7

»Kommt schon!«, bellte Ray die Treppe hinauf und schaute zum fünften Mal innerhalb weniger Minuten auf die Uhr. »Tom! Lucy! Wir kommen zu spät!«

Als wären Montage nicht schon stressig genug, hatte Mags die Nacht bei ihrer Schwester verbracht. Vor heute Mittag würde sie nicht zurückkommen. Ray war vierundzwanzig Stunden auf sich allein gestellt. Unklugerweise, wie er jetzt wusste, hatte er den Kindern erlaubt, länger aufzubleiben und sich einen Film anzusehen. Als Folge davon hatte er Mühe gehabt, selbst die stets muntere Lucy um halb acht aus dem Bett zu bekommen. Jetzt war es fünf nach halb neun, und Ray stand noch immer am Fuß der Treppe und rief nach seinen Kindern.

»Jetzt macht endlich voran!« Ray marschierte zum Auto und startete den Motor. Die Haustür ließ er auf. Lucy stürmte hindurch. Das ungekämmte Haar flog ihr ums Gesicht, und sie sprang neben ihren Dad auf den Beifahrersitz. Ihr marineblauer Schulrock war zerknittert, und einer der beiden Kniestrümpfe hing bereits auf ihren Knöcheln. Eine volle Minute später stapfte auch Tom zum Wagen. Sein Hemd hing aus der Hose und flatterte im Wind. Er hatte seine Krawatte in der Hand und machte keinerlei Anstalten, sie anzuziehen. Im Augenblick hatte er einen Wachstumsschub und bewegte sich deshalb reichlich unbeholfen. Er hielt den Kopf gesenkt und ließ die Schultern hängen.

Ray öffnete das Fenster. »Die Tür, Tom!«

»Hä?« Tom schaute seinen Vater an.

»Die Haustür?« Ray ballte die Fäuste. Wie Mags das jeden Tag ertragen konnte, ohne die Beherrschung zu verlieren, war ihm ein Rätsel. Die Liste mit Aufgaben, die sie ihm gegeben hatte, ging ihm ständig im Kopf herum, und auf die Fahrt zur Schule hätte er wirklich verzichten können – besonders heute.

»Oh.« Seelenruhig schlurfte Tom zum Haus zurück und knallte die Tür zu. Dann stieg er auf den Rücksitz. »Warum sitzt Lucy vorne?«

»Ich bin dran.«

»Bist du nicht.«

»Bin ich doch.«

»Es reicht!«, brüllte Ray.

Niemand sagte ein Wort, und nach den gut fünf Minuten Fahrt zu Lucys Grundschule hatte Rays Blutdruck sich wieder normalisiert. Er parkte seinen Mondeo im Halteverbot, brachte Lucy zu ihrem Klassenzimmer, küsste sie zum Abschied auf die Stirn. Als er zurückkam, stand eine Frau an seinem Wagen und notierte sich das Kennzeichen.

»Oh, Sie sind’s!«, sagte sie, als er neben den Wagen trat. Sie drohte mit dem Finger. »Das sollten Sie doch besser wissen, Inspector.«

»Tut mir leid«, sagte Ray. »Es war dringend. Sie wissen ja, wie das ist.«

Die Frau klopfte tadelnd mit dem Stift auf ihren Notizblock. Ray ließ sie einfach stehen. Verdammte Parkplatzmafia, dachte er. Die hatten einfach zu viel Zeit. Das war das Problem.

»So«, sagte Ray und blickte zum Beifahrersitz hinüber. Tom hatte sich sofort dorthin gesetzt, nachdem Lucy ausgestiegen war, und nun starrte er entschlossen aus dem Fenster. »Wie läuft’s in der Schule?«

»Gut.«

Toms Lehrerin hatte gesagt, es sei zwar nicht schlimmer geworden, aber auch nicht besser. Als Ray und Mags in die Schule gefahren waren, hatten sie von einem Jungen ohne Freunde gehört, der im Unterricht nur das Nötigste tat und sich nie freiwillig für etwas meldete.

