10
Der Junge verließ das Eichenwäldchen wie zwei Abende zuvor quer über das Feld, um den Weg zu umgehen. An den Baumstamm gelehnt, sah der Alte ihm nach und lauschte der losen Sohle, die über den Boden schlurfte und eine Schneise durch den Blätterteppich zog. Bevor der Junge aus dem Schatten der Bäume hinaustrat, drehte er sich noch einmal um und begegnete dem Blick des Hirten. In diesem Moment ahnten sie beide nichts von dem, was ihnen noch bevorstand.
Der Junge kroch dicht am Boden entlang, den Proviantsack an der Seite, bis er eine umfassende Sicht auf das Dorf hatte. Eine Weile verharrte er auf der Erde, um nach Lebenszeichen Ausschau zu halten. Lieber hätte er sich noch länger Zeit gelassen, um jedes einzelne Haus, jeden Schornstein abzusuchen, doch die Erinnerung an seinen letzten Sonnenstich saß ihm im Nacken, und so beschloss er, seinen Weg fortzusetzen. In geduckter Haltung legte er mal in schnellem Lauf, mal im Schritttempo die Strecke bis zum Friedhof zurück, wo er sich, anders als beim letzten Mal, nicht länger aufhielt. Von dort aus rannte er weiter, mied aber den direkten Weg und schlug einen Bogen, um die Kirche so lange wie möglich zwischen sich und der Herberge zu haben. Auf der gesamten Strecke presste er den Proviantsack eng an seinen Körper und reckte den Kopf, um das Dorf keine Sekunde aus den Augen zu lassen. Als er die Kirchenmauer erreichte, hatte er einen steifen Hals und vom Nacken aus aufsteigende Kopfschmerzen. Er lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und ließ sich abwärtsgleiten. Kleine Kalkstücke bröckelten von der Mauer ab. Ein falscher Schneefall in der Wüste. Die Sonne stand über der Kirche im Zenit, und für einen Moment war er versucht, eine Weile auszuharren, bis sie weiterwanderte und das Gebäude ihm ein wenig Schatten spendete. Dort, wo er sich befand, hatte er den Eichenhain im Visier, ein weit entfernter graubrauner Farbfleck, und er musste an den Alten denken, der an einen Baumstamm gelehnt ausruhte, so wie er ihn zurückgelassen hatte. Ihn quälte die Erinnerung daran, wie der Hirte seine zerlumpte Kleidung aufgeschlagen und ihn noch einmal bewusst auf seinen geschundenen Oberkörper aufmerksam gemacht hatte, auf die Wunden und die vereiterte Narbe zwischen den Rippen. Er hatte auf einmal eine schreckliche Vorstellung, was mit dem Mann geschehen würde. Ein Gefühl, das in einem fremden Winkel seiner selbst aufkeimte und ihn mitten in dieser gottverlassenen Einöde frösteln ließ. Das zurückliegende Brachfeld ein Sinnbild der Trauer. Es trieb ihn zum Eichenhain zurück. Er löste sich von der Mauer, wollte sich schon auf den Weg machen, doch der Räucherspeck in der Herberge verhieß Aussicht auf Rettung, und das wog schwerer als die Angst, den Hirten nicht wiederzusehen.
Dicht an der Mauer entlang schlich er um die Kirche herum, ohne das Dorf und die Herberge aus den Augen zu lassen. Er erwartete kein auffälliges Lebenszeichen von Seiten des Krüppels, höchstens ein offenes Fenster oder einen rauchenden Schornstein. Sein Magen knurrte wie siedendes Gummi. Während er auf einem Aussichtsposten an der Ecke gestanden hatte, war der Schatten der Akazie vor dem Säulengang der Kirche bis zu einem Kakteengestrüpp weitergewandert. In geduckter Haltung huschte er dorthin und wartete erneut ab. Die Kakteen boten ihm die letzte Deckung vor dem Weg durch offenes Gelände. Er ging noch einmal alle seine Möglichkeiten durch, denn obwohl nichts auf die Anwesenheit des Krüppels im Dorf hindeutete, ließ ihn die Furcht vor einem erneuten Aufeinandertreffen nicht los. Um ihn herum lauter verdorrte Kohlstrünke, tote Lanzen mit holzigen Blüten. Er fuhr sich mit der flachen Hand über das Gesicht. Rieb sich Stirn und Augen. Fühlte die verkrusteten Wunden.
Lange plagten ihn Zweifel, eine zermürbende Anspannung. Vor dem freien Feld, das ihn von der Herberge trennte, wartete er vergeblich, dass seine Beine von alleine losliefen, bis ihm die Sonne, die ihm auf den Kopf prallte, unerträglich wurde. Da erst kroch er auf allen vieren aus der Deckung hervor, richtete sich auf und setzte zu einem Wettlauf ohne Zeugen an, der an den verlassenen Häusern endete.
Hinter der halbzerfallenen Lehmmauer eines Hinterhofs warf er sich zu Boden. In der kurzen Zeit ohne Schutz hatte er, halb benommen vor Panik, nichts mehr von seiner Umgebung mitbekommen. Sein Herz hämmerte so heftig, dass er den Pulsschlag bis in den Hals, die Schläfen und die Leisten spürte. Kopfschmerzen quälten ihn, und als er wieder an das Eichenwäldchen dachte, wurde ihm klar, dass das, was ihn lähmte, die Furcht war, an einen Punkt zu gelangen, von dem er nicht mehr zurück konnte. Fern von dem schattigen Platz unter den Eichen, den Fluchtwegen, die sich dort boten, den Armen des Alten. Umgeben von Feindesland ohne Soldaten, doch voller dunkler Schatten und Abgründe.
