3

Den restlichen Vormittag vertrieb sich der Junge im spärlichen Schatten eines verdorrten Mandelbaums. Ein einsames Exemplar, das auf einem alten Grenzrain stand, den man beim letzten Pflügen zu beiden Seiten aufgeschüttet hatte. Von dort aus überblickte er das gesamte Umland, sodass er sich, sollten seine Häscher anrücken, geschwind verstecken oder entlang des Grenzrains robben und entkommen konnte. Wenige Meter von seinem Platz entfernt, schlängelte sich der Weg, der ihn hergeführt hatte, den Hang abwärts weiter gen Norden.

Während er hier saß, hatte er den Weg schon Dutzende Male mit dem Blick verfolgt. Zuerst ein einsamer Olivenhain zur Rechten, dann eine abfallende Kurve um einen Hügel herum, auf dessen Spitze eine Palme emporragte. Und weiter hinten etwas, das aussah wie ein Feigenbaum. Dahinter tauchte der Weg immer wieder in den sanften Hängen des Geländes ab und verlor sich schließlich hinter der letzten Erhöhung drei oder vier Kilometer weiter in nördlicher Richtung.

Er besann sich noch einmal auf seine Begegnung mit dem Ziegenhirten. Dachte daran, wie der Hund an seiner Hand geschnuppert und der Mann mit gekrümmtem Rücken dagesessen und geraucht hatte.

Mittags rann ihm ein Schweißtropfen über die Stirn und fiel auf seine Hose, wo er auf dem Stoff sofort verpuffte. Er zog das Hemd aus, breitete es vor sich hin und kippte den Inhalt seines Proviantbeutels darauf. Seine Habseligkeiten trennte er von der Verpflegung, die ihm der Hirte abgegeben hatte: drei Streifen getrocknetes Ziegenfleisch, straff wie die Streichriemen der Barbiere, eine Käseschwarte zum Abnagen und eine leere Viertelliterbüchse. »Die wird dir nützen«, hatte der Alte am Morgen gesagt, als er sie ihm vor die Füße geworfen hatte.

»Die wird dir nützen«, wiederholte er dort im brütenden Schatten. Warum hatte er ihm nicht gleich Wasser gegeben? Strotzte die Region etwa so vor Wasserstellen, dass er annahm, selbst ein Kind wie er würde sie finden? War es eine Einladung, sich wiederzusehen? Sollte er beim nächsten Treffen Milch daraus trinken?

Durst.

Als die Sonne am höchsten stand, verstaute er alles wieder in seinem Sack, zog das Hemd über und machte sich auf den Weg. Er marschierte bis zur nächsten Kehre, scherte dann aus und stieg den Hang hinauf, bis er eine Palme erreichte. Der Stamm war löcherig, und an seiner Krone baumelte ein Büschel toter Zweige. Exakt in der Mitte des Schattenflecks, den die Krone warf, ragte der Stamm empor. Er streifte den Proviantsack ab und reinigte ein Fleckchen am Boden von Blättern und Steinen. Wie schon zuvor schlüpfte er aus dem Hemd und breitete es wie ein Tischtuch auf dem gesäuberten Terrain aus. Dann kramte er die Lebensmittel aus seinem Proviantsack hervor, verteilte sie auf dem Stoff und setzte sich, um zu essen. Beim Abnagen der Schwarte bemühte er sich, nicht daran zu denken, dass er kein Wasser hatte. Doch der ranzige, schwitzende Käse überzog seinen Gaumen mit einem Film, der ihm keine Ruhe ließ, ein säuerlicher Belag, den man nur mit Wasser loswurde. Er leckte sich den Gaumen mit der Zungenspitze und stand auf. In der Nähe des Baumes stieß er auf die Reste eines verfallenen Backsteingebäudes. Erosion, Sonne und Wind hatten seine Mauern in einen Haufen Ziegelschutt verwandelt, der sich über den Boden ergoss. Er erkannte die rechteckigen Grundrisse einer Wohnfläche mit einem einzigen Aufenthaltsraum, so wie es in der Provinz üblich war, und musste an sein Elternhaus am Rande des Heimatdorfes denken.

