3

Ray ging in den dritten Stock hinauf, wo das unbändige Tempo der Bereitschaftsräume den stillen, mit Teppichböden ausgelegten Büros jener Beamten wich, die entweder im Innendienst arbeiteten oder beim CID tätig waren. Besonders abends war Ray gerne hier, denn dann konnte er endlich den liegengebliebenen Papierkram auf seinem Schreibtisch abarbeiten, ohne gestört zu werden. Er ging durch den offenen Raum zum Büro des DIs, das man in einer Ecke vom Raum abgetrennt hatte.

»Wie ist das Briefing gelaufen?«

Ray zuckte unwillkürlich zusammen. Er drehte sich um und sah Kate an ihrem Schreibtisch sitzen. »Die Vier ist meine alte Schicht, weißt du? Ich hoffe, sie haben wenigstens so getan, als würde sie das interessieren.« Sie gähnte.

»Es war ganz gut«, sagte Ray. »Die sind schon okay, und wenigstens vergessen sie es so nicht.« Ray hatte dafür gesorgt, dass der tödliche Unfall und die Fahrerflucht für eine ganze Woche auf der Tagesordnung geblieben waren, doch irgendwann war etwas anderes wichtiger geworden und der Fall drohte bereits in Vergessenheit zu geraten. Ray tat sein Bestes, um jede Schicht daran zu erinnern, dass die Kriminalpolizei noch immer ihre Hilfe brauchte. Er tippte auf seine Uhr. »Was machst du eigentlich um die Zeit noch hier?«

»Ich wollte nur die Meldungen durchgehen, die nach den Aufrufen in den Medien reingekommen sind«, antwortete Kate und klopfte auf einen Stapel Computerausdrucke. »Nicht, dass uns das etwas nützen würde, aber …«

»Gibt es wirklich nichts, was wir uns mal näher ansehen sollten?«

»Null«, antwortete Kate. »Ein paar Leute haben irgendwelche Raser gesehen. Andere faseln selbstgerecht was von Verletzung elterlicher Aufsichtspflicht, und dann sind da noch die üblichen Deppen und Irren, einschließlich eines Typs, der was vom Jüngsten Gericht erzählt hat.« Sie seufzte. »Wir brauchen einen Durchbruch, irgendetwas, das uns weiterbringt.«

»Ich weiß, das ist frustrierend«, sagte Ray, »aber halt durch. Es wird sich schon was ergeben. Das ist immer so.«

Kate stöhnte und schob den Stuhl zurück. »Offenbar bin ich nicht mit Geduld gesegnet.«

»Das kenne ich.« Ray setzte sich auf die Tischkante. »Das ist der langweilige Teil der Ermittlungsarbeit. Den bekommt man im Fernsehen nie zu sehen.« Er grinste Kate reumütig an. »Aber das Ergebnis ist die Sache wert. Überleg mal: Inmitten dieses Stapels Papier könnte sich der Schlüssel zu dem Fall verbergen.«

Zweifelnd ließ Kate ihren Blick über den Schreibtisch wandern, und Ray lachte.

»Komm«, sagte er. »Ich mache uns jetzt erst einmal eine Tasse Tee. Dann helfe ich dir.«

*

Sie schauten sich jeden einzelnen Ausdruck an, fanden aber nicht die entscheidende Information, auf die Ray gehofft hatte.

»Na ja«, seufzte er. »Wenigstens können wir das schon mal abhaken. Danke, dass du so lange geblieben bist.«

»Glaubst du, wir werden den Fahrer finden?«

Ray nickte. »Wenn wir selbst nicht daran glauben, wie sollen die Leute dann Vertrauen in uns haben? Ich habe schon Hunderte Fälle bearbeitet, und natürlich blieben einige auch ungelöst. Aber ich habe immer fest daran geglaubt, dass die Lösung hinter der nächsten Ecke lauerte.«

»Stumpy hat gesagt, du hättest Crimewatch um Hilfe gebeten.«

»Ja«, bestätigte Ray. »Bei Fahrerflucht ist das nicht ungewöhnlich – besonders nicht, wenn es sich bei dem Opfer um ein Kind handelt. So eine Fernsehshow kann echte Emotionen wecken. Und die nachgestellten Szenen bei Crimewatch bringen erstaunlicherweise einiges an Erinnerungen bei Zeugen zutage. Ich fürchte nur, dass bedeutet noch viel mehr davon.« Er deutete auf den riesigen Stapel Ausdrucke, der jetzt nur noch Futter für den Schredder war.