»Mrs Hickson hat gesagt, mittwochs würde nach der Schule Fußball gespielt. Wäre das nichts für dich?«

»Nicht wirklich.«

»Ich war früher einmal ziemlich gut. Vielleicht hast du ja was davon geerbt. Was meinst du?« Auch ohne zu Tom zu blicken, wusste Ray, dass der Junge mit den Augen rollte, und er zuckte unwillkürlich zusammen, als er erkannte, wie sehr er wie sein eigener Vater klang.

Tom steckte sich die Kopfhörer in die Ohren.

Ray seufzte. Die Pubertät hatte seinen Sohn in einen grunzenden, unkommunikativen Teenager verwandelt, und Ray fürchtete sich jetzt schon vor dem Tag, wenn es bei seiner Tochter so weit sein würde. Ja, Eltern sollten eigentlich keinen Liebling haben, doch Ray hatte eine Schwäche für Lucy, die mit ihren neun Jahren noch immer mit ihm knuddelte und auf einer Gutenachtgeschichte bestand. Bei Tom und Ray war das anders. Auch vor der Pubertät waren sie schon aneinandergeraten. Sie seien sich schlicht zu ähnlich, hatte Mags gesagt, auch wenn Ray das anders sah.

»Du kannst mich hier rauslassen«, sagte Tom und schnallte sich schon ab, obwohl der Wagen noch rollte.

»Aber wir sind noch zwei Straßen von der Schule entfernt.«

»Dad, das ist schon okay so. Ich will zu Fuß gehen.« Tom griff nach dem Türgriff, und kurz glaubte Ray, der Junge würde die Tür einfach aufreißen und aus dem fahrenden Auto springen.

»Jaja. Schon verstanden.« Ray fuhr an den Straßenrand und ignorierte zum zweiten Mal an diesem Morgen das Halteverbot. »Du weißt, dass du die Anmeldung verpassen wirst, oder?«

»Bis später.«

Und mit diesen Worten war Tom draußen. Er schlug die Tür hinter sich zu und verschwand im Verkehr. Was zum Teufel war nur mit seinem lieben, lustigen Sohn passiert?, fragte sich Ray. War seine Gereiztheit irgendein Übergangsritual, oder steckte mehr dahinter? Ray schüttelte den Kopf. Man sollte meinen, im Vergleich zu einer komplexen Mordermittlung sei Kindererziehung ein Zuckerschlecken, doch Ray war jedes Verhör tausend Mal lieber als ein Gespräch mit Tom. Zumal bei einem Verhör auch mehr rumkommt, dachte er säuerlich. Gott sei Dank würde Mags die Kinder von der Schule abholen.

Als Ray schließlich im Polizeipräsidium ankam, hatte er Tom aus seinen Gedanken verdrängt. Man musste kein Genie sein, um zu wissen, warum der Chief Constable ihn sehen wollte. Der Unfall war nun fast sechs Monate her, und die Ermittlungen waren so gut wie zum Stillstand gekommen. Ray setzte sich auf einen Stuhl vor dem mit Eichenholz verkleideten Büro, und die Sekretärin des Chiefs lächelte ihn mitfühlend an.

»Sie telefoniert gerade«, sagte sie. »Aber es dauert nicht lange.«

Chief Constable Olivia Rippon war eine brillante, aber Furcht erregende Frau. Sie war rasch aufgestiegen und nun schon seit sieben Jahren die oberste Beamtin von Avon und Somerset. Einmal hatte man sie sogar als nächsten Met Commissioner gehandelt, doch Olivia hatte »aus persönlichen Gründen« beschlossen, in ihrer Heimat zu bleiben, wo sie es genoss, leitende Beamte bei den monatlichen Meetings zur Sau zu machen. Sie war eine dieser Frauen, die für die Uniform geboren waren. Ihr dunkles Haar hatte sie stets zu einem strengen Knoten gebunden, und in ihren schwarzen Hosen steckten kräftige Beine.

Ray rieb sich die Hände an den Hosenbeinen ab, um sicherzustellen, dass sie völlig trocken waren. Es gab da ein Gerücht, dass der Chief einmal einem vielversprechenden Beamten die Beförderung zum Inspector verweigert hatte, weil der arme Kerl mit den verschwitzten Händen »kein Selbstvertrauen ausgestrahlt« hätte. Ray hatte keine Ahnung, ob das stimmte, aber er wollte auch kein unnötiges Risiko eingehen. Er und Mags kamen zwar mit seinem Gehalt ganz gut zurecht, große Sprünge konnten sie aber nicht machen. Mags sprach noch immer darüber, Lehrerin zu werden, doch Ray hatte nachgerechnet: Wenn er noch ein paarmal befördert werden würde, dann musste sie nicht arbeiten gehen. Ray dachte an das Chaos heute Morgen und kam zu dem Schluss, dass Mags schon genug zu tun hatte. Sie sollte sich keinen Job suchen müssen, nur damit sie sich ein wenig Luxus leisten konnten.