Allein unter der Sonne musterte er nun diesen um zwei Handbreit erhöhten Bezirk. Mit seinen stumpfen Rändern, wie ein Krater mit vier Ecken. Eine erklomm er und erforschte die Gegend nach Hinweisen, die auf die Nähe seiner Häscher oder einer anderen Person schließen ließen. In sanften Hügeln dehnte sich die Landschaft in alle Richtungen aus, und wohin er blickte, wurde die Sicht vom Flimmern über dem aufgeheizten Boden verzerrt.

Er durchsuchte die unmittelbare Umgebung der Ruine nach Resten eines alten Brunnens. Wer immer das Haus erbaut haben mochte, hatte dies vermutlich auf einer unterirdischen Quelle oder Wasserader getan. Unwillkürlich erweiterte er den Radius seiner Erkundungen, den Blick fest auf den Boden geheftet, bis er bei dem Feigenbaum landete, den er schon beim Rasten unter dem Mandelbaum erspäht hatte. Es wunderte ihn, dass er zu dieser Jahreszeit noch immer grüne Blätter trug und nicht nach versengtem Gras roch. Der Gedanke an den süßen Duft von Feigen betörte ihn, und unbewusst versank er in wohligen Erinnerungen an einen Sommerabend, als er unter dem Feigenbaum vor dem Bahnhof gespielt hatte, zwischen zarten Zweigen verborgen, die vor prallen Feigenfrüchten strotzten. Er hatte sich berauscht am warmen Fruchtfleisch, üppig und butterweich. An den reifen Farben, der hauchdünnen Schale, die in der sommerlichen Glut kaum bis zur ersten zarten Berührung unversehrt blieb.

Er gönnte sich eine kurze Pause im duftenden Schatten und setzte dann seine Suche fort. Hinter dem Feigenbaum stieß er auf ein am Boden liegendes Stahlgerüst. Verrostete, mit Nieten verbundene Winkeleisen, an deren Ende sich Bügel befanden, die einst wohl hölzerne Drehflügel gehalten hatten. Das Ganze sah aus wie eine Schöpfmühle. Als er mit der Fußspitze die Konsistenz seines Fundes überprüfen wollte, fiel die Konstruktion auseinander. Zunächst wunderte es ihn, dass er diese Überreste nicht schon von dem Mandelbaum aus entdeckt hatte, doch was ihn bei näherer Betrachtung des zerfallenen Haufens von Zunder und Eisenschlacke noch mehr erstaunte, war, dass jemand eine so niedrige Mühle errichtet hatte. Er dachte, wenn sie nur wenige Meter länger gewesen wäre, hätte sie vielleicht höhere Luftschichten erreicht und folglich eine ganz andere Drehgeschwindigkeit, um effizienter für den Bauern und seine Familie zu arbeiten. Womöglich hätte dieser dann gar nicht fortgehen müssen und das, was jetzt nur noch ein verschwindend kleiner Haufen zerfallener Ziegelsteine war, hätte noch sein Zuhause sein können. Er fragte sich, wie der Bewohner etwas so Selbstverständliches nicht bedacht haben konnte, und seine erste Vermutung war, dass er nicht mehr Eisenmaterial zur Verfügung gehabt hatte. Aber warum war er dann nicht auf Holz ausgewichen? Was für ein Mensch würde sich mit einer derart geringen Vorstellungsgabe an einem Ort wie diesem niederlassen? Nach dem Zustand der Konstruktion zu urteilen, kam seine Lösung viele Jahre zu spät, und wer hätte schon einen Jungen nach den Maßen einer Mühle befragt?

Seine am Gaumen klebende Zunge rief ihn in die Wirklichkeit zurück. Die Suche nach Wasser hatte ihn hergeführt. Am Fuße der Stelle, an der der Metallturm gestanden haben musste, wucherte das wilde Gestrüpp eines toten Feigenbaums zwischen den Streben eines Eisengitters hervor. Aufgrund der üppig ineinander verfilzten Zweige schloss er, dass es früher einmal reichlich Wasser unterhalb der Wurzeln gegeben haben musste. Derbe Ranken, die wulstig durch die Löcher des Gitterwerks hervorquollen und miteinander verwuchsen. Zentimeter für Zentimeter inspizierte er das Gestrüpp, bis er auf einen Spalt zwischen den Eisenstreben stieß, den die Ranken noch nicht besiedelt hatten. Er versuchte, durch das Loch zu spähen, konnte jedoch im Dunkel auf der anderen Seite nichts erkennen. Aus der Öffnung schlug ihm ein frischer, feuchter Luftzug entgegen. Hatte der Hirte ihn vielleicht hierherlenken wollen, als er ihm die Blechbüchse überließ? Er dachte, vielleicht habe er trotz allem Glück gehabt.

