13

Ray hatte sein Team für Operation Break zusammengestellt. Kate hatte er die Beweissicherung übertragen, was eine große Aufgabe für jemanden war, der erst achtzehn Monate zum Team gehörte, doch er war sicher, dass sie es konnte.

»Natürlich schaffe ich das!«, hatte Kate erklärt, als Ray ihr von seinen Bedenken erzählt hatte. »Außerdem kann ich ja jederzeit zu dir kommen, wenn ich Probleme habe, oder?«

»Jederzeit«, hatte Ray geantwortet. »Wie wär’s nach der Arbeit mit einem Drink?«

»Klar.«

Sie trafen sich inzwischen zwei-, dreimal die Woche nach der Arbeit, um an der Fahrerflucht zu arbeiten. Doch je mehr ausstehende Aufgaben sie abgearbeitet hatten, desto seltener sprachen sie bei diesen Treffen über den Fall. Stattdessen redeten sie über ihr Privatleben. Ray war überrascht gewesen, als er herausgefunden hatte, dass Kate ein genauso leidenschaftlicher Fan von Bristol City war wie er, und sie hatten viele schöne Abende damit verbracht, gemeinsam den kürzlichen Abstieg ihres Teams zu betrauern. Zum ersten Mal seit Jahren fühlte Ray sich nicht mehr nur als Ehemann, Vater und Polizist. Er war einfach nur Ray.

Ray hatte sorgfältig darauf geachtet, nicht während der normalen Arbeitszeit an dem Fall zu arbeiten. Schließlich widersetzte er sich einem direkten Befehl des Chiefs, doch solange er das nicht während der Dienstzeit machte, konnte Chief Rippon auch nichts dagegen haben. Und sollten sie tatsächlich eine Spur finden, die zu einer Verhaftung führen würde … Nun, dann würde sie ein anderes Lied singen.

Dass Ray und Kate ihre Arbeit vor dem Rest des Teams verbergen mussten, hieß auch, dass sie sich nur in einem Pub treffen konnten, das weit genug weg von den üblichen Polizeikneipen war. Im Horse and Jockey war es ruhig, und es gab dort mit hohen Wänden abgetrennte Sitznischen, wo sie den Papierkram ausbreiten konnten, ohne dass ihnen jemand über die Schulter sah. Außerdem interessierte sich der Wirt ohnehin nur für seine Kreuzworträtsel. Es war eine vergnügliche Art, den Tag abzuschließen und ein wenig herunterzukommen, bevor es wieder nachhause ging, und so ertappte Ray sich gerade dabei, wie er sehnsüchtig auf die Bürouhr schaute und dem Feierabend entgegenfieberte.

Doch wie nicht anders zu erwarten, wurde er in allerletzter Minute noch von einem Anruf aufgehalten, und als er schließlich im Pub ankam, hatte Kate ihr Glas schon halb geleert. Die unausgesprochene Abmachung lautete, dass derjenige, der als Erster kam, die Runde bezahlte, und so wartete schon ein Pint auf Ray.

»Was war?«, fragte Kate und schob ihm das Glas hin. »Irgendwas Interessantes?«

Ray trank einen Schluck. »Wir könnten ein paar Informationen bekommen«, antwortete er. »Es gibt da einen Drogendealer bei Creston, der seine Drecksarbeit von sechs, sieben kleineren Pushern erledigen lässt. Sieht so aus, als wird das ein netter, kleiner Job.« Ein besonders lautstarker Labour-Abgeordneter betonte immer wieder öffentlich, wie groß die Gefahr sei, die von »ungesetzlichem Vermögen« ausgehe, und Ray wusste, dass der Chief hierzu eine proaktive Haltung einnehmen wollte. Nun hoffte er, dass man ihm auch die Leitung dieser Ermittlung übertragen würde, wenn er sich bei Operation Break bewährte.