Er lehnte sich an die Lehmmauer, schüttelte den Kopf, um seine Benommenheit loszuwerden. Atmete so tief durch, wie er konnte, und plötzlich wurde sein Kopf wieder klar. Nun spürte er erneut, wie der Hunger ihn plagte, aber der Druck auf den Schläfen verschwand. Er drehte sich um und warf einen Blick in den Hof hinter einem der Häuser, dessen Dach eingestürzt war. Dort fanden sich Korbstuhlgerippe, ohne Sitz und ohne Lehne, Maschendrähte von Hühnerställen, Schuttberge aus zertrümmerten Dachziegeln und dem zerbröckelten Lehm der Backsteine. Im Haus flatterten Spinnweben in der Zugluft. Gebückt und immer hinter den Häusern entlang machte er sich weiter auf den Weg bis zum letzten Gebäude vor der Herberge. Dicht an die Wände gedrängt, wie ein Schatten von Lücke zu Lücke huschend. Schließlich flüchtete er sich in den Eingang der Herberge, wartete still ab, ob der Krüppel sich regte. Harrte so lange aus, wie er es für nötig hielt, um sicher zu sein, dass ihm im Haus niemand auflauerte. Trotz der scheinbaren Stille konnte der Krüppel sehr wohl drinnen oder unter dem Laubengang liegen und schlafen. Allein der Gedanke an die Räucherwürste brachte ihn in Versuchung, in das Haus einzubrechen. Doch es war zu riskant. Nicht unbedingt wegen des Krüppels, sondern wegen des Mannes, der ihn womöglich hergebracht hatte. Er sah seinen Verräter wieder vor sich, wie er mitten auf dem Weg gelegen hatte. Voller Blut und Geifer, die Wunde, die der Esel ihm verpasst hatte, auf der Stirn. Der Junge wischte sich mit der Hand über seine eigene, als könnte er sie dort ertasten. Dann schaute er sich nach allen Seiten um, verließ den schützenden Schatten des Eingangs und schlich sich ans rückseitige Fenster. Die Fensterläden waren geschlossen. Grün, wie vorne am Haus, jede Klappe mit einem ausgefrästen Rhombus in der Mitte. Er ging in die Hocke, zog an den unteren Leisten, um die Läden einen Spalt weit zu öffnen, und lauschte, das Ohr auf der Höhe der Fensterbank. Nach einer Weile richtete er sich auf und schob das Gesicht durch den Spalt. Die Luft roch nach feuchtem Leinen, nach Kalk und Lehm von den Wandziegeln. Einige Zeit blieb er so stehen. Die Fensterläden schützten nur noch die zerbrochenen Glasscheiben, die verschmiert in den Metallrahmen steckten. Durch den Spalt konnte er in den dunklen Raum spähen. Als Erstes erblickte er die Rhomben der Fensterläden an der Vorderseite des Hauses sowie die Punkte des einfallenden Lichts am Boden. Zunehmend an die Dunkelheit gewöhnt, konnte er allmählich auch den Tisch, den Wandschrank und die Eisenstange mit den Räucherwürsten ausmachen. Bei ihrem Anblick lief ihm das Wasser im Mund zusammen und sein Magen fühlte sich an wie in einem Schraubstock. Als hätten sein Wille oder seine Angst sich geschlagen gegeben, zog er die Läden ganz auf, stützte sich am Pfosten ab und erklomm mit einem Satz die Fensterbank. Von dort stieß er das Fenster nach innen auf, und als sich das Licht im Raum ausbreitete, hatte er nur noch Augen für die ölig perlenden Würste und die Schinken, die Fett ausschwitzten wie Destillierkolben. Er sprang von der Fensterbank ins Innere des Hauses und landete auf einer wackligen Fliese. Die Kacheln mit verblassten geometrischen Farbmustern. Doch etwas Seltsames lag in der Luft, etwas, was ihm das erste Mal, als er sich dort befunden hatte, nicht aufgefallen war. Er schaute sich flüchtig um und hatte, nachdem er nichts Verdächtiges fand, nur noch Augen für die Räucherwaren.
In drei Schritten war er bei ihnen, riss eine Paprikawurst von der Stange ab und stopfte sich den Mund mit dem roten Fleisch voll, ohne auf die würzige Schärfe zu achten oder seinen seit Tagen hungernden Magen zu schonen. Er gab sich ganz der Gier hin. Verschlang die gesamte Wurst, Bissen für Bissen, fast ohne zu kauen, wischte sich den Mund mit dem Ärmel ab und beschmierte ihn mit Fett und roter Paprikafarbe. Während er noch an einem Stück kaute, schielte er schon zu dem nächsten, um die Zähne hineinzuschlagen. Er reckte sich und schnupperte an einer Räucherwurst, die aber ranzig roch. Dann hielt er die Nase an eine Blutwurst, die ihn mit ihrem feinen, unter all den anderen Gerüchen kaum merklichen Aroma lockte. Er riss sie herunter und vernahm beim ersten herzhaften Bissen ein leises Knirschen, das er sogleich auf einen kaputten Backenzahn schob. Er tastete nach seiner Wange, verspürte aber keinen Schmerz.
Er blickte sich erneut langsam um, fühlte sich irgendwie beobachtet. Zuerst suchte er mit den Augen die helleren Stellen des Zimmers ab, dann die dunkleren. Entdeckte aber nichts. Um keinen Bereich auszulassen, legte er die Blutwurst auf den Tisch und stellte sich ins Zentrum des Lichtflecks, der vom Fenster auf den Fliesenboden fiel. Breitbeinig, die Hüften tief. In Habtachtstellung, wie ein Pferd mit angelegten Ohren. Ganz langsam drehte er sich um die eigene Achse, und da fiel es ihm ins Auge: ein Wandschrank in der Ecke des Raumes, verborgen hinter einem Vorhang. Der Stoff reichte bis knapp über den Boden, und darunter schaute etwas hervor, das aussah wie ein Ellenbogen. Er flüchtete sich kurzerhand hinter den Tisch und wartete ab, was geschehen würde. Eine ganze Zeit lang starrte er auf den Arm, ohne eine Bewegung oder ein Geräusch zu vernehmen. Erst dachte er, der Ellenbogen gehöre vielleicht dem schlafenden Krüppel, doch dann wurde ihm klar, dass kein vernünftiger Mensch an einem solchen Platz ruhen würde. Womöglich ein Betrunkener oder einer, der sich wie er für die Räucherwürste oder die Weinfässer interessierte. Immer noch hinter dem Tisch verschanzt, schaute er sich nach etwas um, mit dem er den Vorhang aus der Entfernung anheben konnte. Hinter sich fand er eine Stange mit einer Zange am Ende, wie sie der Krämer in seinem Dorf benutzte, um an die oberen Regalfächer zu gelangen. Diese schnappte er sich und trat hinter dem schützenden Tisch hervor. Etwa zwei Meter vor dem Wandschrank hielt er inne und streckte die Stange nach vorne, um den Vorhang mit der Zange zu packen. Das schwere Eisen geriet ihm aus dem Gleichgewicht und stieß gegen etwas Hartes hinter dem Stoff. Schnell zog er den Arm ein und trat einige Schritte zurück. Nichts geschah. Das Licht, das durch das offene Fenster drang, durch das er eingestiegen war, ließ weite Teile des Raumes klar hervortreten. Doch abseits des Lichtkegels, in den dunklen Winkeln, etwa dort, wo der Arm hervorschaute, lauerten ungeahnte Gefahren.
Zitternd tastete er erneut mit der Stange nach dem Vorhang. Er schob ihn seitlich auf und erkannte sofort den Kopf des Krüppels. Die eitrige Wunde auf der Stirn wie ein Brandmal. Um ihn ganz zu sehen, zerrte er weiter an der Gardine, bis die Eisenschiene, die den Vorhang hielt, aus der Halterung rutschte und zu Boden krachte. Die Staubwolken stoben auf wie Taubenschwärme, wenn Pferde vorbeiziehen, und lösten sich in der dunklen Nische auf.
Der Anblick des nackten Körpers erinnerte den Jungen an einen vollen Weinschlauch. Die haarlose Haut, die Wölbungen an den Stellen, an denen nur Knochen waren. Die bloßliegenden Narben an den Beinstümpfen wie die Nähte an den mit Wein gefüllten Tierhäuten. Er ging näher heran und stieß den Körper mit der Stiefelspitze an. Magen, Brust und Schultern – keine Reaktion. Er ging in die Knie, packte den Mann beim Kinn, rüttelte an seinem Gesicht. Zog ihm die Lider hoch, aber da waren nur zwei Augäpfel, gelb verfärbt wie altes Elfenbein, gänzlich pupillenlos. Dann trat er ein paar Schritte zurück, ließ den Mann nicht aus den Augen und rutschte, als er mit dem Rücken an die Wand stieß, an ihr hinunter auf den Boden.
