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»Boss, hast du kurz Zeit? Es geht um die Fahrerflucht.« Stumpy schob seinen Kopf zur Tür herein. Kate stand hinter ihm.
Ray hob den Blick. In den letzten drei Monaten war die Ermittlungstätigkeit nach und nach zurückgefahren worden, um Kapazitäten für andere, dringendere Fälle zu schaffen. Ray ging die Maßnahmen noch immer ein paarmal die Woche mit Stumpy und seinem Team durch, aber es kamen nur noch vereinzelte Anrufe herein, und seit Wochen hatte es keine neuen Informationen mehr gegeben.
»Klar.«
Sie traten ins Büro und setzten sich. Stumpy kam direkt auf den Punkt. »Wir können Jacobs Mutter nicht finden.«
»Was soll das heißen?«
»Ihr Telefon ist tot, und das Haus ist leer. Sie ist wie vom Erdboden verschluckt.«
Ray schaute von Stumpy zu Kate, die verlegen den Kopf senkte. »Soll das ein Scherz sein?«
»Falls das so ist, dann verstehen wir den Witz nicht«, sagte Kate.
»Sie ist unsere einzige Zeugin!«, explodierte Ray. »Ganz zu schweigen davon, dass sie auch die Mutter des Opfers ist! Wie zum Teufel konnte das passieren?«
Kate lief rot an, und Ray zwang sich, sich wieder zu beruhigen.
»Sagt mir genau, was passiert ist.«
Kate schaute zu Stumpy. Er nickte. »Nach der Pressekonferenz hatten wir nicht mehr viel mit ihr zu tun«, begann Kate. »Wir hatten ihre Aussage ja schon, und daher haben wir sie der Opferbetreuung überlassen.«
»Wer war das?«
»PC Diana Heath«, antwortete Kate nach kurzer Pause, »von der Verkehrspolizei.«
Ray machte sich eine Notiz in seinem blauen Buch und wartete darauf, dass Kate fortfuhr.
»Diana wollte gestern mal nach Jacobs Mum sehen, doch das Haus war leer, und sie war weg.«
»Was haben die Nachbarn gesagt?«
»Nicht viel«, berichtete Kate. »Sie kannte ihre Nachbarn nicht gut genug, um bei einem von ihnen eine Nachsendeadresse zu hinterlassen, und niemand hat sie gehen sehen. Es ist, als hätte sie sich einfach in Luft aufgelöst.«
Wieder schaute sie zu Stumpy hinüber, und Ray kniff die Augen zusammen. »Was verschweigt ihr mir?«
Erneut folgte eine kurze Pause, bevor Stumpy mit der Sprache rausrückte.
»Offensichtlich hat es in einem lokalen Internetforum einen kleinen Shitstorm gegeben. Irgendjemand hat Stunk gemacht und sie als verantwortungslose Mutter beschimpft … so was eben.«
»Reicht das für eine Anzeige wegen übler Nachrede?«
»Möglicherweise. Inzwischen ist zwar alles gelöscht, aber ich habe unsere IT gebeten, mal nachzusehen, ob sie noch was aus dem Cache holen können. Doch das ist noch nicht alles, Boss. Allen Berichten zufolge haben die Uniformierten wohl ein wenig Druck ausgeübt, als sie sie unmittelbar nach dem Unfall befragt haben. Sensibel waren sie jedenfalls nicht gerade. Offenbar glaubte Jacobs Mum, dass wir sie für den Unfall verantwortlich machen und deshalb nicht wirklich nach dem Fahrer suchen.«
»Oh Gott«, stöhnte Ray. Er hoffte nur, dass der Chief nichts davon mitbekommen hatte. »Hat sie zu dem Zeitpunkt irgendwie zu verstehen gegeben, dass sie mit dem Vorgehen der Polizei nicht einverstanden war?«
»Uns gegenüber nicht, Diana war die Erste, die uns davon erzählt hat«, antwortete Stumpy.