»Das Team für häusliche Gewalt hatte Kontakt zu Dominica Letts«, erzählte er Kate, »der Freundin einer der Dealer, und jetzt versuchen sie, sie zu einer Anzeige zu bewegen. Natürlich wollen wir ihn nicht dadurch verschrecken, dass wir bei ihm anrücken, aber wir haben auch eine Verpflichtung der Frau gegenüber.«

»Ist sie in Gefahr?«

Ray hielt kurz inne, bevor er antwortete: »Ich weiß es nicht. Der Staatsanwalt hat sie jedenfalls als stark gefährdet eingestuft, und sie will in gar keinem Fall gegen ihn aussagen. Genaugenommen kooperiert sie im Augenblick gar nicht mit uns.«

»Wie lange werden wir abwarten?«

»Das kann noch Wochen dauern«, sagte Ray. »In jedem Fall zu lang. Wir müssen sie in ein Frauenhaus bringen – wenn sie denn will – und die Anzeige wegen häuslicher Gewalt zurückhalten, bis wir ihn wegen Drogenhandels dranbekommen können.«

»Das ist Hobsons Entscheidung.« Nachdenklich legte Kate die Stirn in Falten. »Was ist wichtiger? Häusliche Gewalt oder Drogenhandel?«

»So einfach ist das nicht. Was ist zum Beispiel mit der Gewalt, die durch Drogenmissbrauch entsteht? Den Raubüberfällen von Junkies auf der Suche nach dem nächsten Fix? Die Auswirkungen des Drogenhandels sind ja vielleicht nicht so offensichtlich wie ein Schlag ins Gesicht, aber sie sind weitreichend und genauso schmerzhaft.« Ray bemerkte, dass er lauter sprach als gewöhnlich, und sofort unterbrach er sich.

Kate legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm. »Hey, ich spiele doch nur des Teufels Advokat. Das ist keine leichte Entscheidung.«

Ray grinste verlegen. »Tut mir leid. Ich habe ganz vergessen, wie sehr mich so was aufregen kann.« In Wirklichkeit war es allerdings schon eine Weile her, dass er überhaupt über so etwas nachgedacht hatte. Er war nun schon so viele Jahre bei der Polizei, dass die ursprünglichen Gründe für seine Jobwahl inzwischen unter einem Berg von Papierkram und Personalfragen begraben lagen. Da war es ganz gut, mal wieder daran erinnert zu werden, was wirklich zählte.

Kurz sah er Kate in die Augen, spürte die Wärme ihrer Haut. Eine Sekunde später zog sie die Hand wieder weg und lachte verlegen.

»Noch einen für den Weg?«, fragte Ray, und als er wieder am Tisch war, war der Moment vorbei, und er fragte sich, ob er sich alles nur eingebildet hatte. Er stellte die Drinks ab, riss eine Chipstüte auf und legte sie zwischen sich und Kate.

»Zu Jacob habe ich leider nichts Neues«, sagte er.

»Ich auch nicht«, seufzte Kate. »Uns bleibt wohl doch nichts anderes übrig, als einfach aufzugeben, oder?«

Ray nickte. »Sieht so aus. Tut mir leid.«

»Danke, dass du mich so lange hast weitermachen lassen.«

»Du hattest einfach recht«, sagte Ray. »Ich bin froh, dass wir weitergemacht haben.«

»Obwohl wir nichts erreicht haben?«

»Ja, denn jetzt fühlt es sich wenigstens richtig an, wenn wir den Fall zu den Akten zu legen. Wir haben alles getan, was wir tun konnten.«

Kate nickte bedächtig. »Ja, es fühlt sich wirklich anders an.« Sie schaute Ray in die Augen.

»Was ist?«

»Du bist also doch nicht der Stiefellecker des Chiefs.« Sie grinste, und Ray lachte. Es freute ihn, dass er bei Kate wieder an Ansehen gewonnen hatte.

In freundschaftlichem Schweigen aßen sie ihre Chips, und Ray schaute auf sein Handy für den Fall, dass Mags ihm eine SMS geschickt hatte.

»Wie läuft’s daheim?«

»Wie immer«, antwortete Ray und steckte das Handy wieder in die Tasche. »Tom knurrt noch immer beim Essen vor sich hin, und Mags und ich streiten uns nach wie vor darüber, was wir deswegen unternehmen sollen.« Er stieß ein kurzes Lachen aus, doch Kate stimmte nicht ein.