Lange starrte er auf den missgestalteten Körper und fragte sich, ob er es gewesen war, der ihn umgebracht hatte. Das letzte Mal, als er ihn gesehen hatte, war ihm durchaus der Gedanke gekommen, den Mann zu töten. Aber letztendlich hatte er ihn lediglich ohnmächtig bei der Zisterne liegen lassen und damit hingenommen, dass er aufgrund seines schlechten körperlichen Zustands und der feindlichen Umgebung zu Tode kommen könnte. Er beobachtete den Brustkorb, wartete darauf, dass er sich hob und senkte, doch nichts füllte mehr seine Lungen. Er versuchte zu verstehen, was vorgefallen war. Sein Kopf beherrscht vom Gedanken an den Tod. Schon Hunderte Male war er ihm begegnet, fast immer in den Predigten des Pfarrers. Die Ägypter, zu Tausenden im Roten Meer ertrunken. Herodes, der alle Neugeborenen hatte töten lassen, oder der verblutende Jesus Christus auf dem Weg nach Golgatha. Das hier war etwas anderes, und er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte.
Eine Ewigkeit verharrte er dort in den Anblick des Leichnams vertieft. Gebannt von dessen Verstümmelungen, gelähmt von der Grausamkeit, die er sah. Er konnte keinen vernünftigen Gedanken mehr fassen. Nur wenige Minuten bei klarem Verstand hätten ausgereicht, um ihm die Hufspuren der zwei Pferde bei der Zisterne ins Gedächtnis zu rufen, an der er den Krüppel zurückgelassen hatte. Er war auch unfähig, die bläuliche Linie unter dem Kinn des Leichnams wahrzunehmen, wo sich der Strick eingeschnürt hatte. Er fragte sich nicht einmal, warum der Krüppel nackt war. Ohne zu begreifen, dass er sich in Gefahr befand, verharrte er so lange in seinem Stumpfsinn, bis er ein Kratzen an der Eingangstür vernahm.
Hastig sprang er auf und drückte sich mit dem Rücken an die Wand. Erst nach und nach erkannte er, dass es die Pfoten eines Tieres waren, die am Holz kratzten, und entspannte sich wieder. Er ging hin und öffnete die Tür einen Spalt weit. Davor stand schwanzwedelnd der Hund des Hirten, blickte treuherzig und mit heraushängender Zunge zu ihm auf. Da öffnete er die Tür ganz und begrüßte das Tier, das freudig an ihm hochsprang. Wie schon so oft hockte der Junge sich hin und nahm den Kopf des Hundes in beide Hände, um ihn unter dem Maul zu kraulen. Dabei fiel sein Blick auf die Beine eines Mannes, der auf der Steinbank vor dem Fenster saß. Er wusste sofort, um wen es sich handelte, sprang auf und wich zurück in der Absicht, die Tür zuzuschlagen.
Beinahe wäre ihm das auch geglückt, hätte sich nicht der Stiefel des Mannes in den Türspalt geschoben. Trotzdem versuchte er noch, sie gewaltsam zuzudrücken, vergeblich. Als er einsah, dass er keine Chance mehr hatte, sich zu verbarrikadieren, rannte er los, um durch das hintere Fenster zu entkommen. Vor sich die helle, viereckige Öffnung, dahinter das dämmernde Licht, und weiter entfernt die Silhouette der Kirche. Er setzte zum Sprung an, doch draußen vor dem Fenster wartete bereits der Scherge des Polizeiwachtmeisters, der um das Haus herumgelaufen war. In der Hand die doppelläufige Flinte. Der Junge bremste vor dem Fenster ab. Die Alkoholfahne des Mannes streifte sein Gesicht. Der gleiche süßliche Geruch, den er schon mehrmals bei seinem Vater nach seinem Besuch in der Dorfschenke wahrgenommen hatte. Obwohl ihm kaum Zeit blieb, dem Mann ins Gesicht zu sehen, prägte es sich auf ewig in sein Gedächtnis ein: die orangeroten Haare, der verschwitzte, graumelierte Bart, die leeren blauen Augen und ganz besonders die fettglänzende, von einem wulstigen blauen Adergeflecht durchzogene Nase.
Er drehte sich um, in der verzweifelten Hoffnung, dass sich trotz der versperrten Fluchtwege irgendwo der Boden auftäte oder die Wände neue Türen freigäben. Stattdessen blickte er unter dem baufälligen Dach der Herberge in das altbekannte lauernde Gesicht des fein gekleideten Polizeiwachtmeisters.
»Sieh mal an, wen haben wir denn da?«
Der Polizeiwachtmeister nahm den Hut ab und strich sich mit gewohnter Geste über das Haar.
»Hast du das gesehen, Rotschopf?«
Der Scherge nickte, die Ellenbogen aufs Fensterbrett gestützt, und musterte, immer noch kopfnickend, ausgiebig den ganzen Raum. Den Deckenbalken schenkte er ebenso viel Aufmerksamkeit wie dem nackten Leichnam des Krüppels. Er inspizierte alles bis in den letzten Winkel, bevor er den Polizeiwachtmeister mit einer Kinnbewegung auf die Räucherwürste hinwies. Ohne den Blick von dem Jungen abzuwenden, riss dieser eine Wurst vom Haken und warf sie dem Rotschopf zu. Er verfehlte ihn knapp, sodass das Geschoss scheppernd gegen die zerbrochene Fensterscheibe prallte und auf den Fliesenboden fiel. Der Mann beugte sich über das Fensterbrett nach innen und streckte sich, bis er die Wurst zu fassen bekam. Hob sie auf, wischte die daran haftenden Glassplitter mit dem Ärmel ab und zog, zufrieden auf dem harten Fleisch kauend, von dannen.
Auch der Polizeiwachtmeister ließ den Blick nun durch den gesamten Raum streifen, so als riefe der Ort alte Erinnerungen in ihm wach. Nachdem er sich eine Weile umgeschaut hatte, ging er zum hinteren Fenster. Mit den Füßen in den Glasscherben am Boden stand er eine Weile da und schaute auf die weite Ebene hinaus. Dann griff er, als drohte ein Unwetter, nach den Fensterläden, zog sie zu und schob den Riegel vor. Der Hund, der inzwischen hereingekommen war, lag zu Füßen des Jungen und schnupperte an der Urinpfütze, die sich am Boden gebildet hatte.
Kaum waren die Läden geschlossen, klopfte es draußen. Der Polizeiwachtmeister stieß sie wieder auf.
»Gibt es hier vielleicht irgendwas zu trinken, Chef?«
Der Scherge lehnte wieder mit aufgestützten Ellenbogen im Fenster, während der Polizeiwachtmeister den Raum durchsuchte. Neugierig musterte der Scherge den Jungen von oben bis unten, als ahnte er, was ihm blühte. Schließlich kam der Polizeiwachtmeister zurück und reichte ihm eine schwere, mit Bast umwickelte Weinflasche.
»Jetzt mach, dass du fortkommst! Stör mich nicht länger!«
Der Rothaarige warf den Korken durch die Fensteröffnung in den Raum hinein. Dann packte er die Flasche mit zwei Fingern am Korbgriff, hievte sie sich auf den Unterarm, setzte sie an den Mund und trank gierig. Der Polizeiwachtmeister sah ihn schräg von der Seite an und verzog ungehalten das Gesicht.