Er suchte nach einem Kieselstein, der durch das Loch passte, und ließ ihn fallen. Es dauerte nicht lange, bis der Stein auf dem Grund aufschlug, doch der Junge, versunken in einem Traum vom Rauschen frischen, klaren Wassers, bemerkte es erst lange, nachdem der Stein aufgeprallt war. Er warf noch ein Steinchen, und diesmal blieb er mit allen fünf Sinnen bei der Sache und wartete ab. Vom Grund ertönte ein dumpfer Schlag. Kein Platschen oder aufspritzendes Wasser als Anzeichen für einen vollen Brunnen. Auch kein Steineklirren, weshalb er folgerte, dass sich am Grund des Schachts bestenfalls noch ein breiiger Morast befand, Überbleibsel eines versickernden unterirdischen Wasserlaufs.

Ermattet kehrte er zur Palme zurück. Der Schatten der hohen Krone fiel nicht mehr auf das Hemd. Das von der Käseschwarte ausgeschwitzte Fett bildete auf dem Stoff einen Fleck, der an den Rändern auslief wie ein Korallenriff. Die Blechbüchse glühte, und nur die Trockenfleischstreifen schienen durch die erbarmungslose Hitze keinen Schaden genommen zu haben. Er verstaute die Lebensmittel in seinem Proviantsack, zog sich das Hemd über und machte sich bereit, im spärlichen Schatten auszuharren, bis der Nachmittag etwas Linderung brachte.

Die Stunden verstrichen schleppend, und wenngleich er hungrig war, rührte er seine Vorräte nicht an, wohl wissend, dass er vom Essen noch mehr Durst bekommen würde. Immer wieder kam ihm die Regentonne daheim in den Sinn. Darin fingen sie das Regenwasser auf, das sich an Tagen, an denen ein paar Tropfen vom Himmel fielen, auf dem Dach sammelte. Obwohl es schon seit Monaten nicht mehr geregnet hatte, war die Tonne immer voll. Seine Mutter hatte es auf sich genommen, mit einem Tonkrug zum Brunnen auf dem Dorfplatz zu gehen, damit der Wasserspiegel nie unter die Markierung im Inneren der Tonne sank. Das war eine Anordnung des Vaters. Sie lief zum Platz und schritt die Reihe der Krüge ab, die die Frauen dort so lange stehen ließen, bis sie dran waren. Dann stellte sie ihren Krug hinten an und ging heim, um mit der Hausarbeit fortzufahren. In regelmäßigen Abständen kehrte sie zum Krug zurück und schob ihn in dem Maße, wie die anderen vor ihm gefüllt und weggetragen worden waren, weiter nach vorne. Und obwohl fast alle Krüge den Händen ein und desselben Töpfers entstammten, wusste jede ganz genau, wem welcher Krug gehörte. Wenn die Frauen sich auf den Gassen begegneten, tuschelten sie miteinander, um zu erfahren, wie weit die Schlange vorgerückt war oder ob das Wasser in den letzten Stunden wieder ergiebiger aus dem Brunnenrohr floss. Im Sommer wurde der ohnehin schon spärliche Wasserstrahl noch dünner, bis nur noch ein jämmerliches, trostloses Rinnsal zustande kam. Selbst dann ging die Mutter zum Brunnen, wenn der Wasserspiegel in der Tonne um mehr als das geduldete Maß sank. Der Junge dachte daran, wie der Vater eines frühen Abends ins Zimmer hereingeplatzt war und sie am Ellenbogen nach draußen gezerrt hatte. Dort hatte er sie unwirsch zur Tonne geschoben und sein Messer gezückt. Die Mutter hatte den Mund aufgesperrt und ihn gleich in den Falten ihres schwarzen Kopftuchs verborgen. Der Vater hatte die Spitze der Klinge in die Innenwand der Tonne gerammt, so lange gebohrt, bis die Kerbe tief genug war, und war wieder davongegangen. Die Mutter hatte sich am Bauch der Tonne festgehalten und sich fallengelassen. Zurück war ein Fleck aus Holzspänen und Sägemehl geblieben, der auf der schwarzen Wasseroberfläche schwamm.

