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Kaum habe ich Bristol hinter mir gelassen, gerät mein Entschluss ins Wanken. Bis jetzt habe ich noch gar nicht darüber nachgedacht, wohin es eigentlich geht. Ich fahre blind in Richtung Westen, vielleicht nach Devon oder Cornwall. Wehmütig erinnere ich mich an die Ferien in meiner Kindheit, als ich mit Eve Sandburgen am Strand gebaut habe, das Gesicht verklebt von Eis am Stiel und Sonnencreme. Und die Erinnerung zieht mich zum Meer, weg von den großzügigen Alleen Bristols und weg vom Verkehr. Ich empfinde eine fast körperliche Angst vor diesen Autos, die es gar nicht erwarten können, uns zu überholen, als der Bus die Haltestelle anfährt. Eine Weile wandere ich ziellos umher. Dann gebe ich einem Mann am Fahrkartenschalter der Überlandbusse zehn Pfund. Ihn kümmert es genauso wenig wie mich, wohin ich fahre.
Wir überqueren die Severn Bridge, und ich schaue auf das trübe, wirbelnde Wasser des Bristol Channel hinunter. In dem großen Bus ist alles ruhig und anonym, und hier liest niemand die Bristol Post, und niemand redet von Jacob. Ich lehne mich zurück. Ich bin erschöpft, doch ich wage es nicht, die Augen zu schließen. Wenn ich schlafe, höre und sehe ich wieder den Unfall, und mich quält das Wissen, dass all das nicht passiert wäre, wenn ich nur ein paar Minuten früher da gewesen wäre.
Der Bus fährt nach Swansea, und verstohlen werfe ich einen Blick auf die anderen Passagiere. Größtenteils handelt es sich um Studenten mit Kopfhörern im Ohr. Eine Frau meines Alters liest die Zeitung und macht sich sorgfältig Notizen am Rand. Es ist irgendwie seltsam, dass ich noch nie in Wales gewesen bin, doch jetzt bin ich froh, dass ich keine Verbindungen dorthin habe. Es ist der perfekte Ort für einen Neuanfang.
Ich steige als Letzte aus und warte an der Haltestelle, bis der Bus wieder abgefahren ist. Das Adrenalin, das mich bei meinem Aufbruch durchströmt hat, ist nur noch eine ferne Erinnerung. Und nun, da ich es bis nach Swansea geschafft habe, weiß ich nicht, wo ich hingehen soll. Ein Mann kauert auf dem Bürgersteig. Er hebt den Blick, murmelt etwas Unverständliches, und ich weiche zurück. Hier kann ich nicht bleiben, aber weil ich immer noch nicht weiß, wohin, marschiere ich einfach los. Ich spiele ein Spiel mit mir selbst: Ich werde in die erste Straße links einbiegen – egal, wohin sie führt –, dann in die zweite rechts und anschließend bis zur ersten Kreuzung gehen. Ich lese die Straßenschilder nicht, nehme stattdessen einfach immer die kleinste Straße an jeder Abzweigung, den am wenigsten frequentierten Weg. Ich fühle mich wie benommen, bin fast hysterisch. Was tue ich hier eigentlich? Wo gehe ich hin? Verliere ich allmählich den Verstand? Egal. Es kümmert mich nicht mehr.
Ich marschiere Meile um Meile und lasse Swansea weit hinter mir. Immer wenn ein Auto an mir vorbeikommt, drücke ich mich in die Hecken, und es sind immer mehr, denn langsam wird es Abend. Meine Reisetasche trage ich wie einen Rucksack auf dem Rücken, und die Riemen graben sich in meine Schultern, aber ich gehe in gleichmäßigem Tempo, und ich halte nicht an. Alles, was ich höre, ist mein Atem, und nach und nach werde ich ruhiger. Ich gestatte mir nicht, darüber nachzudenken, was geschehen ist oder wohin ich gehe. Ich gehe einfach. Ich hole mein Handy aus der Tasche, schaue erst gar nicht nach, wie viele Anrufe ich verpasst habe, und werfe es in den Graben neben mir, wo es mit einem Platschen im Wasser versinkt. Das war die letzte Verbindung zu meiner Vergangenheit, und beinahe sofort fühle ich mich freier.