»Übertreib es nicht mit dem Wein! Morgen früh hast du noch eine Menge zu erledigen.«
Der Scherge ließ die Flasche sinken und grinste den Polizeiwachtmeister hämisch an. Die Augen halb geschlossen und feucht. Sein leerer Blick verlor sich irgendwo im Raum, bevor er sich laut rülpsend umdrehte und davonstapfte.
»Verdammter Säufer«, brummte der Polizeiwachtmeister, während er die Fensterläden wieder schloss, den Riegel davorschob und daran rüttelte, um zu überprüfen, ob er hielt. Dann spähte er ein letztes Mal durch eine der Rhomben hindurch, bevor er sich mit den Stiefeln in dem Haufen knirschender Glasscherben zum Raum hin umdrehte. Er musterte den vor Angst erstarrten Jungen von Kopf bis Fuß, als betrachtete er einen Leckerbissen.
»Nur keine Angst, mein Kleiner. Es wird dir nichts geschehen. Zumindest nichts Neues«, fügte er grinsend hinzu.
Gemächlich kam er quer durch den Raum auf den Jungen zu. Blieb vor ihm stehen und beugte sich zu dem Hund hinab, hob die Leine auf und führte ihn hinaus. Draußen entfernte sich der Scherge auf der Straße in Richtung Dorfausgang, in einer Hand die Flinte, in der anderen die Weinflasche. Der Polizeiwachtmeister schloss die Tür und verriegelte auch die vorderen Fensterläden, sodass der Raum völlig im Dunkeln lag. Der Junge hörte nur noch, wie der Mann sich irgendwo bewegte. Dann das Klicken des Feuerzeugs in einer Ecke, als der Polizeiwachtmeister eine lange Kerze anzündete. Er durchsuchte schließlich die gesamte Bleibe und trug alles zusammen, wonach ihm der Sinn stand. Auf dem Tisch landeten Speck, Paprikawurst, Schinken und eine Ölflasche. Einen Krug gefüllt mit Wein aus dem Fass stellte er ebenfalls auf den Tisch. Als er sich einen Blechteller und ein Glas aus dem Wandschrank nahm, schob er den Arm des toten Krüppels mit dem Stiefel beiseite.
Sobald der Tisch gedeckt war, zog er sich einen Stuhl heran und setzte sich, um zu Abend zu speisen, als sei er allein. Er schnitt die Paprikawurst fein säuberlich in Scheiben und belegte damit das trockene Brot auf seinem Teller. Immer wieder weichte er sich die harten Brotstücke mit ein paar Spritzern Öl ein.
Während der Mann genüsslich aß, stand der Junge reglos da. Die nassen Stiefel, die verdreckte Haut, der Essensgeruch, das Ende seines kühnen Wagemuts. Ohne zu weinen, nahm er die Folterqualen, die er würde ertragen müssen, als gegeben hin. Eine Hölle, durch die er schon oft gegangen war. Ihm war es egal, ob der Polizeiwachtmeister ihn gleich danach hier töten oder ins Dorf zurückbringen wollte. Sein Schicksal war längst besiegelt, und das des Hirten ebenso.
Bis der Polizeiwachtmeister sich satt gegessen hatte, war das Licht hinter den Rhomben an den Fenstern ganz verschwunden. Er schob die Essensreste mit dem Unterarm beiseite und stand auf. Griff in den Sack voller Nüsse, der an der Wand stand, und verstreute eine Handvoll auf der Tischplatte. Er knackte eine Nuss nach der anderen mit dem Taschenmesser, das er auch zum Essen benutzt hatte. Bohrte die Messerspitze von unten in den Spalt zwischen den beiden Schalenhälften und drehte sie so lange, bis die Nuss aufsprang. Löste mit seinen dicken Fingern die essbaren Teile heraus und warf sie in eine Holzschale. Die Pfütze zu den Füßen des Jungen versickerte allmählich in den Mörtelrissen zwischen den Fliesen, aber die Hosenbeine waren noch nass, und seine Waden wurden allmählich taub.
»Es ist wichtig, immer alles richtig zu machen.«
Während der Polizeiwachtmeister sprach, hielt er in jeder Hand eine Nusshälfte. Er nahm sie zwischen zwei Finger und setzte sie so zusammen, dass sie sich wie zwei Gehirnhälften zu einem perfekten Ganzen fügten.
»Du hast nicht alles richtig gemacht.«
Der Junge starrte noch immer wie versteinert vor sich hin, hypnotisiert von der Anwesenheit des Polizeiwachtmeisters und den mit ihm verbundenen Erinnerungen. Finstere Erinnerungen.
»Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst niemandem etwas sagen?«
»Ich habe keinem was gesagt.«
Der Junge hob leicht den Kopf an, seine Worte einer trotzigen Klage gleich.
»Und was ist mit dem Hirten?«
Der Polizeiwachtmeister nagte kurz an einer Nuss, warf sie dann in die Schale zurück.
»Ich weiß nicht, wen Sie meinen.«
»Den Alten, mit dem du dich die letzten Tage herumgetrieben hast. Oder willst du mir etwa weismachen, du wärest allein hierhergekommen?«
Der Junge bekam weiche Knie und brach schließlich zusammen, verzweifelt wie nie zuvor. Ängstlicher als beim ersten Mal, als sein Vater ihn in das Haus des Polizeiwachtmeisters geschleppt und ihn seiner Lüsternheit ausgeliefert hatte. Er rollte sich am Boden zusammen, und zu der Nässe, in der er lag, gesellten sich seine Tränen. Er wusste, dass das altbekannte, ewig gleiche Ritual wieder seinen Anfang nehmen würde: der Polizeiwachtmeister, der sitzend, einen Fuß aufs Knie gelegt, umständlich die Schnürsenkel seiner Stiefel aufknüpfte. Wie er sie dann akkurat einen neben dem anderen auf dem Boden abstellte. Den Stuhl zurückschob, sich erhob und das Hemd aufknöpfte. Wie er schließlich auf ihn zutrat, bis er ganz nah vor ihm stand.
»Steh auf!«
Zitternd stand der Junge auf und stellte sich vor ihn hin, das Kinn auf der Brust.
»Sieh mich an!«
Mit gekrümmtem Rücken und geballten Fäusten blieb der Junge reglos stehen.
»Ich habe gesagt, du sollst mich ansehen.«
Hatte der Junge sich bisher noch zusammenreißen können, brach er nun hemmungslos in Tränen aus. Der Polizeiwachtmeister strich ihm mit der Hand über das verklebte Haar. Streichelte ihm den Nacken und glitt ihm dann mit den Fingerrücken über die feuchten Wangen. Anschließend hob er die Finger zum Mund und leckte die mit Salz und Ruß vermischten Tränen des Jungen ab.
Mit einer Hand versuchte er das Kinn des Jungen hochzudrücken, doch der sträubte sich erneut.
»Na schön. Wie du willst.«
Er packte den Jungen an der Schulter, schob ihn zum Tisch und befahl ihm, die Hände auf die Platte zu legen. Nun schossen dem Jungen noch dickere Tränen aus den Augen, rollten ihm über die Wangen und tropften schmutzig braun in die Schale mit den Nüssen. Im flackernden Licht der Kerze warfen ihre Körper harte Schatten an Wand und Decke.