»Ist schon okay«, sagte Kate. »Ich kann die Überstunden gut gebrauchen. Letztes Jahr habe ich mir meine erste Wohnung geleistet, und um ehrlich zu sein, habe ich an den Raten arg zu knabbern.«

»Lebst du allein?« Ray fragte sich, ob er heutzutage so etwas noch fragen durfte. Inzwischen trieb man es mit der »Political Correctness« so weit, dass man besser allem Privatem aus dem Wege ging. Wenn das so weiterging, durften die Leute in ein paar Jahren überhaupt nicht mehr miteinander reden.

»Meistens«, antwortete Kate. »Die Wohnung gehört mir, aber mein Freund ist häufig da. Eine optimale Kombi.«

Ray nahm sich die leeren Becher. »Nun denn«, sagte er. »Dann solltest du jetzt wohl besser nach Hause gehen. Dein Freund fragt sich sicher schon, wo du steckst.«

»Ach, das ist schon okay. Er ist Koch«, erwiderte Kate, stand aber trotzdem auf. »Er hat schlimmere Schichten als ich. Was ist mit dir? Verzweifelt deine Frau nicht an deinen Arbeitszeiten?«

»Sie ist daran gewöhnt«, antwortete Ray und sprach lauter, um das Gespräch fortführen zu können, während er sich sein Jackett aus dem Büro holte. »Sie war auch bei der Polizei. Wir haben zusammen angefangen.«

Im Ausbildungszentrum der Polizei in Ryton-on-Dunsmore hatte es nur wenige Lichtblicke gegeben, doch die billige Bar war definitiv einer davon gewesen. Bei einem besonders schmerzhaften Karaoke-Abend hatte Ray Mags bei ihren Klassenkameradinnen sitzen sehen. Sie hatte den Kopf zurückgeworfen und über irgendetwas gelacht, das eine Freundin gesagt hatte. Als Ray sah, wie sie aufstand, um zur Theke zu gehen, kippte er rasch sein noch fast volles Pint herunter, damit er sich zu ihr gesellen konnte. Doch als er neben ihr stand, hatte er einen Kloß im Hals. Glücklicherweise hatte es Mags nicht auch die Sprache verschlagen, und den Rest ihres sechszehnwöchigen Kurses waren sie unzertrennlich gewesen. Ray unterdrückte ein Grinsen, als er sich daran erinnerte, wie er sich damals um sechs Uhr morgens aus der Frauenkaserne geschlichen hatte.

»Wie lange bist du schon verheiratet?«, fragte Kate.

»Fünfzehn Jahre. Nach der Probezeit haben wir direkt Nägel mit Köpfen gemacht.«

»Aber sie ist nicht mehr dabei?«

»Nach Toms Geburt hat Mags eine Pause eingelegt, und als dann auch noch unsere Jüngste kam, ist sie einfach zu Hause geblieben«, erzählte Ray. »Doch Lucy ist jetzt neun und Tom gerade in die weiterführende Schule gewechselt. Deshalb denkt Mags darüber nach, wieder arbeiten zu gehen. Sie will sich zur Lehrerin umschulen lassen.«

»Warum hat sie denn so lange nicht mehr gearbeitet?« In Kates Augen funkelte echte Neugier, und Ray erinnerte sich daran, dass Mags sich das kurz nach der Ausbildung auch nicht hatte vorstellen können. Mags’ Sergeant hatte den Dienst quittiert, um Kinder zu bekommen, und Mags hatte Ray erklärt, sie verstehe einfach nicht, warum jemand Karriere machte, nur um dann alles wieder aufzugeben.