Während er den ruhigen Palmwipfel vor dem blauen Himmel betrachtete, fragte er sich, woher dieses Bedürfnis seines Vaters kam, Wasservorräte zu horten. Er dachte, vielleicht sammelte er es, um es an dem Tag, an dem der Brunnen endgültig versiegte, für ein Vermögen zu verkaufen. Vielleicht wollte er auch seine Familie versorgt sehen, falls noch einmal eine extreme Dürre über sie hereinbräche, und der Letzte sein, der das Dorf verlassen musste. An der Innenwand des Holzfasses für immer verewigt, klaffte die offene Wunde, die der Vater verursacht hatte. Schleimige Büschel blieben an ihr hängen. Ein Geheimzeichen oder ein verschlüsselter Code. Eine Kerbe wie ein Dolch, der aus dem Innern der Tonne aufblitzte, nur für die Kehle der Mutter bestimmt.

Obwohl er die ganze Nacht auf den Beinen gewesen war, wusste er, dass er nicht einschlafen durfte. Die Sonne würde irgendwann untergehen, doch während sie ihre Bahn zog, würde der Schatten der Palme weiterwandern und ihn seines Schutzes berauben. Er streckte sich an seinem östlichen Rand aus in der Absicht, den Platz zu wechseln, sobald der gesamte Schattenfleck über ihn hinweggezogen wäre. Am Boden liegend hob er den Kopf und schaute in alle Richtungen, um abzuschätzen, bis zu welcher Stelle er dem Schatten folgen würde. Dann ließ er den Kopf wieder sinken und sich vom Rascheln der ausgedörrten Palmzweige einlullen, die sich hoch über ihm aneinanderrieben.

Er döste ein.

Als er erwachte, lag er bereits seit zwei Stunden in der prallen Sonne. Er spürte, wie seine Haut sich vom Scheitel bis zum Kinn spannte. Jede einzelne Haarwurzel litt unter einer mikroskopischen Beklemmung, die ihn lähmte. Ein elektrisierendes Surren heizte sein Gehirn auf, sodass er fürchtete, der Kopf müsse ihm jeden Moment platzen. Auf allen vieren schleppte er sich in den Schatten der Palme und ließ sich fallen. Der Staub, der um seinen Körper aufstob, bildete eine kleine Wolke.

In seinem Fieberwahn gibt es keinen Horizont, doch irgendwo verblasst eine rötliche Lichtquelle. Das Dunkel gewinnt die Schlacht. Die Schattierungen verwischen. Irgendwann erwacht eine Windung in seinem Kopf und schlägt Alarm. Sein Wille bahnt sich den Weg durch den Dämmerzustand seines Gehirns, bis er wieder zu Bewusstsein kommt. Er oder jemand, der in seinem Inneren haust, besetzt den Türkensattel in seinem Schädel und übernimmt die Befehlsgewalt über seinen Körper. Er belebt die Organe und dreht die Hähne auf, damit das Blut wieder durch die infolge des plötzlichen Blackouts kollabierten Adern fließen kann. Er befiehlt ihm, die Augen zu öffnen, aber es gelingt ihm nicht, die Lider zu heben. Eine seltsame, leichte Bewegung gleitet über seine Stirn wie schmirgelnder Schleim, der ihn auf der wunden Haut kratzt. Erneut versucht er, die Lider zu heben, vergeblich. Sie sind bleischwer wie Vorhänge aus Leder. Schreie aus der Unterwelt drücken die Wände seines Schädels von außen nach innen. Er spürt die Erschütterung in den Schläfen, und seine Augäpfel fühlen sich in den Höhlen an wie schwimmende Eiswürfel in einem Glas. Derjenige, der in seinem Schädel sitzt, sucht nach Auswegen. Er reist durch das Innere seines hohlen Körpers, bis er die Fingerspitzen erreicht. Er traktiert sie mit Fußtritten und Stromschlägen, ohne die geringste Regung zu erzielen. Die warme Schmirgelmasse läuft ihm übers Gesicht und breitet sich über Zähne und Zahnfleisch aus. Endgültig in seinem Kopf gefangen, bleibt ihm nur noch das Warten auf den Tod. Er vernimmt das Geläut von in Fett getauchten Glocken. Von sich nähernden Schritten, gehetzt und schwerfällig. Jemand hat seinen Körper entdeckt und kann ihm vielleicht ein Begräbnis bereiten. Wie schrecklich sein Siechtum auch sein mag, so werden ihn wenigstens nicht die Hunde fressen. Ein Tod durch schmutzige Bisse in die Finger und Zehenglieder. Mit Stumpf und Stiel ausgerissen und an Ort und Stelle zerkaut. Anschließend die Handflächen. Die Zungenspitzen lecken die Zwischenräume zwischen den dicken Daumensehnen ab. Das Knacken der Speiche wie ein dumpfes, knöchernes Feuerwerk. Die zersplitterten Knochen frei schwebend in den herabhängenden Muskelfasern. Da ist kein Schmerz, in keinem Moment, alles konzentriert sich auf das Warten, wütend oder geduldig, dass die Bisse die Nervenbahnen erreichen. Ob der Tod durch einen infizierten Biss oder einen zerfleischten Magen erfolgt, ist kaum noch von Belang. Es zählt allein die Unfähigkeit, den Körper aufzurichten und selbst mit halb abgefressenen Händen die Orgie der Hunde und Mikroben zu unterbrechen. Etwas klatscht ihm ins Gesicht. Eine Hand, vielleicht. Dann ein Schlag. Derjenige, der in seinem Schädel gefangen ist, sträubt sich, doch inmitten des inneren Erdbebens setzt er unwillentlich einen verborgenen Mechanismus in Gang, der erreicht, dass der Junge die Augen aufschlägt. Das Gesicht des Ziegenhirten schiebt sich eine Handbreit über seinem vor die Sonne wie der Mond bei einer Sonnenfinsternis.