Plötzlich erlosch die Kerze, und der Mann reagierte mit einem wütenden Schnauben. Im Dunkeln wühlte er in der Ecke und ging weiter zum Wandschrank, als er nicht fand, was er suchte. Über den Krüppel hinweggreifend, riss er ein paar Stoffstreifen vom Vorhang ab und kehrte, sie mit den Fingern zusammendrehend, zum Tisch zurück. Dort goss er Öl aus dem Krug auf den Teller und legte die Stofffetzen in die Flüssigkeit. Er tränkte die Dochte mit Öl, zwirbelte die Enden noch einmal wie einen Schnurrbart hoch. Dann zog er aus seiner Jacketttasche ein Feuerzeug hervor, zündete es an und hielt die Flamme an die aufragenden Stoffenden, bis vier knisternde Flämmchen aufloderten. Als es im Raum wieder hell wurde, starrte der Junge auf die fein säuberlich neben dem Stuhl abgestellten Stiefel und das penibel gefaltete Hemd, das über der Lehne hing. Der Polizeiwachtmeister stellte sich gerade erneut hinter ihn, als es an der Tür klopfte.
»Verdammt, Rotschopf! Ich habe dir doch gesagt, du sollst mich in Frieden lassen! Was zum Teufel ist denn schon wieder?«
Der Polizeiwachtmeister drehte sich zur Tür um, während seine Stimme durch den Raum dröhnte. Leise quietschend schwang die Haustür auf, bis die Flammen des kleinen Öllämpchens im hereinwehenden Luftzug zu tanzen begannen.
Im Türrahmen tauchte die Gestalt des Hirten auf, die Flinte des Schergen in der Hand, ein erbärmlicher Anblick, mit gebeugtem Rücken, schlackernden Hosenbeinen und eingefallenem Gesicht, von Anstrengung und Elend gezeichnet. Kaum in der Lage, aufrecht zu stehen, hielt er sich am Türpfosten fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Dabei keuchte er erbärmlich.
»Verschwinde, alter Mann!«
Der Hirte hielt den Doppellauf der Flinte direkt auf den Kopf des Polizeiwachtmeisters gerichtet. Als er zum Sprechen ansetzte, verschluckte er sich und fing an zu husten. Ohne die Waffe zu senken, spuckte er einen blutigen Schleimklumpen aus und sagte dann: »Komm her zu mir, Junge.«
Der Junge rührte sich nicht, die Hand des Polizeiwachtmeisters lag auf seiner Schulter.
»Wenn du nicht sofort die Waffe senkst, alter Mann, wirst du es für den Rest deines sowieso nicht mehr langen Lebens bitter bereuen.«
»Wirf dich zu Boden und halt dir die Ohren zu, Junge!«
Die Stimme des Hirten klang entschlossen wie der Händedruck eines stolzen Mannes. Worte, hart wie Felsgestein, die eine dem Jungen unbekannte Seite des Alten offenbarten. Kaum vereinbar mit der gespenstischen Gestalt desjenigen, der sie aussprach. Er befolgte den Befehl und duckte sich langsam, sodass der Polizeiwachtmeister mit der gewölbten Hand in der Luft dastand, als hielte sie noch immer die Schulter des Jungen fest. Wie gelähmt, nicht etwa vor Angst, sondern vor Verwunderung.
»Du hast nicht den Mumm, Ziegenhirt.«
»Sieh nicht hin, Junge.«
Ein Knall, berstend und allumfassend, drang vom anderen Ende eines langen Tunnels an sein Ohr. Dann ein Brummen im Schädel und eine Taubheit, die noch tagelang andauern sollte. Scharenweise flüchteten die Tauben, die mit ihren Exkrementen die Häuser verseuchten, durch die kaputten Dächer und flatterten wild durcheinander in alle Richtungen davon. Der Junge spürte, wie der Polizeiwachtmeister zusammenbrach, wie ihn der Luftzug des fallenden Körpers streifte. Die Erschütterung der Fliesen beim Aufprall. Das Geräusch des aufschlagenden Kopfes. Dann nichts mehr.
Als der Junge schließlich die Augen öffnete, stand der Hirte auf den Tisch gestützt mitten im Raum. Der Junge wusste nicht, wie lange er die Augen geschlossen hatte. Blut tropfte ihm aus den Ohren. Die Flinte qualmte noch, eine schwefelige Wolke, die sich zwischen den Deckenbalken verzog. Neben sich fühlte er das Gewicht des leblosen Bündels verrenkter Knochen und Muskeln. Die letzte Wärme des an ihn gedrängten Körpers. Dann die Stimme des Hirten, die, ähnlich wie in seinen Träumen, aus den Tiefen eines entfernten Ortes aufstieg. Ein Schrei, der sich durch seine Gehörgänge Bahn brach. Lauter und lauter.
»Sieh mich an, Junge! Sieh mich an!«
Der Junge schaute auf, drehte den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme des Alten ertönte, und traf auf seine strengen Augen. Starre Pupillen, die ihn fixierten, um ihm den Anblick des zerplatzten Schädels neben ihm zu ersparen. Der Hirte hob den Zeigefinger und wies auf seine Augen.
»Sieh – mich – an!«, sagte er mit übertriebener Mimik. »Sieh – mich – an!«, wiederholte er und winkte ihn mit der anderen Hand zu sich.
Der Junge robbte bis vor die Füße des Hirten und zog sich, immer mit dem Rücken zum Polizeiwachtmeister, am Tisch hoch. Der Alte nahm sein Gesicht in beide Hände, legte ihm seine Arme um den Kopf und drückte ihn an seinen lädierten Körper. Der Junge fing an zu zittern, als sei ihm kalt. Reglos starrte er vor sich hin. Der Hund steckte den Kopf durch die Tür herein.
»Machen wir, dass wir fortkommen!«
Immer noch benommen hob der Junge den Arm des Hirten an und schob seine Schultern darunter, um ihn hinauszubegleiten. Als beim Hinausgehen sein Blick auf die Schale voller Nüsse fiel, ließ er plötzlich den Hirten los. Die geballten Fäuste auf die Tischplatte gestützt, stand er da und starrte auf die Schale. Der Ziegenhirt beobachtete ihn schweigend. Auf einmal senkte der Junge den Kopf, als gäben seine Halsmuskeln nach, und er brach in jämmerliches Schluchzen aus, rang immer wieder keuchend nach Atem. Eine Zeit lang ließ ihn der Hirte weinen, schließlich legte er ihm die Hand auf den Hinterkopf und führte ihn zur Tür. Gemeinsam traten sie in die friedliche, laue Nacht hinaus, die Tränen des Jungen am dreckigen Ärmel abgewischt. Sie trotteten quer über den kleinen Platz bis zum Brunnen. Der Alte mit schlurfenden Füßen, der Junge unter der Bürde eines Mannes, der sich kaum auf den Beinen halten konnte. Als sie ihr Ziel erreichten, half der Junge dem Hirten, sich am Brunnenrand niederzulassen. Der Mond war noch nicht aufgegangen, sodass die Sicht kaum weiter als fünfzehn, zwanzig Meter reichte. Nur von der brennenden Ölschale des Polizeiwachtmeisters drang noch ein blassgelber Lichtschimmer durch die offene Herbergstür nach draußen. Der Junge kauerte sich neben dem Hirten nieder, und so verharrten sie still, bis sie aneinandergelehnt in den Schlaf fielen.