»Sie wollte für die Kids da sein«, sagte er. Irgendwie fühlte er sich schuldig. Hatte Mags das wirklich gewollt? Oder hatte sie schlicht das Gefühl gehabt, das müsse so sein? Externe Kinderbetreuung war so teuer, dass ihnen diese Entscheidung damals ganz selbstverständlich erschienen war. Außerdem wusste Ray, dass Mags an all den wichtigen Tagen dabei sein wollte, bei der Einschulung und zum Erntedank. Doch Mags war genauso klug und fähig wie er … sie hatte sogar mehr auf dem Kasten, wenn er ehrlich war.

»Ich nehme an, wenn man jemanden mit so einem Job heiratet, dann muss man auch die beschissenen Umstände akzeptieren.« Kate schaltete die Schreibtischlampe aus, und kurz standen sie im Dunkeln, bis Ray den Flur betrat und das Licht dort automatisch ansprang.

»Das nennt man wohl Berufsrisiko«, stimmte Ray ihr zu. »Wie lange bist du schon mit deinem Freund zusammen?« Sie gingen zum Hof, wo sie ihre Autos geparkt hatten.

»Erst knapp sechs Monate«, antwortete Kate. »Allerdings ist das schon ziemlich gut für mich. Für gewöhnlich mache ich schon nach ein paar Wochen wieder Schluss. Meine Mutter sagt immer, ich sei zu wählerisch.«

»Was stimmt denn mit den Männern nicht?«

»Ach, alles Mögliche«, erklärte Kate fröhlich. »Der eine klammert zu viel, der andere zu wenig. Der eine hat keinen Sinn für Humor, der andere ist einfach nur albern …«

»Du scheinst mir in der Tat ziemlich kritisch zu sein«, warf Ray ein.

»Vielleicht.« Kate rümpfte die Nase. »Aber das ist doch wichtig, oder? Den Richtigen zu finden, meine ich. Letzten Monat bin ich dreißig geworden. Meine Uhr tickt.« Sie sah nicht wie dreißig aus, allerdings war Ray noch nie gut darin gewesen, das Alter von jemandem einzuschätzen. Wenn er in den Spiegel schaute, dann sah er noch immer den Mann, der er in seinen Zwanzigern gewesen war, auch wenn die Falten in seinem Gesicht eine andere Geschichte erzählten.

Ray griff in die Tasche und suchte nach seinen Schlüsseln. »Wie auch immer«, sagte er. »Überstürz es nicht mit dem Sesshaftwerden. Es ist nicht alles eitel Sonnenschein, weißt du?«

»Danke für den Rat … Dad.«

»Hey! So alt bin ich nun auch wieder nicht.«

Kate lachte. »Danke für deine Hilfe heute Abend. Bis morgen.«

Ray musste schmunzeln, als er seinen Wagen aus der Parkbucht lenkte. Dad! Also wirklich … Was für ein freches Gör.

*

Als er zuhause ankam, saß Mags im Wohnzimmer, und der Fernseher lief. Sie trug eine Pyjamahose und dazu eines von Rays alten Sweatshirts. Die Beine hatte sie untergeschlagen wie ein Kind. Ein Nachrichtensprecher fasste gerade den Fall des überfahrenen Jungen für jene Bürger zusammen, die die ausführliche Berichterstattung letzte Woche aus irgendeinem Grund versäumt hatten. Mags schaute zu Ray hinauf und schüttelte den Kopf. »Ich kann einfach nicht wegschauen. Der arme Junge.«

Ray setzte sich neben sie und griff nach der Fernbedienung, um den Ton auszustellen. Auf dem Bildschirm erschien eine alte Aufnahme vom Tatort, und Ray sah seinen eigenen Hinterkopf, als er und Kate aus dem Wagen stiegen. »Ich weiß«, sagte er und legte den Arm um seine Frau. »Aber wir schnappen den Täter schon.«

Wieder wechselte das Bild, und Rays Gesicht erschien, als er eine Erklärung vor der Kamera abgab.