Meine Füße beginnen zu schmerzen, und ich weiß, wenn ich stehen bleibe und mich an den Straßenrand lege, stehe ich nie mehr auf. Ich verlangsame meine Schritte etwas, und im selben Augenblick höre ich hinter mir ein Auto. Ich weiche aufs Gras aus und drehe mich von der Straße weg, als das Fahrzeug an mir vorbeifährt, doch anstatt hinter der Ecke zu verschwinden, hält es gut fünf Meter vor mir an. Ich höre das leise Zischen der Bremsen und rieche den Gestank des Auspuffs. Das Blut pocht in meinen Ohren, und ohne nachzudenken, drehe ich mich um und laufe los. Die Tasche schlägt auf meinem Rücken hin und her. Unbeholfen renne ich, die Stiefel scheuern an meinen blasenübersäten Füßen, und Schweiß läuft mir über den Rücken und zwischen die Brüste. Ich höre das Auto nicht, und als ich über die Schulter zurückschaue und dabei fast das Gleichgewicht verliere, ist der Wagen weg.
Wie eine Idiotin stehe ich mitten auf der leeren Straße. Ich bin so müde und hungrig, dass ich nicht mehr geradeaus denken kann. Ich frage mich sogar, ob da überhaupt ein Auto war oder meine Fantasie es nur auf den nassen Asphalt projiziert hat.
Es wird dunkel. Ich weiß, dass ich inzwischen nicht mehr weit von der Küste bin. Ich schmecke das Salz auf meinen Lippen und höre das Rauschen der Wellen. Auf einem Schild steht »Penfach«, und es ist so still und ruhig, dass ich mir wie ein Eindringling vorkomme, als ich durch das Dorf gehe und zu den Fenstern hinaufblicke, die zum Schutz vor der Winterkälte geschlossen sind. Das Mondlicht ist matt und weiß, sodass alles zweidimensional erscheint, und mein Schatten dehnt sich vor mir aus, bis er weit größer ist, als ich mich fühle. Ich gehe durch den Ort, sodass ich in die Bucht hinunterschauen kann. Klippen umgeben einen Sandstreifen, als wollten sie ihn beschützen. Über einen gewundenen Pfad steige ich nach unten, doch die Schatten sind trügerisch, und Panik keimt in mir auf. Dann rutsche ich tatsächlich auf dem Schiefer aus und schreie. Mein improvisierter Rucksack bringt mich aus dem Gleichgewicht, und ich poltere, rolle und rutsche den Rest des Wegs hinunter. Feuchter Sand knirscht unter mir, und ich schnappe nach Luft und warte auf den Schmerz. Doch nichts passiert. Kurz frage ich mich, ob ich gegen körperlichen Schmerz wohl immun geworden bin. Kann der menschliche Körper physischen und geistigen Schmerz vielleicht nicht gleichzeitig ertragen? Meine Hand pocht noch immer, aber wie in weiter Ferne, als gehöre sie jemand anderem.
Plötzlich überkommt mich das drängende Verlangen, etwas zu fühlen. Irgendwas. Trotz der Kälte ziehe ich die Stiefel aus und spüre die Sandkörner unter meinen Füßen. Der Himmel ist dunkelblau und wolkenlos, und der Mond steht voll und schwer über dem Meer, unter ihm sein Spiegelbild in den schimmernden Wellen. Das ist nicht daheim. Das ist das Wichtigste. Und es fühlt sich auch nicht so an. Ich ziehe den Mantel enger um die Schultern, setze mich auf meine Tasche und lehne den Rücken gegen den harten Fels. Und ich warte.