»Junge! Junge! Wach auf!«

Der Hund leckte ihm die Hand mit der gleichen rauhen Feuchtigkeit, die ihm zuvor Gesicht und Zahnfleisch überzogen hatte. Der säuerliche Atem des Alten brannte in den eben geöffneten Augen. Er stammelte ein paar Worte, während sein Blick die Stirn des Alten ergründete, bis er auf einem talgigen Pickel haften blieb, der wie ein Grenzstein mitten zwischen beiden Brauen saß. Auf der Stirn des Alten drängten sich die Schweißperlen, von denen ihm einige auf die Nase tropften und wie goldene Tränen über die Haut rannen. Der Alte trat ein paar Meter zurück und kramte nach etwas in einem der beiden Körbe, mit denen der Esel beladen war. Dann kehrte er zu dem Jungen zurück und kniete sich mit einer Blechbüchse in der Hand vor ihn hin. Er brauchte ihm den Mund gar nicht zu öffnen, da die Sonne seine Haut derart gestrafft hatte, dass der Mund aussah wie ein Schlitz aus gegerbtem Leder. Zum Zerreißen gespannt. Der Hirte setzte ihm den Büchsenrand behutsam an die Mundwinkel, um ihm die Flüssigkeit einzuflößen, doch als der neugierig herumstreunende Hund ihn für einen Moment ablenkte, schnellte das Gefäß hoch und ein ganzer Schwall ergoss sich in die Kehle des Jungen. Der verschluckte sich und richtete sich verwirrt auf. Sein abwesender Blick hatte sich irgendwo in seinem Alptraum verfangen, und einen Moment lang wirkte er nicht wie ein menschliches Wesen. Der Hirte zog das Gefäß zurück und wich zur Seite, als fürchtete er eine drohende Explosion. Das Abendlicht färbte die Konturen der Gegenstände rötlich und ließ sie unwirklich erscheinen. Der Junge stieß einen die Luft zerschneidenden Schrei aus, als tauche er aus dem Tunnel auf, der das Leben mit dem Tod verbindet. Der Alte wurde Zeuge dieses Klagelauts, und zum Glück war er der Einzige, der diesen herzzerreißenden Hilfeschrei in der Einöde hörte.

Schluck um Schluck flößte der Alte ihm Flüssigkeit ein, erkundete zwischendurch die Umgebung und kehrte, als schon der Morgen nahte, mit einem Bund Kräuter und einer Honigwabe von seinem Streifzug zurück. Er errichtete mit ein paar Steinbrocken eine Kochstelle und entfachte ein Feuer. In die schwarz verbrannte Pfanne gab er etwas Öl und ließ Wegerich und Ringelblumenblätter darin schmoren. Ein seltsamer Duft gesellte sich zu dem Gemisch aus Tierausdünstungen und Aromen des nächtlichen Ödlands. Vertrocknete Erde. Erinnerungen des gefangenen Feigenbaums. Ziegendung und Urin, herber Käse und hier und da dampfender Eselsfladen, feuchtwarmer Gestank nur wenige Meter entfernt. Über dem heißen Blätteraufguss zerbröselte der Alte Bienenwachsstücke und bestrich, nachdem er alles gut vermischt hatte, schmutzige Stoffstreifen mit dem Gebräu. Der Junge lag unter der Palme und ließ den Alten, teils aus Schwäche, teils aus Bedürftigkeit, klaglos seinen Kopf mit den Umschlägen verbinden.