»Glaubst du wirklich? Habt ihr denn schon irgendwelche Spuren?«

»Nicht wirklich.« Ray seufzte. »Niemand hat den Unfall beobachtet … oder zumindest meldet es niemand. Also müssen wir uns auf die Kriminaltechnik und die Pathologie verlassen.«

»Ist es vielleicht möglich, dass der Fahrer gar nicht bemerkt hat, was er angerichtet hat?« Mags setzte sich auf und drehte sich zu Ray um. Ungeduldig schob sie sich das Haar hinters Ohr. Seit Ray sie kannte, trug Mags die gleiche Frisur: lang und glatt, kein Pony. Ihr Haar war genauso dunkel wie Rays, im Gegensatz zu ihm hatte sie jedoch keine grauen Strähnen. Kurz nach Lucys Geburt hatte Ray versucht, sich einen Bart stehenzulassen, doch nach drei Tagen hatte er wieder aufgehört, als sich herausstellte, dass es mehr Salz als Pfeffer sein würde. Jetzt war er stets glattrasiert und versuchte, die weißen Sprenkel an den Schläfen zu ignorieren, die Mags als »distinguiert« bezeichnete.

»Unmöglich«, antwortete Ray. »Der Junge ist direkt auf der Motorhaube aufgeschlagen.«

Mags zuckte noch nicht einmal. Ihr eben noch mitfühlender Blick war einem konzentrierten Gesichtsausdruck gewichen, den er von ihrer gemeinsamen Zeit auf Streife nur allzu gut kannte.

»Außerdem«, fuhr Ray fort, »hat der Wagen angehalten, zurückgesetzt und gewendet. Der Fahrer hat vielleicht nicht gewusst, dass Jacob tot war, aber er hat unmöglich übersehen können, dass er ihn erwischt hatte.«

»Habt ihr euch schon in den Krankenhäusern umgehört?«, fragte Mags. »Vielleicht hat der Fahrer sich ja auch verletzt, und …«

Ray lächelte. »Wir kümmern uns darum. Versprochen.« Er stand auf. »Bitte, versteh mich nicht falsch, aber es war ein langer Tag, und ich will jetzt einfach nur ein Bier, mich ein wenig vor die Kiste hocken und dann ins Bett.«

»Klar«, erwiderte Mags kurz angebunden. »Du weißt ja … Alte Gewohnheiten und so …«

»Ich weiß, und ich verspreche dir, dass wir den Fahrer schnappen werden.« Ray küsste sie auf die Stirn. »Das tun wir immer.« Ray erkannte, dass er Mags genau das Versprechen gegeben hatte, das er Jacobs Mutter nicht hatte geben wollen, denn er konnte so etwas beim besten Willen nicht garantieren. Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, hatte er ihr stattdessen gesagt. Er hoffte nur, dass das reichen würde.

Ray ging in die Küche, um sich etwas zu trinken zu holen. Es war die Tatsache, dass es sich bei dem Opfer um ein Kind handelte, was Mags so aufregte. Vielleicht war es ja doch keine so gute Idee gewesen, ihr die Details des Unfalls zu schildern. Immerhin fand Ray es selbst schon schwer genug, seine Gefühle unter Kontrolle zu behalten. Also war es nur verständlich, dass Mags genauso empfand. Er beschloss, seine Zunge fortan besser im Zaum zu halten.

Ray kehrte mit seinem Bier ins Wohnzimmer zurück und setzte sich neben Mags, um Fernsehen zu schauen. Sofort schaltete er um, von den Nachrichten zu einer der Doku-Soaps, von der er wusste, dass Mags sie mochte.

*

Als er mit einem Stapel Akten, die er sich im Postraum geschnappt hatte, in seinem Büro eintraf, ließ Ray den Papierkram einfach auf seinen ohnehin schon überladenen Schreibtisch fallen, wo der ganze Stapel wegrutschte und auf den Boden fiel.

»Scheiße«, knurrte er und starrte leidenschaftslos auf seinen Schreibtisch. Die Putzfrau war da gewesen, hatte den Mülleimer geleert und halbherzig versucht, um das ganze Chaos herum Staub zu wischen, sodass jetzt Staubflocken an Rays Ablage klebten. Zwei Becher mit kaltem Kaffee flankierten seine Tastatur, und mehrere Post-it-Zettel, die von unterschiedlich dringenden Anrufen kündeten, hingen am Monitor. Ray nahm sie ab und klebte sie auf den Deckel seines Terminkalenders, wo ihn bereits ein pinkfarbener Zettel daran erinnerte, dass er noch die Beurteilungen für sein Team schreiben musste. Als hätten sie nicht schon genug zu tun. Ray hatte schon immer mit der alltäglichen Bürokratie zu kämpfen gehabt, die sein Job mit sich brachte. Allerdings schaffte er es auch nicht, sich dagegen zu wehren – nicht wenn die nächste Beförderung so verführerisch nahe war –, aber er würde auch nie lernen, es einfach zu akzeptieren. Für ihn war jede Stunde, die er damit verbrachte, sich um seine Karriere zu kümmern, verschwendete Zeit – besonders, wenn es darum ging, den Tod eines Kindes aufzuklären.