*
Bei Tagesanbruch bemerke ich, dass ich eingeschlafen sein muss. Erschöpft wie ich war, muss das sanfte Rauschen der Wellen, die ans Ufer rollen, ein Übriges getan haben. Unter Schmerzen recke ich die gefrorenen Glieder und stehe auf, um das leuchtende Orange zu beobachten, das sich am Horizont ausdehnt. Trotz des Lichts spendet die Sonne keine Wärme, und ich zittere. Das war kein durchdachter Plan.
Bei Tageslicht fällt es mir schon leichter, den Weg über den Pfad zu bewältigen, und jetzt sehe ich auch, dass die Klippen keineswegs verlassen sind, wie ich in der Dunkelheit geglaubt habe. Gut eine halbe Meile entfernt befindet sich ein flaches Gebäude, gedrungen und zweckmäßig, daneben stehen Caravans. Für einen Neuanfang ist dieser Ort genauso gut wie jeder andere.
*
»Guten Morgen«, sage ich, und meine Stimme klingt dünn und hoch in dem warmen, kleinen Laden des Campingplatzes. »Ich suche nach einer Unterkunft.«
»Sie machen hier Urlaub, richtig?« Der üppige Busen der Frau ruht auf einer Zeitschrift. »Das ist allerdings eine komische Jahreszeit dafür.« Ein Lächeln nimmt ihren Worten den Biss, und ich versuche, es zu erwidern, doch mein Gesicht will nicht reagieren.
»Ich würde gerne hierherziehen«, bringe ich mühsam hervor. Ich sehe bestimmt furchtbar aus, schmutzig und ungekämmt. Meine Zähne klappern, und ich beginne, wild zu zittern, als die Kälte meine Knochen erreicht.
»Ah ja«, sagt die Frau fröhlich. Meine Erscheinung scheint sie nicht im Mindesten zu stören. »Dann suchen Sie also nach etwas, das Sie mieten können, ja? Leider haben wir den Winter über geschlossen, wissen Sie? Bis März ist nur der Laden auf. Sie sollten zu Iestyn Jones gehen. Ihm gehört das Cottage da hinten. Wenn Sie wollen, kann ich ihn anrufen. Wie wäre es erst mal mit einer Tasse Tee? Draußen ist es bitterkalt, und Sie sehen völlig durchgefroren aus.«
Die Frau scheucht mich zu einem Hocker hinter dem Tresen und verschwindet im Nebenraum. Dabei plappert sie munter weiter und setzt Wasser auf.
»Ich heiße Bethan Morgan«, sagt sie. »Ich führe den Laden hier – also den Penfach Caravan Park –, und mein Mann Glynn kümmert sich um die Farm.« Sie steckt den Kopf zur Tür heraus und lächelt mich an. »Jedenfalls haben wir uns das so vorgestellt, obwohl es heutzutage nicht leicht ist, in der Landwirtschaft zu überleben, das kann ich Ihnen sagen. Oh! Ich wollte doch Iestyn anrufen.«
Bethan verschwindet für ein paar Minuten, während ich auf meiner Unterlippe kaue. Ich versuche, mir Antworten auf die Fragen zu überlegen, die sie mir stellen könnte, sobald wir mit unserem Tee hier sitzen, und der Ballon in meiner Brust wird immer größer und größer.