Zitternd erwachte der Junge. Lange hatte er, an die ausgemergelte Schulter des Alten gelehnt, unverständliche Wörter vor sich hin gemurmelt. Irgendwann war sein Körper wie ganz von allein hochgeschreckt und sein Kopf dem Hirten in den Schoß gesunken. Erschöpft richtete er sich nun auf. Er schaute den Alten an, der neben ihm saß, den Rücken an den warmen Stein des Brunnenrands gelehnt.
»Ich hatte einen Alptraum.«
Der Alte lauschte ihm aufmerksam.
»Der Rothaarige wollte mich verbrennen.«
»Er wird dir nichts mehr tun.«
»Was haben Sie mit ihm gemacht?«
»Das Gleiche wie mit seinem Anführer.«
Der Junge fasste sich an die Ohren, die ein vibrierender Pfeifton quer durchs Gehirn miteinander verband. Er suchte die Umgebung ab, sah aber nichts als blinkende Sterne am Himmel und den von einem milchigen Hof umgebenen Mond. Kein Lebenszeichen, weder in der Herberge noch in ihrer Umgebung.
»Mach dir um ihn keine Sorgen. Wir müssen trotzdem so rasch wie möglich von hier verschwinden.«
»Brechen wir nach Norden auf?«
»Ja.«
»Und was tun wir, wenn wir ankommen?«
»Das ist noch lange hin.«
»Ich geh den Esel holen.«
»Du hast noch was vergessen.«
Der Junge überlegte einen Moment.
»Die Ziegen, Junge. Sie sind alles, was wir haben.«
Gemeinsam mit dem Hund lief er zurück nach Süden. Aus einem der verlassenen Häuser kam eine Katze hervor und huschte lautlos vor ihnen quer über die Straße. Kurz blieb sie stehen und starrte ihn an, dann verschwand sie unter einer halb ausgehängten Tür.
Am Dorfeingang fand er, wie der Hirte gesagt hatte, den an ein Gitter angebundenen Esel und ein Stückchen weiter das Motorrad des Polizeiwachtmeisters. Er streichelte dem Esel über den Kopf und spürte seine kantigen Schädelknochen. Dann band er ihn los und verließ das Dorf in Richtung Eichenhain.
Auf dem Weg hangaufwärts wusste er kaum einzuschätzen, wie viel Zeit bis zum Morgen blieb, doch ihm war klar, dass er sich beeilen musste. Er gab dem Esel ein paar Klapse auf die Kruppe. Kurz bevor sie das Eichenwäldchen erreichten, eilte der Hund voraus, und als der Junge beim Pferch ankam, liefen die Ziegen bereits aufgeregt durcheinander, während der Hund um das Gehege kreiste. Er öffnete die Umzäunung, und sofort drängten die Ziegen heraus und verstreuten sich in der Umgebung. Der Junge sattelte den Esel und bepackte ihn mit der Habe des Alten und den leeren Wasserflaschen.
Eilig begaben sie sich wieder hinunter ins Dorf, und als sie dort ankamen, galt sein Augenmerk allein dem Motorrad des Polizeiwachtmeisters. Vorsichtig ging er hin. Er betrachtete die ausladenden Formen des Gefährts. Den breiten Lenker, die robuste Gabel und das runde Nummernschild auf dem vorderen Schutzblech, wie eine Galionsfigur. Den geschwungenen Beiwagen, den Einstieg, die Karosserie, in der er so oft unter der Decke versteckt mitgefahren war. Er strich mit der Hand über die Schnauze, über den Windschutz, als streichelte er ein Pferd. Über den Innenraum gebeugt, inspizierte er die Sitzbank, die Decke mit dem wächsernen Rand. Dann wich er zurück, packte den Halfterstrick des Esels und machte sich so schnell wie möglich davon.
Als er beim Brunnen ankam, hatte der Alte sich nicht von der Stelle gerührt. Der Junge ging zu ihm, um sich zurückzumelden und seinen nächsten Auftrag entgegenzunehmen.
»Gib den Ziegen zu trinken!«
Der Junge lud die Flaschen ab, goss Wasser in eine Büchse und setzte sie dem Hirten an den Mund. Der Mann schlürfte die schlammige Flüssigkeit und blickte fordernd zum Jungen auf.
»Ich geh schon.«
Der Junge lud die Büchse ab, füllte sie mit Wasser für die Tiere und kauerte sich, als alle getrunken hatten, wieder neben den Hirten.
»Jetzt such so viele Lebensmittel zusammen, wie du kannst, und füll die Flaschen mit Wasser auf.«
»Ich will das Haus nicht mehr betreten.«
»Willst du lieber verhungern?«
»Ich kann nicht. Dieser Mann …«
»Er wird dir nichts mehr tun.«
»Ich hab Angst.«
»Sieh nicht zu ihm hin.«
Auf der Steinbank vor der Herberge fand der Junge die Peitsche des Polizeiwachtmeisters. Er nahm sie an sich und fuchtelte damit in der Luft herum wie mit einer Fliegenklatsche. Er fühlte das abgenutzte Leder am Griff und die durch den häufigen Gebrauch eingedrückten Nahtstreifen. An der Spitze eine dreieckige Lasche, deren Abdruck er auf dem Rücken des Hirten gesehen hatte.
Mit der Peitsche in der Hand spähte er durch die dunkle Türöffnung in den Raum hinein. Aus der Düsternis schlug ihm der gewohnte Duft nach Geräuchertem entgegen, doch darunter mischte sich ein anderer, unangenehmer Geruch. Er schob den Kopf weiter in die Dunkelheit vor, und obwohl er nichts sah, spürte er die Grausamkeit dessen, was sich dort ereignet hatte. Den Pesthauch unaussprechlicher Sünden. Sein Magen krampfte sich zusammen, und beinahe hätte er sich übergeben. Er atmete tief durch, schüttelte den Kopf und betrat den Innenraum. Mit der Peitsche als einzige Verteidigung tastete er sich an den Wänden entlang. Ließ die Füße über den Boden schleifen, um nirgendwo draufzutreten, bis er zu der Stelle kam, an der die Räucherwaren hingen. Er nahm das noch verbliebene halbe Dutzend Würste an sich, hängte sie sich über den Arm und eilte wieder hinaus.
Er führte den bepackten Esel vor den Hauseingang, band ihn an dem Eisenring fest und lief so lange hin und her, bis er die Körbe mit Wurstwaren, Mehl, Salz, Bohnen und Kaffee vollgestopft hatte. Als nichts mehr hineinpasste, kehrte er mit dem Esel zum Brunnen zurück. Dort band er ihn am Galgen fest und schöpfte Wasser, um es vorsichtig in die engen Flaschenöffnungen zu gießen. Dabei verschüttete er eine Menge über das Füllstroh und die Flanken des Esels, der sich ab und zu mit dem Kopf die betroffenen Stellen rieb. Darunter balgten sich Hund und Ziegen um das von den Körben tropfende Nass.
Während der gesamten Prozedur hockte der Ziegenhirt reglos mit hängendem Kopf am Brunnenrand. Als das Gepäck mit dem Gurt festgezurrt war, breitete der Junge die Decke darüber aus, damit der Alte bequem saß. Dann hockte er sich vor den Hirten nieder.