Während Ray darauf wartete, dass sein Computer hochfuhr, kippte er den Stuhl nach hinten und betrachtete Jacobs Foto, das an die gegenüberliegende Wand gepinnt war. Ray hatte immer ein Bild der Person in Sichtweite, die im Mittelpunkt einer Ermittlung stand. Das hatte er von Anfang an so gemacht, seit er bei der Kriminalpolizei angefangen und sein Sergeant ihn daran erinnert hatte, dass es ja ganz toll sei, wenn er jetzt in Schlips und Kragen herumliefe, aber dabei dürfe er nie vergessen, »wofür wir diesen Scheiß hier machen«. Früher hatten die Fotos auf seinem Schreibtisch gelegen, bis Mags vor ein paar Jahren in sein Büro gekommen war. Sie hatte ihm etwas vorbeigebracht – Ray wusste nicht mehr, was es gewesen war, vielleicht eine vergessene Akte oder etwas zu essen. Aber er erinnerte sich noch genau daran, dass er über die Störung verärgert gewesen war, als sie von der Rezeption aus bei ihm angerufen hatte, um ihn zu überraschen. Doch dann hatte sich sein Ärger in Schuldgefühle verwandelt, denn ihm war bewusst geworden, welche Mühe Mags auf sich genommen hatte, um ihn zu sehen. Auf dem Weg zu Rays Büro hatten sie einen kurzen Zwischenstopp eingelegt, damit Mags ihren alten Schichtleiter begrüßen konnte, der inzwischen zum Superintendent aufgestiegen war.

»Ich wette, es fühlt sich seltsam an, wieder hier zu sein«, hatte Ray bemerkt, als sie in seinem Büro angekommen waren.

Mags lachte. »Es ist, als wäre ich nie weg gewesen. Einmal Polizist, immer Polizist, du weißt schon.« Ihre Augen strahlten, als sie durch Rays Büro ging, und sanft strich sie mit den Fingern über seinen Tisch.

»Wer ist die andere Frau?«, neckte sie ihn und griff nach dem Foto, das an dem gerahmten Bild von ihr und den Kindern lehnte.

»Ein Opfer«, antwortete Ray, nahm Mags das Foto wieder ab und stellte es auf seinen Schreibtisch zurück. »Ihr Freund hat siebzehn Mal auf sie eingestochen, weil sie den Tee zu spät aufgesetzt hat.«

Wenn Mags das schockierte, so zeigte sie es zumindest nicht. »Du lässt das nicht in der Akte?«

»Ich habe es gern da, wo ich es sehen kann«, sagte Ray. »So vergesse ich nicht, warum ich all die Überstunden mache.« Mags nickte. Manchmal war ihm gar nicht klar, wie gut sie ihn verstand.

»Aber nicht direkt neben unserem Bild. Bitte, Ray.« Mags streckte die Hand wieder nach dem Foto aus und schaute sich nach einem passenderen Ort dafür um. Schließlich fiel ihr Blick auf die ungenutzte Korktafel im hinteren Teil des Büros. Sie nahm sich eine Stecknadel aus dem Glas auf Rays Schreibtisch und befestigte das Bild der lächelnden toten Frau mitten auf der Tafel.

Und da war es dann geblieben.