Doch als Bethan zurückkehrt, fragt sie mich nichts. Sie fragt mich weder, wann ich angekommen bin, noch, warum ich mir ausgerechnet Penfach ausgesucht habe oder woher ich stamme. Sie stellt mir einfach einen gesprungenen Becher voll süßem Tee vor die Nase und hockt sich dann auf ihren eigenen Stuhl. Bethan trägt so viele Kleidungsstücke, dass man ihre Figur nicht erkennen kann, doch die Stuhllehnen graben sich so in das weiche Fleisch, dass es unmöglich bequem sein kann. Ich schätze sie auf Mitte vierzig, doch ihr glattes, rundes Gesicht und das lange, zu einem Pferdeschwanz zurückgebundene, dunkle Haar lässt sie deutlich jünger erscheinen. Unter dem langen schwarzen Rock trägt sie Schnürstiefel und darüber mehrere T-Shirts, über die sie einen knöchellangen Cardigan gestreift hat, der bis auf den staubigen Boden reicht, wenn sie sitzt. Hinter ihr hat ein abgebranntes Räucherstäbchen eine Aschespur auf der Fensterbank hinterlassen. Die Luft duftet noch nach süßem Gewürz, und Lametta klebt an der altmodischen Kasse auf dem Tresen.
»Iestyn ist schon auf dem Weg«, sagt sie. Sie hat einen dritten Becher Tee neben sich auf den Tresen gestellt. Also nehme ich an, dass Iestyn – wer auch immer das sein mag – in wenigen Minuten hier sein wird.
»Wer ist dieser Iestyn?«, frage ich. Ich überlege, ob es wohl ein Fehler war, an einen Ort zu kommen, wo jeder jeden kennt. Ich hätte in eine Stadt gehen sollen, irgendwohin, wo man anonym bleiben kann.
»Er besitzt eine Farm die Straße runter«, antwortet Bethan. »Das ist auf der anderen Seite von Penfach, aber er hat Ziegen auf dem Hügel hier und am Küstenpfad.« Sie deutet vage in Richtung Meer. »Wenn Sie sein Haus nehmen, werden wir beide Nachbarn sein … Aber es ist kein Palast.« Bethan lacht, und ich kann nicht anders, als auch zu lächeln. Ihre offene Art erinnert mich an Eve, auch wenn ich glaube, dass meine ordentliche, schlanke Schwester über diesen Vergleich entsetzt wäre.
»Ich brauche nicht viel«, sage ich.
»Iestyn ist nicht gerade gesprächig«, erzählt mir Bethan, als könnte mich das enttäuschen, »aber er ist trotzdem ganz nett. Er hält seine Schafe hier oben neben unseren.« Wieder deutet sie vage eine Richtung an, diesmal landeinwärts. »Und wie der Rest von uns, so muss auch er zusehen, wo er noch ein paar Pfeile für seinen Köcher herbekommt, wie wir hier sagen. Wie nennt man das heutzutage? Diversifikation?« Bethan schnaubt verächtlich. »Aber wie auch immer … Iestyn hat ein Ferienhaus im Dorf und Blaen Cedi, ein Cottage den Weg rauf.«
»Und das könnte mir gefallen, glauben Sie?«
»In dem Fall wären Sie seit Langem die Erste.« Die Stimme des Mannes lässt mich zusammenzucken, und als ich mich umdrehe, sehe ich eine schlanke Gestalt in der Tür.
»So schlimm ist es nun auch wieder nicht!«, tadelt ihn Bethan. »Jetzt trink deinen Tee, und dann geh und zeig es Jenna.«
Iestyns Gesicht ist so braun und faltig, das seine Augen fast darin verschwinden. Seine Kleidung steckt unter einem staubigen und fettverschmierten Overall. Er schlürft seinen Tee durch einen ehemals weißen, vom Nikotin vergilbten Schnurrbart und mustert mich von Kopf bis Fuß. »Blaen Cedi ist den meisten Leuten zu weit von der Straße entfernt«, sagt er. Sein Akzent ist so stark, dass ich ihn kaum verstehen kann. »Sie wollen ihre Einkaufstaschen nicht so weit tragen, wissen Sie?«
»Kann ich es mir ansehen?« Ich stehe auf. Ich will einfach, dass dieses ungeliebte, verlassene Cottage die Antwort auf alles ist.
Iestyn trinkt weiter seinen Tee, wobei er jeden Schluck erst einmal im Mund herumgehen lässt. Schließlich seufzt er zufrieden und geht hinaus. Ich schaue Bethan an.
