich das Geländer und gehe langsam die Stufen runter. Nicht einen Augenblick lang weicht mein Blick von der liegenden Gestalt unten. Unten angekommen bleibe ich stehen. Ich sehe, dass Ians Brust sich schwach hebt und senkt.

Ich selbst atme ebenfalls flach. Vorsichtig strecke ich den Fuß aus und setzte ihn auf den Boden neben Ian.

Dann steige ich über seinen ausgestreckten Arm hinweg.

In dem Augenblick packt er mich am Fußgelenk, und ich schreie, doch es ist zu spät. Ich bin auf dem Boden, und Ian zieht sich auf mich drauf. Sein Gesicht und seine Hände sind blutüberströmt. Er versucht, etwas zu sagen, doch kein Ton kommt über seine Lippen, und vor lauter Anstrengung verzerrt sich sein Gesicht.

Er streckt die Hände aus, um mich an den Schultern zu packen, und als er auf einer Höhe mit meinem Gesicht ist, reiße ich das Knie hoch und ramme es ihm mit aller Gewalt in die Eier. Brüllend vor Schmerz lässt er mich los und krümmt sich, und ich rappele mich auf. Ich zögere nicht. Ich renne zur Tür und taste verzweifelt nach dem Riegel, doch er rutscht mir zweimal aus den Fingern, bevor ich ihn endlich zu packen bekomme und die Tür aufstoße. Die Nachtluft ist kalt, und die Wolken verdecken den Neumond fast völlig. Blind laufe ich los, doch nur Sekunden später höre ich Ians schwere Schritte hinter mir. Ich schaue nicht zurück, um zu sehen, wie weit er hinter mir ist, aber ich höre ihn bei jedem Schritt grunzen. Sein Atem klingt gequält.

Mit nackten Füßen kann man nur schwer über den steinigen Pfad rennen, doch die Geräusche hinter mir werden allmählich schwächer, und ich glaube, dass ich meinen Vorsprung ausbaue. Ich versuche, die Luft anzuhalten, um so wenig Lärm wie möglich zu machen.

Erst als ich die Brandung an den Felsen höre, fällt mir auf, dass ich die Abzweigung zum Campingplatz verpasst habe. Jetzt habe ich nur noch zwei Möglichkeiten: Entweder nehme ich den Pfad zum Strand hinunter, oder ich laufe an den Klippen entlang weiter, weg von Penfach. Diesen Weg bin ich schon oft mit Beau gegangen, doch noch nie im Dunkeln. Er führt so dicht am Klippenrand vorbei, dass ich schon immer Angst hatte, hier den Halt zu verlieren. Kurz zögere ich, aber die Vorstellung, auf dem Strand in die Enge getrieben zu werden, ist schlimmer als alles andere. Meine Chancen stehen besser, wenn ich einfach weiterlaufe. Deswegen biege ich nach rechts auf den Küstenweg ab. Der Wind hat aufgefrischt, und weil die Wolken am Mond vorbeiziehen, kann man auch wieder etwas sehen. Ich riskiere einen raschen Blick nach hinten. Der Pfad ist frei.

Ich verlangsame meinen Schritt und bleibe schließlich stehen. Abgesehen vom Rauschen des Meeres ist es vollkommen still, und mein Puls beruhigt sich wieder ein wenig. Gleichmäßig brechen die Wellen am Strand, und in der Ferne höre ich ein Nebelhorn. Ich schnappe nach Luft und versuche, mich zu orientieren.

»Du kannst mir nicht entkommen, Jennifer.«

Ich wirbele herum, sehe ihn aber nicht. Ich spähe durch die Dunkelheit und sehe ein paar verkümmerte Sträucher, daneben ein altes Gatter und in der Ferne ein kleines Gebäude, von dem ich weiß, dass es eine Schäferhütte ist.

»Wo bist du?«, rufe ich, doch der Wind trägt meine Worte aufs Meer hinaus. Ich hole Luft, um zu schreien, aber im selben Augenblick ist er hinter mir, schlingt den Arm um meinen Hals und reißt mich zurück, sodass ich zu ersticken drohe. Ich stoße ihm den Ellbogen in die Rippen, und sein Griff lockert sich genug, dass ich wieder nach Luft schnappen kann. Ich werde nicht sterben. Nicht jetzt, denke ich. Ich habe mich den größten Teil meines Erwachsenenlebens über versteckt. Immer bin ich weggelaufen, immer hatte ich Angst, und jetzt ist er wieder zurückgekommen – und das ausgerechnet dann, da ich mich wieder sicher gefühlt habe. Jetzt will er mir das alles wieder nehmen, aber das werde ich nicht zulassen. Adrenalin strömt durch meinen Körper, und ich werfe mich nach vorne. Die Bewegung bringt Ian genug aus dem Gleichgewicht, dass ich mich aus seinem Griff winden kann.

Und ich renne nicht weg. Ich bin oft genug vor ihm geflohen.

Ian greift wieder nach mir, doch ich ramme ihm den Handballen unters Kinn. Die Wucht des Schlags lässt ihn zurücktaumeln, und sekundenlang wankt er am Klippenrand. Er streckt die Hand nach mir aus, krallt nach meinem Bademantel, und seine Finger streifen den Stoff sogar. Ich schreie und springe einen Schritt zurück. Dabei verliere ich das Gleichgewicht, und einen Augenblick lang glaube ich, dass ich ihm folge und mein Leib auf dem Weg ins Meer an den Felsen zerschellt. Doch dann liege ich mit dem Gesicht nach unten an der Kante, und er fällt. Ich schaue nach unten und sehe kurz, wie er die Augen in den Schädel rollt. Dann verschlucken ihn die Wellen.

Meine Seele so kalt
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