Der Freund der lächelnden Frau war schon lange wegen Mordes verurteilt worden, und andere Opfer hatten ihren Platz eingenommen: der alte Mann, der von Teenagern ausgeraubt und grün und blau geprügelt worden war; die vier Frauen, die von einem Taxifahrer vergewaltigt worden waren … Und jetzt hing da ein Bild von Jacob in seiner Schuluniform, wie er über das ganze Gesicht strahlte. Für all diese Menschen war nun Ray verantwortlich. Er überflog die Notizen, die er sich am Abend zuvor gemacht hatte, und bereitete sich auf das morgendliche Briefing vor. Sie hatten nicht viel, womit sie etwas hätten anfangen können. Als sein Rechner piepte, um ihm mitzuteilen, dass er hochgefahren war, schüttelte sich Ray. Er brauchte einen klaren Kopf. Ja, sie hatten nicht gerade viele Spuren, aber es gab dennoch einiges zu tun.

*

Kurz nach zehn kamen Stumpy und sein Team in Rays Büro. Stumpy und Dave Hillsdon setzten sich auf die beiden Sessel am Kaffeetisch, während die anderen sich an die Wand stellten. Den dritten Sessel überließen die Männer der anwesenden Dame, doch Ray registrierte amüsiert, dass Kate das Angebot ignorierte und sich neben Malcolm Johnson an die Wand lehnte. Ihre Gruppe war kurzfristig um zwei Mann von der Bereitschaftspolizei aufgestockt worden. Allerdings schienen sich die beiden Männer in ihren geliehenen Anzügen ziemlich unwohl zu fühlen.

»Morgen, zusammen«, begann Ray. »Ich will euch nicht lange aufhalten. Zunächst einmal will ich euch Brian Walton und Pat Bryce von der Bereitschaftspolizei vorstellen. Es ist schön, euch dabeizuhaben, Jungs, und es gibt viel zu tun. Haltet euch also einfach ran.« Brian und Pat nickten zur Bestätigung. »Okay«, fuhr Ray fort. »Der Zweck dieses Briefings ist es, noch einmal durchzugehen, was wir über den Unfall in Fishponds wissen, und uns zu überlegen, wie wir weiter vorgehen wollen. Wie ihr euch vorstellen könnt, sitzt der Chief uns ganz schön im Nacken.« Er schaute auf seine Notizen, obwohl er sie auswendig kannte. »Um 16:28 Uhr am Montag, den 26. November, ging ein Notruf von einer Frau in der Enfield Avenue ein. Sie hatte einen lauten Knall gehört und dann einen Schrei. Als sie schließlich draußen war, war schon alles vorbei, und die Mutter kauerte mitten auf der Straße neben ihrem Sohn. Nach sechs Minuten traf der Krankenwagen ein, und Jacob wurde noch vor Ort für tot erklärt.«

Ray hielt kurz inne, um seinen Kollegen Zeit zu geben, den Ernst der Ermittlungen zu verstehen. Er schaute zu Kate, doch ihr Gesichtsausdruck verriet keine Emotionen, und er wusste nicht, ob er traurig oder erleichtert sein sollte, dass sie so schnell einen Schutzmechanismus entwickelt hatte. Und sie war nicht die Einzige, die ungerührt zu sein schien. Für einen Unbeteiligten konnte es so wirken, als würde der Tod des kleinen Jungen die Polizei nicht kümmern. Dabei wusste Ray ganz genau, wie tief sie alle das traf. Er fuhr mit dem Briefing fort.

»Jacob ist letzten Monat fünf geworden, kurz nachdem er in St Marys in der Beckett Street eingeschult worden ist. Am Tag des Unfalls hat Jacob nach der Schule noch eine AG besucht, während seine Mutter gearbeitet hat. Ihrer Aussage zufolge befanden sie sich auf dem Heimweg und haben sich über den Tag unterhalten, als sie kurz Jacobs Hand losließ und er über die Straße zu ihrem Haus rannte. Laut ihrer Aussage hat er das schon öfter getan. Da er jedoch den Verkehr noch nicht richtig einschätzen konnte, hat seine Mutter ihn immer festgehalten, wenn sie an einer Straße waren.« Außer dieses eine Mal, fügte Ray in Gedanken hinzu. Sie hat nur einen Augenblick lang nicht aufgepasst, und das wird sie ihr ganzes Leben lang bereuen. Ray schauderte unwillkürlich.

»Was hat sie von dem Wagen gesehen?«, fragte Brian Walton.