Nachdem der Mann ihn versorgt hatte, breitete er ein paar Schritte weiter seine Decke aus und bedeutete dem Jungen, sich dort hinzulegen. Dieser stand auf und gehorchte schwankend wie ein Schilfrohr, auf dessen Spitze sich eine wohlgenährte Drossel niedergelassen hat. Der Alte hatte ihm den Packsattel aus Roggenstroh als Kopfkissen hingelegt. Behutsam bettete der Junge seinen Kopf darauf und machte es sich so gut es ging auf der kratzenden Wolldecke bequem. Von dort aus wanderte er mit dem Blick die gesamte Milchstraße entlang, von einem Ende zum anderen, während er hörte, wie der Alte geschäftig hin- und herlief und die Ziegen sich in der Nähe herumtrieben. Der helle Streifen, leuchtend und friedlich. Er ortete die Sternzeichen, die er am besten kannte, und konzentrierte sich einmal mehr auf den Teil des Großen Wagens, der mit dem Polarstern endete. Er fragte sich, ob er erneut in die von ihm angezeigte Richtung marschieren würde, sobald er sich erholt hätte. Er spürte, wie die erkaltenden Umschläge des Ziegenhüters auf seinem Gesicht fest wurden, eine Maske, bei der der Alte nur Löcher um Augen und Mund ausgespart hatte. Die wächserne Feuchtigkeit des Stoffs hatte sich noch nicht auf seine gespannte Haut übertragen.

Der Duft nach Brot streifte sein Gesicht, und er merkte, wie ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Als er aufblickte, sah er, wie der Hirte das kleine Feuer austrat und anschließend lockere Erde darüber verteilte, um die Glut zu ersticken. Dann kam er auf ihn zu und blieb vor seinen Füßen stehen. Er schien unsicher zu sein, ob der Junge mitten in der Nacht wach war oder schlief. Mit der Stiefelspitze stupste er sanft sein Bein an und sagte, noch bevor dieser sich regte:

»Essen.«

»Ja, Señor.«

»Nenn mich nicht Señor!«

Als der Junge zu der Stelle kam, an der das Feuer gebrannt hatte, aß der Alte bereits. Er tunkte Stücke ungesäuerten Brots in ein Gefäß mit Wein. Auf einem Stein jenseits der Aschereste stand eine dampfende Olivenholzschale. Der Junge blickte den Alten an, als wollte er fragen, ob er sein Haus betreten dürfe, woraufhin der Mann mit einer Kinnbewegung auf die Schale frisch gemolkener Milch wies. Der Junge setzte sich auf den Stein und führte sich die Schale zum Mund. Ein Teil der Milch rann über die Falten seiner wächsernen Gesichtsmaske. Der Junge merkte, wie die Spannung um seinen Mund herum langsam nachließ und die Lippen sich der Form des Gefäßes anpassten. Eine Zeit lang konzentrierte er sich darauf, die Milch in kleinen Schlucken zu schlürfen, während er das Gesicht des Alten ihm gegenüber studierte. Er beobachtete ihn verstohlen aus den Augenwinkeln, um sofort wegzuschauen, falls der Mann ihn ertappte, doch der Ziegenhirt war vollauf mit seinem Essen beschäftigt und achtete nicht auf ihn. Irgendwann entdeckte der Junge in der Pfanne die Hälfte des Fladenbrots, das der Hirte gebacken hatte. Er vermutete, der Alte habe es für ihn übriggelassen, traute sich aber nicht aufzustehen und es zu nehmen. Er machte Anstalten, sich zu erheben, scheute dann aber aus Scham oder Angst zurück.