»Hört euch mal in der Schule um«, sagte Ray. »Irgendjemand muss doch noch Kontakt mit ihr haben. Und klappert die Hausärzte in der Gegend ab. Hier gibt es doch sicherlich nicht mehr als zwei, drei Ärzte, die Mutter und Kind zusammen behandeln. Zu einem von denen muss sie gegangen sein. Vielleicht haben die ja die Adresse ihres neuen Arztes.«
»Okay, Boss.«
»Und sorgt um Himmels willen dafür, dass die Post nicht erfährt, dass wir sie verloren haben.« Ray lächelte schief. »Das wäre ein Fest für Suzy French.«
Niemand lachte.
»Gibt es, abgesehen davon, dass wir unsere wichtigste Zeugin verloren haben«, sagte Ray, »noch etwas, das ich wissen müsste?«
»Die Anfragen in den Nachbarbezirken haben nichts gebracht«, berichtete Kate. »Es sind zwar ein paar gestohlene Wagen von denen bei uns aufgetaucht, doch die sind alle sichergestellt. Außerdem habe ich sämtliche Werkstätten abgeklappert und alle Fahrzeuge überprüft, die an jenem Abend die Geschwindigkeit überschritten haben oder sonst wie aufgefallen sind. Niemand kann sich an etwas Verdächtiges erinnern … oder zumindest hat es mir niemand gesagt.«
»Wie kommen Brian und Pat mit den Überwachungskameras voran?«
»Sie haben schon viereckige Augen«, antwortete Stumpy. »Unsere und die Kameras der Stadt haben sie alle durch. Jetzt sind sie an den Tankstellen dran. Ein Wagen, von dem sie glauben, dass es jedes Mal derselbe ist, ist von drei Kameras aufgenommen worden, als er wenige Minuten nach dem Unfall aus Richtung Enfield Avenue gekommen ist. Er hat ein paar gefährliche Überholmanöver gemacht und ist dann verschwunden. Mehr haben wir nicht von ihm, und das Bildmaterial ist schlecht. Brian und Pat versuchen herauszufinden, um was für eine Marke es sich handelt, obwohl noch nichts darauf hindeutet, dass es tatsächlich der Gesuchte ist.«
»Sehr schön. Danke für das Update.« Um seine Enttäuschung über die mangelnden Fortschritte zu verbergen, schaute Ray auf die Uhr. »Warum geht ihr zwei nicht schon mal in den Pub? Ich muss noch den Superintendent anrufen. In einer halben Stunde komme ich nach.«
»Gute Idee«, sagte Stumpy. Für ein Pint war er immer zu haben. »Kate?«
»Warum nicht?«, antwortete sie. »Aber die Rechnung geht auf euch.«
*
Tatsächlich dauerte es fast eine Stunde, bis Ray im Nag’s Head erschien, und die anderen hatten bereits die zweite Runde bestellt. Ray beneidete die beiden um ihre Fähigkeit abzuschalten, während er selbst seit dem Gespräch mit dem Superintendent einen flaues Gefühl im Magen hatte. Sein Chef war zwar freundlich gewesen, doch es war klar, was die Stunde geschlagen hatte: Die Ermittlungen neigten sich ihrem Ende entgegen. Der Pub war warm und gemütlich, und Ray wünschte, er könnte die Arbeit einfach mal für eine Stunde beiseiteschieben und über Fußball oder das Wetter reden anstatt über ein fünfjähriges Kind und ein vermisstes Fahrzeug.
»Typisch. Natürlich kommst du genau dann, wenn ich gerade von der Bar zurück bin«, knurrte Stumpy.
»Wie? Hast du etwa deine Börse gezückt?«, sagte Ray und zwinkerte Kate zu. »Ja, Wunder gibt es immer wieder.« Er bestellte sich ein Pint Bitter, kehrte an den Tisch zurück und warf drei Tüten Chips auf den Tisch.
»Wie ist es mit dem Superintendent gelaufen?«, fragte Kate.