»Sie können jetzt reingehen«, sagte die Sekretärin.

Ray atmete tief durch und öffnete die Tür. »Guten Morgen, Ma’am.«

Schweigen senkte sich über den Raum, während Chief Rippon sich ausführliche Notizen in ihrer typischen, unleserlichen Handschrift machte. Ray lungerte an der Tür herum und tat so, als würde er die zahlreichen Urkunden und Fotografien bewundern, die die Wände zierten. Der dunkelblaue Teppich war hier deutlich dicker und flauschiger als im Rest des Gebäudes, und ein riesiger Konferenztisch nahm die eine Hälfte des Raums ein. Am anderen Ende saß Olivia Rippon hinter einem großen, geschwungenen Schreibtisch. Schließlich hörte sie auf zu schreiben und hob den Blick.

»Ich möchte, dass Sie die Ermittlungen zu dem Unfall in Fishponds einstellen.«

Es war klar, dass sie Ray keinen Stuhl anbieten würde. Also nahm er sich einfach einen. Chief Rippon hob die Augenbrauen, sagte aber nichts.

»Ich glaube, mit ein wenig mehr Zeit …«

»Sie hatten Zeit genug«, unterbrach Olivia ihn. »Fünfeinhalb Monate, um genau zu sein. Das ist einfach nur peinlich, Ray. Jedes Mal wenn eines Ihrer sogenannten Updates in der Post erscheint, erinnert das die Öffentlichkeit nur daran, dass die Polizei den Fall nicht lösen kann. Gestern Abend hat mich Stadtrat Lewis angerufen. Er will, dass der Fall zu den Akten gelegt wird, und das will ich auch.«

Ray fühlte, wie Zorn in ihm aufkeimte. »Ist Lewis nicht derjenige, der das Volksbegehren abgeschmettert hat, das forderte, zwanzig Meilen pro Stunde in Wohngebieten einzuführen?«

Olivia sah ihn kalt an.

»Schließen Sie den Fall, Ray.«

Sie schauten einander über den glatten Walnussholztisch hinweg an und sagten kein Wort. Überraschenderweise war es Olivia, die zuerst nachgab. Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und verschränkte die Hände vor der Brust.

»Sie sind ein außergewöhnlich guter Detective, Ray, und Ihre Hartnäckigkeit ist bewundernswert. Aber wenn Sie weiter Karriere machen wollen, dann müssen Sie akzeptieren, dass es bei der Polizeiarbeit nicht nur um das Lösen von Fällen geht, sondern auch um Politik.«

»Das verstehe ich, Ma’am.« Ray versuchte, sich seinen Frust nicht anmerken zu lassen.

»Gut«, sagte Olivia, nahm die Kappe von ihrem Stift und griff nach dem nächsten Memo in ihrer Ablage. »Dann sind wir uns ja einig. Der Fall wird noch heute zu den Akten gelegt.«

*

Dieses eine Mal war Ray dankbar für den Verkehr, der ihn auf dem Weg zum Revier aufhielt. Er brannte nicht gerade darauf, Kate von seinem Gespräch mit Olivia zu berichten, und er fragte sich, warum ihn ausgerechnet das so sehr beschäftigte. Vermutlich lag es daran, dass Kate noch neu bei der Kriminalpolizei war. Sie wusste noch nicht, wie frustrierend es war, einen Fall ungelöst zu den Akten legen zu müssen, in den man so viel Arbeit und Energie investiert hatte. Stumpy hingegen hatte schon lange resigniert, was das betraf.

Kaum war Ray wieder auf dem Revier, rief er die beiden zu sich ins Büro. Kate kam als Erste. Sie stellte einen Kaffeebecher neben den Computer, wo bereits drei andere standen, alle halb voll mit schwarzem Kaffee.