»Iss den Fladen auf!«

Der Junge weichte die Stücke in der lauwarmen Milch ein, so wie er es bei dem Hirten gesehen hatte. Es kostete ihn Mühe zu kauen und zu schlucken, doch der Hunger siegte über die Schmerzen. Während er seine Schale auswischte, dachte er, dass er zum ersten Mal etwas Warmes zu sich nahm, seit er vor zwei Nächten von zu Hause weggelaufen war, und dass er auch zum ersten Mal in Gesellschaft eines Fremden aß. Dort, mit der Trinkschale in Händen, erkannte er, dass er so grundlegende Gefahren wie Mangel an Nahrungsmitteln oder die harten Lebensbedingungen in der ausgedörrten Ebene nicht bedacht hatte. Genauso wenig hatte er damit gerechnet, jemanden um Hilfe bitten zu müssen, schon gar nicht so bald. Eigentlich hatte er seinen Aufbruch überhaupt nicht vorbereitet. Irgendwann war das Fass einfach übergelaufen. Von dem Moment an war in ihm der Gedanke an die Flucht als einziger Hoffnungsschimmer aufgekeimt, um irgendwie die Hölle des Totschweigens zu ertragen, in der er lebte. Eine Idee, die in seinem Kopf heranzureifen begann, bis er mit dem Verstand so weit war, sie aufzugreifen. Seither hatte sie ihn nie mehr losgelassen. Abgesehen von dem Proviantsack und seinem Entschluss, in einer mondlosen Nacht zu fliehen, hatte er keinerlei Vorkehrungen getroffen oder Eventualitäten einkalkuliert. Er hatte auf seine Kenntnisse vertraut, um sich einigermaßen durchzuschlagen. Schließlich war er nicht weniger ein Kind dieser Gegend als die Rebhühner oder die Olivenbäume. Neben seinem schlafenden Bruder liegend hatte er sich in den Nächten vor seiner Flucht ausgemalt, wie er den Kaninchen Fallen stellte oder mit seiner Steinschleuder Wachteln jagte. Er hatte gelernt, Frettchen als Köder zu benutzen. Solange er denken konnte, hatte er seinen Vater auf die Karnickeljagd begleitet. Sie hatten eine Böschung oder einen Hohlweg gesucht, wo die Kaninchen ihren Bau gegraben hatten, und Netze über alle Ausgänge gelegt. Diese befestigten sie jeweils zu beiden Seiten der Löcher mit Holzstäben. Dann setzten sie das Frettchen unter eines der Netze. In nur wenigen Sekunden drang das Tierchen zu der Biegung vor, in der sich das Karnickel versteckt hielt, schnappte nach ihm, bis das Kaninchen aus einem der Löcher nach draußen floh. Dort verfing das Tier sich dann in dem an den Enden festgebundenen Netz und schleifte es mit, darin gefangen wie in einem Beutel.

Er hatte sich vorgestellt, wie er anschließend im Schein eines Feuers ähnlich dem, das der Ziegenhirt entfacht hatte, seine Beute aufspießte und in der lauen nächtlichen Brise unter dem Sternenhimmel briet. Aber weder hatte er bedacht, dass er auch Wasser brauchte, noch wo er es finden würde. Er hatte sich ganz einfach keinen Wegeplan gemacht. Seine geistige Landkarte endete an den Grenzlinien des Olivenhains nördlich des Dorfes. Jenseits dieses Landstreifens kannte er sich nicht mehr aus. Er hatte sich vorgestellt, hinter den Hügeln gäbe es unzählige weitere Olivenhaine, in denen er von Baumstamm zu Baumstamm, von einem Schatten zum nächsten marschieren könnte, bis er auf einen Ort stoßen würde, an dem es sich gut leben ließe. Doch jenseits des letzten Olivenbaums hatte ihn die trostlose Ebene erwartet, in der er jetzt festsaß. Er wusste nicht genau, wie weit er sich bereits vom Dorf entfernt hatte, und die Einzigen, die ihm diese Frage beantworten konnten, waren seine Verfolger oder der Alte, der kaum ein Wort sprach.

