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Erst am späten Vormittag, als das Dorf und die Qualmwolke kilometerweit hinter ihnen lagen, merkte der Junge, dass der Hirte nicht mehr lebte. Er hatte beschlossen, in einem etwas abseits vom Weg gelegenen Wäldchen zu rasten, um Sonne und Menschen zu meiden und ein wenig zu schlafen. Er hatte angenommen, er handele im Sinne des Hirten, denn genauso hatte dieser ihre Tagesabläufe eingeteilt: nachts unterwegs und tagsüber unsichtbar.

Auf dem Weg hatte er immer wieder zurückgeblickt, um sich zu vergewissern, dass mit dem Hund, den Ziegen und dem Alten alles in Ordnung war. Irgendwann war der Hirte zur Seite gekippt und hatte schräg zwischen den aus den Tragetaschen herausragenden Flaschenhälsen festgehangen. Der Junge hatte angenommen, er sei eingeschlafen, was ihn kaum verwundert hatte. Also entschied zum ersten Mal er, wann und wo sie Pause machten. Er war sich sicher, der Hirte würde ihm für diese Art der Arbeitsteilung dankbar sein.

Sie verließen den Weg und stapften querfeldein durch ein knochentrockenes, steiniges Gelände. Er bemerkte die Spuren, die sie im Staub hinterließen, und überlegte kurz, ob er sie beseitigen sollte. Die Hufabdrücke vom Esel und den Ziegen hätte er mit Zweigen verwischen können. Aber ihm fehlte die Kraft, auch noch den Ziegendung aufzusammeln. Und so ließ er es sein.

Ihm ging die vergangene Nacht durch den Sinn, der Scherge mit dem eingeschlagenen Schädel und der Polizeiwachtmeister, dem der Hirte das Hirn ausgepustet hatte. Er dachte auch an die vielen Tage, die sie bereits gemeinsam unterwegs waren, die schlaflosen Nächte, den Hunger und die brutalen Übergriffe. Seine Lider fingen an zu zittern, und mit einem Mal machte sich Gleichgültigkeit in ihm breit. Am liebsten wäre er mitten in der Einöde einfach auf die Knie gesunken und eingeschlafen, doch das Wäldchen lag direkt vor ihrer Nase, und so gab er sich einen letzten Ruck.

Der Pinienhain war klein, gerade tief genug, um sich so weit darin zu verkriechen, dass sie vom Weg aus nicht zu sehen waren. Hätte sie jemand gesucht, hätte er sie sofort aufgestöbert, doch in diesem Moment war das dem Jungen egal. Schnell raffte er ein paar Äste zusammen und errichtete zwischen mehreren Sträuchern einen provisorischen Pferch. Mit Unterstützung des Hundes sperrte er die Ziegen hinein und ging zurück zu dem Hirten, um ihm beim Absteigen zu helfen und den Esel von seiner Last zu befreien.

»Wenn es Ihnen recht ist, rasten wir hier ein wenig.«

Der Alte zeigte keinerlei Reaktion. Der Junge trat näher an den Esel heran, schaute unter der Hutkrempe nach dem Hirten. Er hielt die Augen geschlossen, absichtlich, wie der Junge glaubte. Er befreite die zwischen den Körben und den Flanken des Esels eingeklemmten Beine. Stemmte dem Alten dann seine Schulter in die Hüfte, schlang ihm die Arme um den Rücken und versuchte, ihn herunterzuheben. Plötzlich kippte der Hirte mit seinem ganzen Gewicht auf ihn drauf, und sie fielen auf den knisternden Piniennadeln zu Boden.

Der Alte roch streng, ebenso streng wie er selbst. Ohne recht zu begreifen, was geschehen war, wäre er gerne so liegen geblieben, wäre er nicht so schwer gewesen. Schließlich warf er den Alten mit aller Kraft von sich ab. Der Junge blieb noch eine Weile neben dem leblosen Mann ausgestreckt, so als hätte er an einem schwülen Morgen bloß seine Decke beiseitegeworfen. Die Erschöpfung fesselte ihn an die Erde. Er atmete tief ein und aus, während er in die Wipfel der Pinien blickte. Das grellgelbe Licht von Millionen Nadeln gekämmt, die einen Himmel filterten, der es nicht zuließ, dass man direkt hineinschaute. Ein Luftzug entlockte den sich aneinanderreibenden Nadeln ein Rascheln wie Balsam. Unnötig, den Alten wachrütteln zu wollen oder ihm die Lider hochzuziehen. Er wusste, dass er tot war.

Der Junge hatte weder Kraft noch Lust, sich zu überlegen, wie es weitergehen sollte. Er war einfach zu ausgelaugt. Mit seinem Hintern und den Schultern nestelte er sich in eine bequeme Lage auf dem Nadelbett. Wenig später schmiegte sein Arm sich ungewollt an den des Alten, bevor er sich dem Schlaf hingab wie jemand, der sich den Wind vom Meer ins Gesicht blasen lässt.