»Sind die alle von letzter Woche?«

»Jep … Die Putzfrau weigert sich inzwischen, sie zu spülen.«

»Das überrascht mich nicht. Schließlich kannst du das auch selbst tun, weißt du?« Kate setzte sich im selben Augenblick, als Stumpy reinkam und Ray zur Begrüßung zunickte.

»Erinnert ihr euch noch an den Wagen, den Brian und Pat auf dem Überwachungsvideo gesehen haben?«, sagte Kate, kaum dass Stumpy sich gesetzt hatte. »An den, der es so eilig zu haben schien?«

Ray nickte.

»Anhand des Materials, das wir haben, können wir den Typ nicht erkennen. Deshalb würde ich es gerne zu Wesley bringen. Vielleicht bringt das ja was.«

Wesley Barton war eine klapperdürre, fast magersüchtige Gestalt, und aus irgendeinem Grund besaß er eine Sicherheitsfreigabe als Experte für öffentliche Überwachungskameras. Er arbeitete im fensterlosen Keller eines stickigen Hauses an der Redland Road. Dort stand ihm ein atemberaubendes Arsenal an Geräten zur Verfügung, um Kameraaufnahmen aufzuarbeiten, sodass man sie als Beweise verwenden konnte. Wahrscheinlich war er clean, nahm Ray an, doch er hatte auch etwas Zwielichtiges an sich, das Ray jedes Mal schaudern ließ, wenn er ihn sah.

»Tut mir leid, Kate, aber dafür kann ich kein Geld freigeben«, sagte Ray. Er hasste die Vorstellung, ihr sagen zu müssen, dass all die harte Arbeit ein so plötzliches Ende finden würde. Wesley war teuer, aber er war auch gut, und Ray war beeindruckt von Kates Engagement. Es gefiel ihm nicht, das zugeben zu müssen, aber im Gegensatz zu ihr, hatte sein Enthusiasmus in den letzten Wochen merklich nachgelassen. Er hätte nicht zulassen dürfen, dass seine privaten Probleme die Arbeit so sehr beeinflussten, besonders nicht bei einem Fall wie diesem. Aber jetzt war das wohl ohnehin egal, dachte er verbittert. Chief Rippon hatte befohlen, die Akte zu schließen.

»So teuer ist das doch gar nicht«, protestierte Kate. »Ich habe mit ihm gesprochen, und …«

Ray fiel ihr ins Wort. »Ich kann überhaupt kein Geld mehr freigeben«, erklärte er. Stumpy schaute ihn an. Er hatte ausreichend Erfahrung, um zu wissen, was kam.

»Der Chief hat mir befohlen, die Ermittlungen einzustellen«, sagte Ray und hielt den Blick auf Kate gerichtet.

Kurz schwiegen alle.

»Ich hoffe, du hast ihr gesagt, wo sie sich das hinstecken kann.« Kate lachte, doch niemand stimmte in ihr Lachen ein. Ihr Blick huschte zwischen Ray und Stumpy hin und her. »Meinst du das ernst? Wir sollen einfach aufgeben?«

»Da gibt es nichts aufzugeben«, erwiderte Ray. »Wir können nichts mehr tun. Mit dem Nebelscheinwerferglas hattest du doch auch keinen Erfolg …«

»Ich warte noch auf Rückmeldung von mehr als einem Dutzend Seriennummern«, sagte Kate. »Du glaubst nicht, wie viele Werkstätten keine ordentlichen Aufzeichnungen haben. Es ist also längst nicht sicher, dass ich nichts finden werde. Ich brauche einfach nur mehr Zeit.«

»Das ist verschwendete Liebesmüh«, erwiderte Ray in sanftem Ton. »Manchmal muss man einfach wissen, wann es Zeit ist aufzuhören.«

»Wir haben alles getan, was wir tun konnten«, meldete Stumpy sich zu Wort. »Aber es ist wie die Suche nach der berühmten Nadel im Heuhaufen. Keine Seriennummer, keine Farbe, keine Marke und kein Modell … Wir brauchen mehr, Kate.«

Ray war dankbar für Stumpys Unterstützung. »Und wir haben nicht mehr«, sagte er. »Deshalb fürchte ich, dass wir für den Augenblick erst einmal einen Schlussstrich ziehen müssen. Sollte sich eine neue Spur ergeben, werden wir sie natürlich verfolgen, aber bis dahin …« Er verstummte. Ray war sich nur allzu bewusst, dass sich das hier wie eine Presseerklärung des Chiefs anhörte.