»Ich habe den Esel bepackt. Wir können los.«
Der Hirte sagte nichts, zeigte keinerlei Regung, weshalb der Junge schon fürchtete, er sei tot. Er beugte sich mit dem Ohr über seinen Mund und lauschte. Doch nichts war zu hören. Erschrocken tastete er nach dem schlaff herabhängenden Arm des Alten, rief »Señor«. Der Hirte zuckte leicht zusammen, fiel gegen die Brunnenwand und hob mit schleppender Langsamkeit den schmutzverkrusteten Kopf. Seine Augen öffneten sich wie alte, abgegriffene Münzen, ohne jeglichen Glanz. Er murmelte etwas vor sich hin. Der Junge beugte sich zu ihm hinunter.
»Ich verstehe Sie nicht.«
»Du musst die Leichen begraben.«
»Wie bitte?«
»Begrab die Leichen!«
Der Junge richtete sich auf und ließ den Blick umherschweifen. Das Dorf in dunkle Schatten gehüllt, nichts als verfallene Mauern. In der Ferne, wie gewohnt, der Himmel. Luftringend warf er den Kopf in den Nacken. Er fühlte sich am Ende seiner Kräfte und sehnte sich nur noch zurück in sein staubiges Erdloch, die warme, feuchte Kuhle, in der er sich die erste Nacht seiner Flucht zusammengerollt hatte. Die Urhöhle, aus Lehm. Für die Sonne unerreichbar und von Wurzeln durchzogen, die das Erdreich bei Wasser und Wind festhielten. Er betrachtete seine zitternden Hände und atmete tief durch. Der bepackte Esel, zum Aufbruch bereit, daneben der Alte, der nun erneut etwas von ihm verlangte, was ihm widerstrebte. Die Bastarde zu beerdigen, ihnen eine vor Raubtieren geschützte Ruhestätte zu suchen, in der sie bis zum Jüngsten Tag ausharren konnten.
»Das schaffe ich nicht allein.«
»Musst du aber.«
»Es gibt weder Hacke noch Schaufel.«
»Wenn du sie nicht begräbst, werden sie von den Vögeln gefressen.«
»Ist das jetzt noch wichtig?«
»Ja, es ist wichtig.«
»Sie haben das nicht verdient.«
»Gerade deshalb musst du es tun.«
Sie vereinbarten schließlich, die Leichen zwar nicht zu vergraben, sie aber zumindest vor Hunden und Raben in Sicherheit zu bringen. Der Hirte erklärte dem Jungen, wo der tote Scherge lag und was er tun müsse.
»Geh in die Herberge und bring den Sack mit den Nüssen her. Sieh nicht zum Polizeiwachtmeister hin.«
Auf Anweisung des Alten trug der Junge den Sack aus der Herberge zum Esel, löste die Kordel, mit der er zugebunden war, und kippte einen Teil des Inhalts in die Körbe. Die meisten Nüsse rutschten in die verbliebenen Lücken zwischen den Vorräten, dem Hausrat und den Flaschen. In einer Hand den Leinensack, in der anderen das Ende des Halfterstricks, machte der Junge sich mit dem Esel auf den Weg zum toten Schergen. Er fand den Mann ausgestreckt auf einer Steinbank hinter einem der Häuser.
Die Weinflasche aus der Herberge lag umgekippt auf dem Boden, und das Pferd des Schergen war an den Pfeiler eines vertrockneten Laubengangs angebunden. Es tänzelte nervös, als es die Ankömmlinge bemerkte. Der Junge näherte sich ihm und streichelte seine Flanken, um es zu beruhigen. Er dachte, es habe Durst. Band es los und wollte es zum Brunnen führen. Doch das Pferd scheute und galoppierte in südlicher Richtung davon. Er sah noch, wie es am Hang zum Eichenwäldchen verschwand, und bedauerte seine Flucht, denn ein Pferd wie dieses hätten sie gut gebrauchen können.
Das Mondlicht drang kaum zu dem Leichnam vor, weshalb der Junge den Körper nur in groben Umrissen erkannte. Der Alte hatte ihm erzählt, er habe ihm einen Schlag auf den Hinterkopf versetzt. »Du hast nichts mehr zu befürchten«, hatte er gesagt, doch nun, da er vor dem Toten stand, fühlte er sich kaum noch in der Lage, das zu tun, was der Hirte ihm aufgetragen hatte. Er malte sich aus, wie der Hirte plötzlich mit einem schweren Stein in der Hand aus dem Dunkel hervorgetreten war.
Der Alte hatte ihm nicht erzählt, dass der Scherge wach gewesen war, als er auf ihn gestoßen war. Dass er betrunken durch den staubigen Hinterhof getorkelt war, singend und betend, mit geschwollener Zunge. Hatte ihm auch verschwiegen, was der Scherge ihm in seiner Trunkenheit gebeichtet hatte: das mit dem Motorrad, den Jagdtrophäen, dem Vater, der alten schmutzigen Decke, dem Silo, den Abgaben, dem Dobermann, dem Jungen.
Er hatte für sich behalten, wie er den Schergen, nachdem er ihm zugehört hatte, zur Bank begleitet und ihm geholfen hatte, sich auf dem harten Stein auszustrecken. Nicht ein Wort von dem, was dann geschehen war, dem gewaltigen Strudel aus Hass und Wut und der anschließenden Vergeltung.
Der Alte hatte ihm nur gesagt, er solle dem Schergen den Sack wie eine Kapuze über den Kopf ziehen und um den Hals zubinden, bevor er ihn zur Herberge zurückschleppte.
»Sieh dem Mann nicht ins Gesicht! Das macht dich nur krank.«
Es fiel dem Jungen schwer, sich dem Leichnam zu nähern und alle Kräfte zu sammeln, um ihm den Sack überzustülpen. Das Gesicht zur Nacht hin abgewandt, tastete er sich an der leblosen Brust des Mannes entlang bis zum Kopf vor. Als er einmal in die Nässe auf dem Hemd fasste, schnellte seine Hand zurück. Ohne hinzuschauen, rollte er den Sack dann auf, legte ihn auf das Gesicht des Toten und zog ihn so weit über den Kopf, bis er an den Stein stieß, auf dem der Körper lag. Daraufhin zog er den Stoff hinten über den Nacken, sodass der Kopf ganz verhüllt war, und band ihn um den Hals des Mannes fest. Erst als er glaubte, die Kapuze könne nicht mehr verrutschen, zerrte er an dem Körper, bis dieser auf den Boden fiel. Auf dem Stein blieben schwarze Blutkrusten, eitrige Gehirnmasse und von Blutgerinnseln übersäte Kopfhautfetzen zurück.
Er band dem Schergen ein Seil um die Fußgelenke und knüpfte es am Halfterstrick fest, so wie der Alte es ihm erklärt hatte. Sie brauchten eine Ewigkeit bis zur Herberge. Den Esel kostete es große Mühe, mit seiner Last rückwärtszulaufen. Als sie endlich eintrafen, versuchte der Junge, den Esel mit dem Hinterteil durch die Tür ins Haus zu schieben, doch das Tier sträubte sich gegen die gähnende Dunkelheit, die sich hinter ihm auftat. So blieb dem Jungen nichts anderes übrig, als den Schergen loszubinden und selbst zu versuchen, ihn über die Schwelle ins Hausinnere zu ziehen. Er packte ihn an den Hosenbeinen und zog mit all seiner Kraft, ohne ihn auch nur einen Zentimeter vom Fleck zu bekommen. Immer wieder versuchte er es, verausgabte sich bis zur vollkommenen Erschöpfung, ohne dass der schwere Körper sich rührte.