»Was habe ich Ihnen gesagt? Iestyn ist kein Mann vieler Worte.« Sie lacht. »Gehen Sie. Er wird nicht auf Sie warten.«
»Danke für den Tee.«
»Gerne. Besuchen Sie mich ruhig, sobald Sie sich eingerichtet haben.«
Automatisch verspreche ich ihr das, selbst wenn ich nicht weiß, ob ich dieses Versprechen einhalten werde. Dann gehe ich hinaus und sehe Iestyn, der auf einem verdreckten Quad sitzt.
Ich weiche einen Schritt zurück. Er erwartet doch sicher nicht von mir, dass ich mich hinter ihn setze. Hinter einen Mann, den ich noch nicht mal fünf Minuten kenne!
»Kommen Sie schon! Nur so kann man sich hier bewegen!«, schreit er mir über den Motorenlärm hinweg zu.
Mir dreht sich der Kopf. Ich versuche, mein Bedürfnis, das Haus sehen zu wollen, und die tief verankerte Furcht, die mich zwingt, wie angewurzelt stehenzubleiben, ins Gleichgewicht zu bringen.
»Rauf jetzt, und dann los!«
Ich zwinge meine Füße, sich vorwärts zu bewegen, und setzte mich zaghaft hinter Iestyn auf den Sattel. Vor mir ist kein Griff, und ich bringe es einfach nicht über mich, meine Arme um Iestyn zu legen. Also klammere ich mich stattdessen an den Sattel, als Iestyn das Gas aufdreht und das Quad über den holprigen Küstenweg rast. Neben uns erstreckt sich die Bucht. Inzwischen herrscht Flut, und die Wellen brechen sich an den Felsen, doch als wir auf der Höhe des Pfades sind, der vom Strand aus hinaufführt, lenkt Iestyn das Quad weg vom Meer. Er brüllt mir irgendwas über die Schulter hinweg zu und deutet landeinwärts. Wir rumpeln über unebenes Gelände, und ich suche nach dem, von dem ich hoffe, dass es mein neues Heim sein wird.
Bethan hatte es als Cottage bezeichnet, doch Blaen Cedi ist kaum mehr als ein Schafstall. Einst war es weiß angestrichen, doch die Farbe hat den Kampf gegen die Elemente längst verloren, und das Haus ist nur noch schmutzig-grau. Die große Holztür passt so gar nicht zu den beiden winzigen Fenstern unter der Regenrinne, und ein Oberlicht verrät mir, dass es noch einen oberen Stock geben muss, auch wenn dort kaum genügend Platz sein kann. Ich sehe sofort, warum Iestyn Probleme hat, es als Ferienhaus zu vermieten. Selbst der kreativste Immobilienmakler hätte Schwierigkeiten, die Nässe an den Außenwänden schönzureden oder die verrutschten Schieferziegel auf dem Dach.
Während Iestyn die Tür aufschließt, drehe ich mich mit dem Rücken zum Haus und schaue Richtung Küste. Ich hatte geglaubt, den Campingplatz von hier aus sehen zu können, doch der Weg hatte von der Küste aus nach unten geführt, und jetzt befinden wir uns in einer flachen Mulde, hinter der sich der Horizont verbirgt. Ich kann auch nicht die Bucht sehen, aber ich höre die Brandung an den Felsen. Über uns kreisen Möwen. Sie schreien wie kleine Kätzchen, miauen im schwächer werdenden Licht, und ich schaudere unwillkürlich. Ich möchte rein.
Das Erdgeschoss ist nur knapp zwölf Fuß lang. Ein schiefer Holztisch trennt den Wohnbereich von der winzigen Küche unter einem großen Eichenbalken. Wenigstens gibt es hier fließend Wasser und Strom.