»Hier geht es doch um Politik, nicht wahr?«, sagte Kate. »Der Chief sagt ›Springt!‹, und wir fragen ›Wie hoch?‹.« Ray merkte, wie persönlich sie das alles nahm.

»Komm schon, Kate«, sagte er. »Du bist jetzt lange genug dabei, um zu wissen, dass wir manchmal schwierige Entscheidungen treffen müssen.« Er hielt inne. Er wollte sie nicht belehren. »Schau mal …«, versuchte er es noch einmal. »Es sind jetzt fast sechs Monate, und wir haben nicht eine einzige konkrete Spur. Keine Zeugen, kein forensisches Material, nichts. Wir könnten alle Ressourcen der Welt in diese Ermittlung stecken und hätten immer noch nichts Konkretes. Tut mir leid, aber wir haben noch andere Fälle und andere Opfer, für die wir kämpfen müssen.«

»Hast du es überhaupt versucht?«, verlangte Kate zu wissen. Ihre Wangen waren rot vor Wut. »Oder hast du einfach nur treudoof mit dem Schwanz gewedelt?«

»Kate!«, warnte Stumpy. »Beruhig dich mal.«

Sie ignorierte ihn und starrte Ray trotzig an. »Ich nehme an, du musst an deine Beförderung denken. Da kommt es wohl nicht so gut, wenn man sich mit dem Chief anlegt.«

»Das hat damit nichts zu tun!« Ray versuchte, ruhig zu bleiben, doch er war lauter geworden, als er beabsichtigt hatte. Sie starrten einander an. Aus dem Augenwinkel heraus sah Ray, dass Stumpy ihn erwartungsvoll anschaute. Ray hätte Kate eigentlich rauswerfen sollen. Sie durfte nicht vergessen, dass sie nur Constable war und im Büro eines Inspectors stand, und wenn ihr Boss sagte, ein Fall werde zu den Akten gelegt, dann war das so – Punkt! Er öffnete den Mund, brachte aber kein Wort hervor.

Das Problem war, dass Kate den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Ray wollte die Ermittlungen genauso wenig einstellen wie Kate, und es hatte mal eine Zeit gegeben, da hätte er sich genauso trotzig vor den Chief gestellt, wie Kate jetzt vor ihm stand. Vielleicht war er einfach nicht mehr nahe genug an den Sachen dran, oder Kate hatte vollkommen recht, und er schielte wirklich zu sehr auf die nächste Beförderung.

»Ich weiß, das ist schwer, wenn man schon so viel Arbeit in eine Ermittlung gesteckt hat«, sagte er in sanftem Ton.

»Um die Arbeit geht es nicht.« Kate deutete auf Jacobs Foto an der Wand. »Es geht um diesen kleinen Jungen. Das ist einfach falsch!«

Ray erinnerte sich daran, wie Jacobs Mutter auf dem Sofa gesessen hatte, das Gesicht vor Leid verzerrt. Er konnte Kate nicht widersprechen, und das wollte er auch gar nicht. »Es tut mir wirklich leid.« Er räusperte sich und versuchte, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. »Was hat das Team im Augenblick sonst noch zu tun?«, fragte er Stumpy.

»Malcolm ist wegen der Grayson-Sache die Woche bei Gericht. Außerdem hat er noch mit der schweren Körperverletzung in der Queen’s Street zu tun. Das Jugendamt hat beschlossen, Anklage zu erheben. Ich arbeite noch an den Supermarktüberfällen, und Dave ist in die Anti-Messer-Kampagne eingebunden. Heute hält er zum Beispiel einen Vortrag am College. ›Bürgerdienst‹ nennt man das wohl.«

Letzteres sprach Stumpy aus, als wäre es ein Schimpfwort, und Ray lachte.