Er erwachte, als der Hund ihn mit der Schnauze in die Seite stupste. Langsam öffnete er die Augen und tastete nach dem Kopf des Tieres, das sofort Ruhe gab. Die Pinienwipfel filterten nicht mehr die grelle Mittagssonne, sondern dämpften das staubkörnige Orange des Abendhimmels. Er spürte den Arm des Alten an seinem und setzte sich auf, ohne zu ihm hinüberzusehen. Sein Magen krampfte, sein Rücken schmerzte. Kniend durchwühlte er das Pinienbett, bis er einen spitzen Stein fand, den er weit über die Ziegen hinwegschleuderte, damit er ihn nicht mehr in den Rücken stach. Wie lange er geschlafen hatte, wusste er nicht. Der Esel stand unverändert da, mit allen Vorräten bepackt. Er ging zu ihm hin und kraulte ihn unterm Maul, das Gesicht an seines geschmiegt. Später befreite er das Tier von den Tragetaschen, nahm den Halfterstrick ab, goss Wasser in eine Schale, die er aus der Herberge mitgenommen hatte, und ließ es trinken.

Nach einer Weile ging er zum Rand des Pinienwäldchens und hielt längs des Weges Ausschau. Über dem offenen Gelände war es noch heller, und von seinem Ausguck aus konnte er eine beträchtliche Wegstrecke überblicken. Wohin er auch schaute, war weit und breit niemand zu sehen.

Sein Magen krampfte noch immer, als er zum Hirten zurückkehrte. Die Bauchkrämpfe, dachte er, rührten vielleicht von dem verdorbenen Wasser, das sie getrunken hatten. Obwohl er durstig war, vermied er es, noch einen Schluck zu trinken. Er wollte es von nun an jedes Mal abkochen. Er sah dem Esel zu, wie er das Maul bis zu den Nüstern ins Gefäß versenkte, dann wanderten seine Augen weiter zu den Ziegen. Er blickte in die Runde, als suchte er etwas. Eine schwache Brise, gerade genug, um eine Quelle aus dem Nichts sprießen zu lassen, aus der frisches Wasser in seinen Mund sprudelte. Seinen Mund, der sich anfühlte wie gegerbtes Leder.

Ziellos wanderte er in der Gegend umher, vermied bewusst, zu dem Alten hinzusehen. Er durchsuchte die Vorräte, prüfte die Festigkeit der Pfanne, schnupperte am Öl. Ließ anschließend die Ziegen frei, damit sie ein wenig Auslauf hatten, beobachtete den Hund, wie er sie eifrig beisammenhielt. Streichelte den Esel, ging wieder zum Waldrand und setzte sich auf einem umgestürzten Baumstamm nieder.

Wieder zurück bei seinem Lager, wählte er die Ziege mit dem prallsten Euter aus, hockte sich hinter sie und massierte die Zitzen mit einer Hand, bis die ersten Tropfen kamen. Dann stellte er einen Topf unter das Euter und molk. Als ihm das Gefäß voll genug klang, entließ er die Ziege mit einem Klaps, hob den Milchtopf hoch und trank das, was er der Geiß hatte abtrotzen können.

Eine Weile hielt er still inne, stellte schließlich den Topf auf dem Boden ab und näherte sich dem Hirten. Zum ersten Mal seit dessen Tod wagte er es, den Leichnam zu betrachten. Er lag am Boden ausgestreckt, das Gesicht entspannt. Der Strohhut einen halben Meter entfernt, so wie er ihm vom Kopf gefallen war. Das fleckige Jackett aufgeklappt, sichtbar die Peitschenstriemen auf den Rippen. Er hätte genauso gut auch bloß schlafen können, doch in Wirklichkeit musste der Tod ihn schon von innen auffressen. Während hinter ihm die Ziegenglöckchen bimmelten, ließ der Junge sich weinend neben dem leblosen Körper fallen.

Es herrschte noch finstere Nacht, als er wegen der Ameisen wach wurde. Sie krabbelten ihm über die Hände, auf denen sein Kopf lag, bis ins Gesicht. Hastig kniete er sich hin und schüttelte sie ab. Die Sicht reichte nur wenige Meter weit. Er tastete nach dem Leichnam des Alten neben sich, der ganz kalt war. Mit den Fingern schaufelte er die Piniennadeln beiseite. Wischte, als er auf den nackten Boden stieß, eine größere Fläche frei. Dann schichtete er in der Mitte ein Häuflein trockener Nadeln auf und entfachte ein winziges Feuer, dessen tanzendes Flämmchen ausreichte, die vielen Insekten, die sich auf Brust und Gesicht des Hirten tummelten, sichtbar zu machen. Er suchte sich einen kleinen Pinienzweig und benutzte ihn als Besen, um den Körper von den Insekten zu befreien. Aus den Tragekörben holte er die Pfanne, die dem Krüppel gehört hatte, und ging zu Füßen des Hirten in die Hocke. Mit dem Pfannenstiel zog er eine Linie am Boden, nahm mit Hilfe der Hände Maß und übertrug die Breite auf die Stelle, an der er vorhatte zu graben.