Der erste Stock ist in ein Schlafzimmer und ein winziges Bad mit einer ebenso kleinen Wanne unterteilt. Der Spiegel ist vom Alter fleckig und mein Gesicht darin verzerrt. Wie die meisten Rotschöpfe habe ich einen blassen Teint, doch das schlechte Licht hier drinnen lässt meine Haut noch durchscheinender wirken. Fast unnatürlich weiß hebt sie sich von dem dunkelroten Haar ab, das mir bis über die Schultern fällt. Ich gehe wieder runter. Iestyn stapelt Holz neben dem Kamin. Als er damit fertig ist, durchquert er den Raum und lehnt sich an den alten Herd.
»Das Ding ist ein wenig temperamentvoll«, sagt er. Er zieht an der Rußschublade, die sich mit solch einem lauten Knall öffnet, dass ich automatisch zusammenzucke.
»Kann ich das Cottage haben?«, frage ich. »Bitte?« Meine Stimme hat einen verzweifelten Unterton, und ich frage mich, was Iestyn wohl von mir denkt.
Iestyn beäugt mich misstrauisch. »Sie können doch bezahlen, oder?«
»Ja«, antworte ich mit fester Stimme, obwohl ich keine Ahnung habe, wie lange meine Ersparnisse reichen – oder was ich tun werde, wenn sie aufgebraucht sind.
Iestyn ist nicht überzeugt. »Haben Sie einen Job?«
Ich denke an mein Atelier mit dem Teppich aus Ton. Der Schmerz in meiner Hand ist nicht mehr so schlimm, wie er mal war, aber ich habe noch immer so wenig Gefühl in den Fingern, dass ich fürchte, so nicht arbeiten zu können. Aber wenn ich keine Bildhauerin mehr bin, was bin ich dann?
»Ich bin Künstlerin«, sage ich schließlich.
Iestyn grunzt, als würde das alles erklären.
Wir einigen uns auf eine Miete, die zwar lächerlich niedrig ist, meine Ersparnisse aber trotzdem rasch vernichten wird. Doch die nächsten paar Monate gehört das winzige Cottage mir, und ich seufze erleichtert. Ich habe was gefunden.
Iestyn kritzelt eine Handynummer auf die Rückseite eines Kassenbons, den er aus seiner Tasche holt. »Sie können die Monatsmiete bei Bethan abgeben, wenn Sie wollen.« Er nickt mir zu, geht hinaus und startet sein Quad.
Ich schaue ihm hinterher. Dann schließe ich die Tür und schiebe den widerspenstigen Riegel vor. Obwohl die Wintersonne nur mäßig scheint, gehe ich sofort nach oben, um die Fenster und die Vorhänge zu schließen. Unten hängen die Vorhänge an den Metallstangen fest, als seien sie es nicht gewohnt, geschlossen zu werden. Ich muss an ihnen reißen, und die Falten geben eine Staubwolke frei. Die Fenster klappern im Wind, und die Vorhänge tun nur wenig, um die eisige Kälte aufzuhalten, die durch die Ritzen kriecht.
Ich setze mich aufs Sofa und lausche dem Geräusch meines eigenen Atems. Ich kann das Meer hören, doch der Ruf einer einsamen Möwe klingt wie ein weinendes Baby, und ich presse die Hände auf die Ohren.
Schließlich übermannt mich die Erschöpfung, und ich rolle mich zusammen. Ich schlinge die Arme um die Knie und drücke mein Gesicht in den rauen Stoff meiner Jeans. Obwohl ich weiß, dass sie kommt, kann ich kaum atmen, als die Gefühlswelle schließlich hervorbricht. Die Trauer, die ich empfinde, ist so intensiv, dass es mir geradezu unmöglich erscheint, dass ich noch lebe, dass mein Herz noch immer schlägt, obwohl es zerrissen worden ist. Ich will ein Bild von ihm in meinem Kopf fixieren, doch alles, was ich sehe, wenn ich die Augen schließe, ist sein lebloser Leib in meinen Armen. Ich habe ihn losgelassen, und das werde ich mir nie verzeihen.