»Nicht viel. Sie behauptet, anstatt zu bremsen, habe der Wagen sogar noch beschleunigt, bevor er Jacob getroffen habe, und sie selbst sei ihm nur knapp entkommen. Sie ist tatsächlich gestürzt und hat sich dabei verletzt. Die Beamten vor Ort haben ihre Verletzungen bemerkt, doch sie hat jede ärztliche Hilfe abgelehnt. Phil, kannst du uns noch mal den Tatort beschreiben?«

Phil Crocker, der einzige Uniformierte im Raum, war ein Unfallspezialist, und dank seiner jahrelangen Erfahrung auf der Straße war er Rays bester Mann, wenn es um Verkehrstote ging.

»Da gibt es nicht viel zu sagen.« Phil zuckte mit den Schultern. »Aufgrund des nassen Wetters haben wir keine Reifenspuren, und deshalb kann ich weder die Fahrzeuggeschwindigkeit einschätzen noch sagen, ob der Wagen vor dem Aufprall abgebremst hat. Gut zwanzig Meter von der Unfallstelle entfernt haben wir ein Stück Plastik sicherstellen können, und die Kriminaltechnik hat bestätigt, dass es vermutlich vom Nebelscheinwerfer eines Volvos stammt.«

»Das klingt ermutigend«, sagte Ray.

»Ich habe Stumpy die Details gegeben«, sagte Phil. »Aber ich fürchte, abgesehen davon habe ich nicht viel.«

»Danke, Phil.« Ray griff wieder nach seinen Notizen. »Bei der Autopsie wurde festgestellt, dass Jacob an einem schweren Schädel-Hirn-Trauma gestorben ist. Außerdem hatte er mehrere Knochenbrüche einschließlich einer gebrochenen Wirbelsäule.« Ray hatte der Autopsie selbst beigewohnt, doch weniger, um die Beweiskette sicherzustellen, als vielmehr, weil er die Vorstellung nicht ertragen konnte, dass Jacob allein in der kalten Leichenhalle lag. Er hatte zugeschaut, ohne etwas zu sehen, und dabei Jacobs Gesicht gemieden. Stattdessen hatte er sich auf die Fakten konzentriert, mit denen der Chefpathologe sein Diktiergerät im Stakkato gefüttert hatte. Sie hatten beide aufgeatmet, als es endlich vorbei gewesen war.

»Den Aufprallspuren nach zu urteilen, suchen wir nach einem kleinen Fahrzeug. Also können wir Vans und SUVs ausschließen. Der Pathologe hat Glassplitter in Jacobs Körper gefunden, aber wenn ich richtig verstanden habe, kann man die nicht mit einem bestimmten Fahrzeug in Verbindung bringen … Stimmt doch, Phil, oder?« Ray schaute zu dem Unfallspezialisten. Phil nickte.

»Das Glas an sich ist nicht fahrzeugspezifisch«, erklärte Phil. »Hätten wir einen Verdächtigen, könnten wir vermutlich ähnliche Partikel auf seiner Kleidung finden. Die kann man so gut wie gar nicht loswerden. Aber wir haben kein Glas am Tatort gefunden, was nahelegt, dass die Windschutzscheibe durch den Aufprall gerissen, aber nicht zerbrochen ist. Wenn ihr das Auto für mich findet, können wir das Glas mit den Splittern im Opfer abgleichen, aber ohne …«

»Aber so können wir doch wenigstens bestätigen, was für Schäden das Fahrzeug davongetragen hat«, warf Ray in dem Versuch ein, dem Wenigen, was sie hatten, etwas Positives abzugewinnen. »Stumpy, was haben wir bis jetzt alles gemacht?«

Der DS schaute an die Wand von Rays Büro, wo eine Reihe von Karten, Tabellen und Flipcharts die Ermittlungen illustrierten. »Noch am selben Abend sind wir von Haus zu Haus gegangen und haben die Anwohner befragt. Am folgenden Tag haben wir dann die vernommen, die am Abend zuvor nicht da waren. Mehrere Leute haben etwas gehört, was sie als ›lauten Knall‹ bezeichnet haben, gefolgt von einem Schrei, doch niemand hat den Wagen gesehen. Die Beamten, die die Schulwege sichern, haben mit den Eltern gesprochen, und wir haben in den angrenzenden Straßen der Enfield Avenue Briefe eingeworfen, die Zeugen auffordern, sich zu melden. An den Laternen hängen immer noch die Plakate, und Kate geht ein paar Anrufen nach, die wir daraufhin bekommen haben.«