Noch war kein Morgengrauen zu sehen, doch er schätzte, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis die Sonne aufging. Er fühlte sich nicht in der Lage, den Leichnam allein von der Stelle zu bewegen. Einen Moment lang dachte er, der Mann könne ruhig dort liegenbleiben. Er schaute hinüber zum Brunnen. Der Hirte regte sich nicht, daneben lag der Hund, und die Ziegen waren im weiteren Umkreis verstreut. Ihm kam eine Idee.
Er lief zum Brunnenrand, ließ mehrmals den Topf hinab und gab den Tieren zu trinken. Dann kletterte er auf die Steinmauer und montierte die Winde ab, unter deren Gewicht er beinahe in den Brunnenschacht gestürzt wäre.
Wieder im Haus legte er die Winde auf den Tisch. Tastete sich bis zu den Schränken vor, in der Hoffnung, ein langes Seil zu finden. Als nur noch der Wandschrank zu durchsuchen war, stockte er kurz. In der Totenstille des Raumes hörte er sich selbst atmen. Er nahm seinen Mut zusammen und schlich sich an dem toten Polizeiwachtmeister vorbei. Auf halber Strecke rutschte er in der schon angetrockneten Blutlache auf den Fliesen aus. Die restliche Distanz bis zum Wandschrank schlurfte er mit den Stiefeln über den Boden, um den an den Sohlen haftenden Blutbelag loszuwerden. Umgeben vom Verwesungsgeruch des Krüppels, tastete er sich an den Innenwänden des Vorratsschranks entlang. Stieß auf Knoblauchzöpfe und weiter hinten auf Werkzeuggriffe und schließlich auf ein längeres, aufgewickeltes Hanfseil.
Am Fuß der Säule hingen noch immer die Fesseln von seiner Gefangenschaft. An der Handschelle hakte er die Winde fest und führte das Seil hindurch. Beide Enden des Seils in Händen haltend, ging er zurück zum toten Schergen und band ein Ende um dessen Fußfessel. Anschließend zog er so lange an dem anderen Ende des Flaschenzugs, bis die Stiefel des Toten parallel lagen, als schlüge er die Hacken zusammen. Sobald er jedoch stärker zu ziehen begann, verlor der Junge das Gleichgewicht. Also stemmte er die Füße zu beiden Seiten an die Türpfosten und begann mit seinem ganzen Körpergewicht am Seil zu reißen. Der Leichnam bewegte sich nicht viel, aber er bewegte sich. Nach einer Weile hatte er den Schergen immerhin so weit in den Raum geschafft, dass er die Tür zubekam.
Was der Junge dann tat, hatte der Hirte ihm nicht aufgetragen. Er näherte sich dem Polizeiwachtmeister und tastete mit geschlossenen Augen sein Jackett ab. Aus der Innentasche wühlte er das versilberte Feuerzeug hervor und verstaute es in der Brusttasche seines Hemdes. Dann kippte er einen Ölkanister aus dem Wandschrank über den Leichen aus. Durchtränkte ihre Kleidung, bis sie vollgesogen war und der Rest sich über die gemusterten Bodenfliesen ergoss. Anschließend häufte er von der Decke herabgefallene Rohrputzbrocken und einige zerbrochene Holzkisten auf die Körper. Obendrauf schichtete er die aufgelesenen Überreste des Korbstuhls, den er vor seiner Flucht zertrümmert hatte. Zum Schluss umwickelte er eines der Stuhlbeine mit Sackleinenfetzen und Putzwolle und band diese mit einem Stück Hanfseil fest. Draußen dämmerte allmählich der Morgen.
Mit einer Holzkiste in Händen kehrte der Junge zum Brunnen zurück und ließ sich neben dem Hirten nieder.
»Wir können los.«
»Sind die Leichen in Sicherheit?«
Der Junge blickte hinüber zur Herberge auf die gekalkte Hauswand, die in den rötlichen Schein der aufgehenden Sonne getaucht war.
»Ich denke ja.«
»Das Tor zur Hölle steht ihnen schon offen.«
»Ja.«
Er setzte dem Alten den Strohhut auf den Kopf und zog ihn von den Steinen hoch. Der Hirte konnte sich kaum aufrechthalten. Die Hose schlackerte mehr denn je. Das Jackett hing in Fetzen an dem lädierten Körper. Dem Jungen war bis zu diesem Moment nicht aufgefallen, wie schrecklich abgemagert der alte Mann war. Er half ihm, sich auf den Brunnenrand zu setzen, und schob ihm die Holzkiste unter die Füße, sodass er darauf zu stehen kam. Dann ging er los den Esel holen und führte ihn quer vor den Hirten hin. Von seinem Podest aus hingen die Tragekörbe dem Hirten etwa auf Magenhöhe. Der Junge half ihm, sich bäuchlings über den Packsattel zu legen. An Beinen und Armen zerrend, schaffte er es, dass der Alte schließlich im Sattel saß, die Beine zwischen den Tragekörben festgeklemmt.
Noch ein letztes Mal kehrte der Junge zur Herberge zurück. Inzwischen war es auf der Straße hell geworden, doch bis die Sonne in die Herberge eindringen würde, war es noch ein paar Stunden hin. Er schnappte sich die aus Putzwolle gebastelte Fackel und ließ den Blick noch einmal durch den schummerigen Raum schweifen, ohne viel zu erkennen. Etwas Drückendes hing im Raum, der Geruch nach zernagtem Holz, angefressenen Maiskörnern und Mäusekot. Vermischt mit dem Verwesungsgestank des toten Krüppels, der sich bereits zu zersetzen begann, und trotz der Plünderung auch noch ein Hauch von dem würzigen Aroma der Räucherwaren. Er griff nach dem Türknauf, um die Haustür mehrere Male fest hinter sich zuzuziehen, doch vergeblich. Sie klemmte. Die Hand des Schergen ragte noch über der Schwelle nach draußen. Mit der Stiefelspitze schob er sie hinein und knallte die Tür dann kräftig zu, bis das Schloss endlich einrastete.
Er holte das Feuerzeug aus seiner Hemdentasche hervor und zündete es an. Die bläuliche Flamme beleuchtete sein schmutziges Gesicht. Hätte er sich im Spiegel sehen können, wären ihm die Tränen gekommen. Er hielt die Flamme an die Fackel und blies darauf, bis sie aufloderte. Dann senkte er den Fackelkopf zu Boden und drehte den Griff langsam, bis das ganze Sackleinen Feuer fing. Er ging zum Fenster, zog eine Klappe der Läden auf, warf den Stab auf den drinnen aufgeschichteten Scheiterhaufen und wartete ab. Zunächst passierte nichts, und er fürchtete schon, die Fackel könnte erloschen sein, bevor das Brennmaterial zündete. Doch nach ein paar Minuten fing das trockene Strohgeflecht der Stuhlsitzfläche Feuer, und der Rest ergab sich von allein. Er ließ die Fensterklappe offen stehen und kehrte wieder zu dem Hirten und den Tieren zurück. Den Esel am Halfterstrick verließen sie das Dorf gen Norden. Als sie Kurs auf die Berge nahmen, war die Sonne bereits voll aufgegangen.