Zunächst kam er zügig voran. Er säuberte einen Streifen längs des Toten von den Nadeln und hob mit der Pfanne die ersten lockeren Sandschichten aus. Etwa eine Handspanne tief stieß er auf die ersten Wurzeln, die sich netzförmig in allen Richtungen unter der Erde ausbreiteten und ihm fortan das Graben erschwerten.

Bis zum Morgen war das Loch zwar ein paar Handspannen tiefer, aber noch immer zu flach, um den Alten auch nur bis zur Nasenspitze unter die Erde zu bringen. Erst am Vormittag, als er schon bis zu den Knien in der Grube versank, legte er eine Pause ein, um Kraft zu schöpfen. Zwar hätte der Körper nun hineingepasst, doch hätten ihn Tiere problemlos wieder ausbuddeln können. Also beschloss er, weiterzuschaufeln und erst aufzuhören, wenn er bis zur Taille im ausgehobenen Erdloch stand. Es wurde Nachmittag, und die Erschöpfung war ihm längst zur zweiten Haut geworden.

Nur ein Ereignis riss ihn aus dem gewohnten Trott. Zum Mittag hin sprang der Hund, der zusammengerollt vor sich hingedöst hatte, plötzlich auf und schnüffelte aufgeregt mit der Nase in die Richtung des Weges. Der Junge beruhigte ihn und nahm ihn angeleint mit zum Waldrand. Von dort aus erspähte er eine kleine Gruppe von Maultiertreibern, die gen Norden vorbeizogen. Drei Männer mit zehn oder zwölf beladenen Maultieren. Die Leute mussten zwangsläufig das Dorf passiert und die niedergebrannte Herberge gesehen haben. Auch das Motorrad des Polizeiwachtmeisters am Dorfeingang konnte ihnen nicht entgangen sein. Der Junge war sich sicher, dass sie in den Ruinen des abgebrannten Hauses herumgeschnüffelt und die verkohlten Leichen entdeckt hatten.

Als er etwas später versuchte, den Hirten in das Grab zu hieven, rollte der Leichnam zur Seite und landete mit dem Gesicht nach unten in der Grube. Das Grab war so eng, dass der Junge eine halbe Stunde brauchte, bis er ihn wieder auf den Rücken gedreht hatte. Er schenkte ihm noch einen letzten Blick und bedeckte sein Gesicht mit einem übrig gebliebenen Stoffstück von der Satteldecke. Zum Schluss schüttete er das Grab wieder mit Erde zu und klopfte die Oberfläche glatt. Die restliche Erde verteilte er in der Umgebung und verdeckte anschließend alles mit einer Schicht Piniennadeln. Er hoffte, der Fleck der feuchten, aufgewühlten Erde würde in kürzester Zeit verdunsten, damit das Grab nicht sofort zu erkennen wäre. Eine Weile blieb er noch davor stehen, starrte auf den Flecken Erde, unter dem der Hirte begraben lag. Dann entfernte er sich. Mit zwei gut zwanzig Zentimeter langen Stöckchen kam er zurück und legte sie über Kreuz auf das Grab. Er betrachtete sie ungläubig, fragte sich, was diese Stöckchen hier an diesem fernen Ort für einen Sinn haben sollten. Irgendwann fing er an, ein Vaterunser zu beten, wurde nach ein paar Zeilen immer leiser, murmelte die Worte vor sich hin, bis sie ihm auf den Lippen erstarben und er das Gebet abbrach.

Gerne hätte er den Namen des Alten gewusst.

Den restlichen Nachmittag erholte er sich. Aß alles, wonach es ihn gelüstete, und trank so viel Milch, wie er eben aus den Ziegen herauspressen konnte. Danach döste er eine Zeit lang bequem auf den Korbtaschen gebettet. Bevor die Dunkelheit hereinbrach, lud er dem Esel das Gepäck auf, band den Halfterstrick los und machte sich wieder auf den Weg. Vom Mond beschienen, marschierten sie über einsame Pfade durch ebenes Gelände. Der Polarstern wies ihnen die Richtung. Wenn sie ab und zu vom Kurs abkamen, stießen sie doch früher oder später wieder auf den richtigen Pfad.

Eines Morgens ruhte der Junge im Schutz eines alten Hauses, in dem Wanderarbeiter gelegentlich Unterschlupf suchten, als er plötzlich das Prasseln von Regentropfen irgendwo auf einem heruntergefallenen Blech vernahm. Vom Hauseingang aus betrachtete er das ungewöhnliche Spektakel, das sich vor seinen Augen abspielte. Der Himmel wolkenverhangen und ein reines, glasklares Licht, das den Dingen einen nie gekannten Glanz verlieh. Die dicken Tropfen, die auf der staubigen Erde zerbarsten, ohne darin zu versickern. Er ging in das Haus und kehrte mit einem Topf unter dem Arm zurück. Ein paar Meter vom Eingang entfernt stellte er das Gefäß mitten auf dem Boden ab. Dann ging er wieder zur Tür und blieb so lange auf der Schwelle stehen, wie der Regen andauerte, um mit anzusehen, wie ihm für eine kurze Weile die Schrauben seiner Folterqualen gelockert wurden.