»Und? Ist dabei was Nützliches herumgekommen?«

Stumpy schüttelte den Kopf. »Es sieht nicht gut aus, Boss.«

Ray ignorierte den Pessimismus. »Wann läuft der Fall bei Crimewatch

»Morgen Abend. Wir haben den Unfall rekonstruiert, und sie haben ein paar Bilder hinzugefügt, die zeigen, wie das Fahrzeug ausgesehen haben könnte. Anschließend bringen sie noch ein Studiointerview mit dem DCI zu dem Thema.«

»Ich brauche einen Freiwilligen, der Überstunden macht, um den besten Hinweisen nachzugehen, die nach der Sendung reinkommen«, sagte Ray zu seinem Team. »Den Rest können wir dann später in aller Ruhe abarbeiten.« Es folgte eine lange Pause, und Ray ließ erwartungsvoll den Blick über sein Team schweifen. »Irgendjemand muss …«

»Mir macht das nichts aus.« Kate hob die Hand, und Ray lächelte sie anerkennend an.

»Was ist mit dem Nebelscheinwerfer, den Phil erwähnt hat?«, fragte Ray.

»Volvo hat uns die Teilenummer übermittelt, und wir haben eine Liste aller Werkstätten, an die das Ersatzteil in den letzten zehn Tagen geschickt worden ist«, erklärte Phil. »Ich habe Malcolm angewiesen, sie zu kontaktieren, angefangen mit denen in der unmittelbaren Umgebung. Er soll sich die Nummern aller Fahrzeuge geben lassen, bei denen der Nebelscheinwerfer seit dem Unfall erneuert worden ist.«

»Okay«, sagte Ray. »Lasst uns das im Hinterkopf behalten, wenn wir weiter nachfragen, aber vergesst nicht, dass das nur ein einzelnes Beweisstück ist. Selbst wenn wir ein entsprechendes Fahrzeug finden, können wir nicht sicher sein, dass es auch das richtige ist. Wer kümmert sich um die Überwachungskameras?«

»Wir, Boss.« Brian Walton hob die Hand. »Wir haben uns alles besorgt, was wir bekommen konnten: nicht nur das Material der städtischen Kameras, sondern auch das von Läden, Tankstellen, Banken und so weiter. Wir beschränken die Suche auf eine halbe Stunde vor und nach dem Unfall. Trotzdem sind es noch Hunderte Stunden Material.«

Ray zuckte unwillkürlich zusammen bei dem Gedanken, was die bevorstehenden Überstunden für das Abteilungsbudget bedeuteten. »Zeigt mir die Liste der Kameras«, sagte er. »Wir können unmöglich alles durchgehen. Also müssen wir Prioritäten setzen.«

Brian nickte.

»So. Dann haben wir ja genug zu tun«, sagte Ray und lächelte trotz aller Bedenken. Inzwischen lag die »goldene Stunde« – also die Zeitspanne unmittelbar nach einem Verbrechen, in der die Aussichten auf Erfolg am größten waren – schon vierzehn Tage zurück, und obwohl das Team schon unzählige Überstunden angehäuft hatte, waren sie noch keinen Schritt weitergekommen. Ray hielt kurz inne, bevor er seinen Leuten die schlechte Nachricht übermittelte. »Es wird euch sicher nicht überraschen zu hören, dass bis auf Weiteres aller Urlaub gestrichen ist. Tut mir leid. Ich will versuchen, es so zu drehen, dass ihr wenigstens über Weihnachten ein wenig Zeit mit euren Familien verbringen könnt.«

Ein verärgertes Raunen ging durch den Raum, als sie Rays Büro verließen, doch niemand beschwerte sich, und Ray wusste, dass sie das auch später nicht tun würden. Auch wenn es keiner von ihnen aussprach, sie dachten alle daran, wie Weihnachten dieses Jahr wohl für Jacobs Mutter sein würde.

Meine Seele so kalt
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