Ray konnte die Frage weder ignorieren noch Kate belügen. Um sich etwas Zeit zu verschaffen, trank er einen kräftigen Schluck von seinem Pint. Kate beobachtete ihn. Sie brannte darauf zu hören, dass man ihnen mehr Ressourcen zur Verfügung stellte oder ein größeres Budget. Ray hasste es, sie zu enttäuschen, doch irgendwann musste sie es erfahren. »Ehrlich gesagt, ziemlich scheiße. Brian und Pat sind in den Streifendienst zurückversetzt worden.«
»Was? Warum?« Kate knallte ihr Glas mit solcher Wucht auf den Tisch, dass das Bier herausschwappte.
»Wir können von Glück sagen, dass wir sie überhaupt so lange gehabt haben«, sagte Ray. »Und sie haben einen tollen Job mit den Überwachungsvideos gemacht. Aber sie werden im Streifendienst gebraucht, und die harte Wahrheit ist, dass weitere Kosten nicht zu rechtfertigen sind. Tut mir leid.« Er fügte die Entschuldigung hinzu, als sei er für diese Entscheidung verantwortlich, doch an Kates Reaktion änderte das nichts.
»Wir können doch nicht einfach so aufgeben!« Sie schnappte sich einen Bierdeckel und begann, ihn zu zerpflücken.
Ray seufzte. Ja, polizeiliche Ermittlungen kosteten Geld, viel Geld sogar. Aber wie viel war ein Leben wert? Ein Kinderleben? Konnte man dem überhaupt einen Preis zumessen?
»Wir geben doch gar nicht auf«, erwiderte er. »Du bist schließlich an der Sache mit dem Nebelscheinwerfer dran, oder?«
Kate nickte. »In der Woche nach dem Unfall sind dreiundsiebzig davon ausgetauscht worden«, berichtete sie. »Die Versicherungsansprüche waren berechtigt, und die Kunden, die selbst bezahlt haben, überprüfe ich gerade.«
»Siehst du? Wer weiß, was wir da noch finden werden? Wir fahren die Ermittlungen nur ein wenig zurück.« Auf der Suche nach moralischer Unterstützung schaute Ray zu Stumpy, doch er bekam keine.
»Die Bosse sind nur an schnellen Ergebnissen interessiert, Kate«, erklärte Stumpy. »Wenn wir einen Fall nicht innerhalb von ein paar Wochen lösen können – idealerweise schon nach ein paar Tagen –, dann rutscht er auf der Prioritätenliste nach unten und macht Platz für einen anderen.«
»Ich weiß, wie das läuft«, sagte Kate. »Deshalb ist es aber noch lange nicht richtig.« Sie schob die Fetzen des Bierdeckels zu einem Haufen zusammen. Ray fiel auf, dass ihre Fingernägel unlackiert und abgekaut waren. »Ich habe einfach das Gefühl, dass des Rätsels Lösung direkt hinter der nächsten Ecke auf uns wartet. Wisst ihr, was ich meine?«
»Ja, das Gefühl kenne ich«, antwortete Ray, »und vielleicht hast du auch recht. Doch jetzt wirst du dich erst einmal daran gewöhnen müssen, nur noch zwischendurch an dem Unfall zu arbeiten. Die Flitterwochen sind vorbei.«
»Ich habe mir überlegt, noch einmal im Royal Infirmary nachzufragen, dem Unfallkrankenhaus«, sagte Kate. »Es ist durchaus möglich, dass auch der Fahrer bei dem Unfall verletzt worden ist. Ja, ich weiß, das haben wir auch schon in der Nacht überprüft, aber vielleicht ist er erst ein paar Tage später zum Arzt gegangen.«
»Gute Idee«, sagte Ray. Der Vorschlag erinnerte ihn an irgendetwas, er wusste nur nicht an was. »Und frag auch nochmal im Southmead nach und im Frenchay.« Sein Handy vibrierte. Das war eine SMS. Ray nahm das Handy vom Tisch und las. »Oh Scheiße.«
Die anderen schauten ihn an, Kate überrascht und Stumpy mit einem Grinsen.
»Was hast du jetzt schon wieder vergessen?«, fragte er.