»Wann trefft ihr euch wieder mit seiner Lehrerin?«

»Wir waren gestern in der Schule«, antwortete Ray und verzog das Gesicht. »Das neue Schuljahr ist kaum sechs Wochen alt, und Tom schwänzt schon die ersten Stunden.« Er trommelte mit den Fingern auf dem Tisch. »Ich verstehe dieses Kind einfach nicht. Im Sommer war alles okay, doch kaum ist er wieder in der Schule, geht alles von vorne los. Er sagt kein Wort, ist ständig schlecht gelaunt und will einfach nicht mit uns reden.«

»Glaubt ihr immer noch, dass er in der Schule gemobbt wird?«

»Die Schule sagt Nein, aber was sollen sie auch sagen?« Ray hatte keine allzu gute Meinung von Toms Klassenlehrerin, die versucht hatte, Mags und Ray die Schuld an Toms Verhalten zu geben, weil sie nicht gemeinsam zu den Elternabenden gekommen waren. Mags hatte daraufhin gedroht, Ray an den Haaren aus dem Büro und zum nächsten Elternabend zu ziehen, und er hatte solche Bedenken gehabt, den Termin zu vergessen, dass er den ganzen Tag von Zuhause aus gearbeitet hatte. »Toms Lehrerin sagt, er habe einen schlechten Einfluss auf den Rest der Klasse«, erzählte Ray. »Offenbar ist er ›subversiv‹.« Er schnaubte verächtlich. »In seinem Alter! Das ist doch lächerlich. Wenn die Lehrer nicht mit unkooperativen Teenagern zurechtkommen, dann haben sie ihren Beruf verfehlt. Tom ist nicht subversiv, er ist einfach nur stur.«

»Wo er das wohl her hat?«, bemerkte Kate und verkniff sich ein Lächeln.

»Passen Sie auf, was Sie sagen, DC Evans! Oder wollen Sie wieder Streife gehen?« Er grinste.

Kates Lachen verwandelte sich in ein Gähnen. »’tschuldigung. Ich bin fix und fertig. Ich glaube, für mich war’s das heute. Mein Wagen ist in der Werkstatt. Ich muss zum Bus.«

»Ich kann dich fahren.«

»Sicher? Das liegt nicht gerade auf dem Weg.«

»Kein Problem. Komm. Zeig mir mal, wie es auf der schicken Seite der Stadt aussieht.«

*

Kates Wohnung lag in einem eleganten Apartmenthaus im Stadtzentrum von Clifton, wo die Immobilienpreise künstlich aufgeblasen waren.

»Meine Eltern haben mir mit der Kaution geholfen«, erklärte Kate. »Sonst hätte ich mir die Wohnung nie leisten können. Und sie ist sehr klein. Auf dem Papier hat sie zwar zwei Schlafzimmer, aber nur, wenn man es schafft, ein Bett auf das andere zu stapeln.«

»Anderswo hättest du sicher mehr für dein Geld bekommen.«

»Vermutlich, aber in Clifton gibt es einfach alles!« Kate machte eine weit ausholende Handbewegung. »Ich meine, wo sonst kann man um drei Uhr morgens Falafel bekommen?«

Da Ray um drei Uhr morgens höchstens einmal pinkeln wollte, hatte dieses Argument keinen Reiz für ihn.

Kate schnallte sich ab und hielt kurz inne, bevor sie die Tür öffnete. »Willst du nicht mit raufkommen und dir mal die Wohnung ansehen?« Ihr Tonfall war beiläufig, doch plötzlich lag eine Spannung in der Luft, und in diesem Augenblick wusste Ray, dass er eine Linie überschritt, die er in den letzten Monaten einfach nicht hatte wahrhaben wollen.

»Gerne«, sagte er.

Kates Wohnung lag im obersten Stock. Ein rumpelnder Lift führte dorthin, und binnen Sekunden war er da. Als die Aufzugtüren sich öffneten, befanden sie sich auf einem kleinen, mit Teppichboden ausgelegten Treppenabsatz, und direkt gegenüber lag eine cremefarbene Tür. Ray folgte Kate aus dem Lift, und schweigend standen sie da, während sich der Aufzug hinter ihnen schloss. Kate schaute ihm in die Augen, hob leicht das Kinn, wobei ihr eine Haarsträhne in die Stirn fiel.

»Hier wohne ich also«, sagte Kate, ohne den Blick von ihm abzuwenden.

Ray nickte und streckte die Hand aus, um ihr die Haarsträhne hinters Ohr zu schieben. Dann küsste er sie.

Meine Seele so kalt
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