»Man muss einfach mit der Zeit gehen, Stumpy.«

»Du kannst auf diese Kids einreden, bis du schwarz wirst«, erwiderte Stumpy. »Sie tragen trotzdem weiter ihre Messer mit sich herum.«

»Ja, vielleicht, aber wir müssen es wenigstens versuchen.« Ray machte sich eine Notiz in seinem Terminkalender. »Gib mir morgen vor dem Meeting noch einmal ein Update, ja? Und ich würde gerne wissen, wie ihr über eine Amnestie für das unerlaubte Tragen von Messern denkt, vielleicht zu Beginn der Schulferien. Lasst uns versuchen, so viele Kids wie möglich von der Straße zu holen.«

»Okay.«

Kate starrte auf den Boden und zupfte die Haut von ihrem Nagelbett. Stumpy stieß sie sanft an, und sie drehte sich zu ihm um.

»Schinkensandwich?«, fragte er leise.

»Das macht es auch nicht besser«, murmelte Kate.

»Stimmt«, stimmte Stumpy ihr zu. »Aber du würdest dich sicher besser fühlen, wenn du nicht länger mit einem Gesicht herumlaufen würdest wie eine Bulldogge, die eine Wespe verschluckt hat.«

Kate lachte halbherzig. »Ich komme gleich.«

Es folgte eine kurze Pause, und Ray sah, dass Kate wartete, bis Stumpy den Raum verlassen hatte. Er schloss die Tür, kehrte zu seinem Schreibtisch zurück, setzte sich und verschränkte die Arme vor der Brust. »Alles okay?«

Kate nickte. »Ich wollte mich nur entschuldigen. Ich hätte nicht so mit dir reden dürfen.«

»Ich habe schon Schlimmeres gehört«, erwiderte Ray und grinste. Doch Kate lächelte nicht. Sie war nicht zum Scherzen aufgelegt. »Ich weiß, dass dieser Fall dir viel bedeutet«, sagte Ray.

Kate schaute erneut zu Jacobs Foto hinüber. »Ich habe das Gefühl, ich hätte ihn im Stich gelassen.«

Ray fühlte, wie seine Entschlossenheit ins Wanken geriet. Es stimmte. Sie hatten den Jungen im Stich gelassen. Sie hatten versagt. Doch das half Kate auch nicht weiter. »Du hast alles gegeben«, sagte er stattdessen. »Mehr kann niemand von dir verlangen.«

»Aber es hat nicht gereicht, stimmt’s?« Sie drehte sich zu Ray um, und er schüttelte den Kopf.

»Nein. Es hat nicht gereicht.«

Kate verließ Rays Büro, schloss die Tür hinter sich, und Ray schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Sein Stift rollte weg und fiel zu Boden. Ray lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Sein Haar fühlte sich dünn an, und er schloss die Augen. Plötzlich fühlte er sich alt und sehr, sehr müde. Ray dachte an die leitenden Beamten, denen er täglich begegnete. Die meisten waren älter als er, aber ein paar auch jünger. Ohne innezuhalten waren sie die Karriereleiter hinaufgestürmt. Hatte er die Kraft, mit ihnen mitzuhalten? Wollte er das überhaupt?

Als er vor all den Jahren in diesem Job angefangen hatte, war alles so einfach gewesen: böse Buben wegsperren und die braven Leute schützen. Er hatte in Messerstechereien und Überfällen ermittelt, in Vergewaltigungen und Sachbeschädigungen, und er hatte sein Bestes getan, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Aber war das auch heute noch so? Meistens hockte er von acht bis acht in seinem Büro und fuhr nur raus zu einem Fall, wenn er sich vor dem Papierkram drücken wollte. Außerdem war er in seiner Stellung gezwungen, der offiziellen Linie zu folgen, selbst wenn das seinen Überzeugungen widersprach.

Er warf einen Blick in Jacobs Akte. Sie war voller nutzloser Beweise und Protokolle. Ray dachte an die Bitterkeit in Kates Gesicht und an ihre Enttäuschung, weil er sich nicht gegen die Entscheidung des Chiefs gewehrt hatte, und er fand es furchtbar, dass sie deshalb nun deutlich weniger von ihm hielt. Aber die Worte des Chiefs klangen ihm noch immer in den Ohren, und Ray wusste, dass es sinnlos war, gegen einen direkten Befehl anzugehen, egal wie Kate darüber dachte. Er nahm Jacobs Akte und stopfte sie in die unterste Schreibtischschublade.

Meine Seele so kalt
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