Ray verzog das Gesicht, antwortete aber nicht. Er leerte sein Glas, holte einen Zehner aus der Tasche und gab ihn Stumpy. »Hol euch beiden noch einen Drink. Ich muss heim.«
*
Mags räumte gerade die Spülmaschine ein, als Ray hereinkam, und sie rammte die Teller mit solcher Wucht in die Halterungen, dass Ray zusammenzuckte.
»Es tut mir ja so leid«, sagte er. »Ich habe das ganz vergessen.«
Mags öffnete eine Flasche Wein. Sie hatte nur ein Glas herausgeholt, bemerkte Ray, doch es war wohl klüger, das nicht zu erwähnen.
»Es ist wirklich sehr selten«, sagte Mags, »dass ich dich darum bitte, zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort zu sein. Ich weiß, dass der Job manchmal an erster Stelle kommt. Das verstehe ich. Wirklich. Aber dieser Termin stand schon seit zwei Wochen. Seit zwei Wochen! Und du hast es versprochen, Ray.«
Ihre Stimme zitterte, und Ray legte vorsichtig den Arm um ihre Schultern. »Tut mir leid, Mags«, sagte er. »War es sehr schlimm?«
»Es war ganz okay.« Sie schüttelte Rays Arm ab, setzte sich an den Küchentisch und trank einen kräftigen Schluck Wein. »Ich meine, sie hatten nichts Schlimmes zu berichten, außer dass Tom sich noch nicht so gut an die Schule gewöhnt zu haben scheint wie die anderen Kinder. Das macht ihnen ein wenig Sorgen.«
»Und was unternehmen sie deswegen?« Ray holte sich ein Weinglas aus dem Schrank, füllte es und setzte sich zu Mags an den Tisch. »Haben die Lehrer zumindest mal mit ihm gesprochen?«
»Tom hat offenbar gesagt, alles sei gut.« Mags zuckte mit den Schultern. »Mrs Hickson hat immer wieder versucht, ihn zu motivieren, mehr am Unterricht teilzunehmen, aber er sagt kein Wort. Sie hat sich schon gefragt, ob er einfach nur einer von den Stillen ist.«
Ray schnaubte verächtlich. »Still? Tom?«
»Genau.« Mags schaute ihren Mann an. »Ich hätte dich da wirklich gut gebrauchen können.«
»Ich habe es völlig vergessen. Es tut mir leid, Mags. Ich hatte so viel zu tun, und dann bin ich noch auf ein Bier in den Pub gegangen.«
»Mit Stumpy?«
Ray nickte. Mags hatte eine Schwäche für Stumpy, der auch Toms Patenonkel war, und sie fand es eigentlich immer in Ordnung, wenn Stumpy und Ray nach der Arbeit noch einen trinken gingen. Von Kate sagte Ray jedoch kein Wort … er wusste nicht, warum.
Mags seufzte. »Und was sollen wir jetzt tun?«
»Er wird sich schon noch einleben«, antwortete Ray. »Schau mal … Die Schule ist einfach neu für ihn, und für Kinder ist es eine große Sache, wenn sie auf die weiterführende Schule kommen. Er war lange Zeit ein großer Fisch in einem kleinen Teich, und jetzt schwimmt er mit den Haien. Ich werde mal mit ihm reden.«
»Aber halt ihm keinen deiner Vorträge …«
»Ich halte keine Vorträge!«
»Das macht es nur noch schlimmer.«
Ray biss sich auf die Zunge. Er und Mags waren ein gutes Team, aber wenn es um die Erziehung ging, sahen sie vieles anders. Mags war wesentlich weicher. Sie neigte dazu, den Kindern nachzugeben und sie zu verwöhnen, anstatt ihnen beizubringen, auf eigenen Beinen zu stehen.
»Ich werde ihm keinen Vortrag halten«, versprach Ray.
»Die Schule hat vorgeschlagen, dass wir uns die Sache erst einmal ein paar Monate lang ansehen. Anfang des zweiten Halbjahres will Mrs Hickson dann noch mal mit uns reden.« Mags schaute Ray nachdrücklich an.
»Sag mir einfach, wann«, erklärte er. »Ich werde dort sein.«