Der Hirte beendete seine Mahlzeit mit einem zähen Käsekeil, auf dem er herumkaute. Als er fertig war, stand er auf und ging zu dem Jungen. Er schnitt noch ein Stück Käse ab und reichte es ihm, ohne ihn anzublicken. Der Junge streckte die Hand aus und führte das Dreieck zum Mund. Der Alte machte kehrt und begann die Satteldecke des Esels um die erloschene Feuerstelle herum auszubreiten. Dann kramte er aus der Hirtentasche ein paar gelbliche Stockfischstreifen hervor. Nachdem er die gröbsten Sandkörner mit der Hand abgewischt hatte, legte er die Streifen in eine Schale, die er mit Wasser füllte. Als befände er sich allein auf der Welt, furzte er anschließend mehrmals völlig ungeniert und legte sich schlafen. Der Junge dachte, dass der Hirte plötzlich schrecklich müde wirkte, und beobachtete, wie schwerfällig er sich niederließ und sich abmühte, seinen knochigen Körper auf den Kieselsteinen auszustrecken.

Nach dem Abendessen blieb der Junge noch eine ganze Zeit lang auf dem Stein sitzen, als sei er erneut in einem Haus mit strengen Reglements gelandet und warte auf die Erlaubnis oder den Befehl, zu Bett zu gehen. Jenseits der Feuerstelle verschmolzen die Schnarchgeräusche des Alten mit dem Gesang der Zikaden und Grillen. Einige Meter über dem Boden wiegten sich die Blätter in der nächtlichen Brise, und der Junge schaute ihnen zu, wie sie über dem Haufen toter Wedel tanzten, die schlaff am Stamm herabhingen. Er blickte sich in der Umgebung um und hob einen Finger auf der Suche nach einer Brise, die er nicht fand. Er dachte, in der Höhe, die die Palmenspitze erreichte, herrsche sicherlich ein frischerer Luftzug als unmittelbar über dem Erdboden, und irgendeinen Grund müsse es wohl geben, weshalb die Palme diese wohltuende Brise verdient habe. Als er nach seiner wächsernen Maske tastete, fühlte sich seine Haut darunter wieder warm und viel weicher an. Irgendetwas musste er getan haben, weshalb er seinen Sonnenbrand, seinen Hunger und seine Familie verdient hatte. Etwas Schlimmes, wie der Vater ihm ständig vorwarf.

Geweckt wurde er von dem Hund, der bei Tagesanbruch mit feuchter Schnauze seinen Hals beschnupperte. Der Umschlag hatte sich im Laufe der Nacht abgelöst und lag nun als stinkendes Bündel neben seinem Kopf. Er betastete sein Gesicht und bemerkte ein paar Brandblasen auf den Wangen. Die Haut spannte nicht mehr ganz so sehr wie am Vortag, aber sie fühlte sich immer noch verkrustet an. Der Ziegenhirt saß an derselben Stelle, an der er zu Abend gegessen hatte, und kaute an einem Stück Stockfisch, von dem weißer Saft herabtropfte. Der ledernen Weinflasche ging er mit ausgiebigen Schlucken zu Leibe. Der Junge setzte sich auf und suchte den Blick des Alten, der ihn jedoch nicht beachtete. Neben ihm die Schale, die er am Vorabend geleert hatte, wieder aufgefüllt mit einem Brei aus Brotkrumen und frisch gemolkener Milch. Er nahm das Gefäß in beide Hände und spürte die Wärme des Holzes. Erneut suchte er den Blick des Hirten, und obwohl er wusste, dass er ihn nicht anschauen würde, erhob er die Speise in seine Richtung als Zeichen des Dankes.

Während des Frühstücks schaute er zum ersten Mal beim Satteln des Esels zu, eine umständliche Zeremonie, die er sich einzuprägen versuchte. Der Alte packte den Esel am Halfter und zog, bis das Tier sich erhob. Ohne es loszubinden, legte er eine lange Satteldecke aus Wachstuch über seinen Rücken. Darüber breitete er ein sackleinenes Packtuch, setzte einen Korbsattel darauf und zog den Gurt unter dem Schwanz durch. Bevor er das Tier belud, lockerte er die Strohfüllung auf, die sich nach dem Umladen am Boden der Packkörbe zusammengeballt hatte. Schließlich sicherte er die ganze Montur noch mit einem breiten Hanfgurt, den er unter dem Bauch des Tieres festzurrte, und deckte den Lastsattel mit einem Schurz ab. Den Jungen erinnerte diese Geste an den Augenblick während der Messe, wenn der Priester nach dem Erteilen der Kommunion zum Altar zurückkehrte. Zusammen mit dem Messdiener legte er zunächst das Korporale über den Kelch, darauf kam die Patene, die mit dem Kelchtuch abgedeckt wurde, und als Krönung dann der Tabernakelschlüssel.

Am Ende plazierte der Alte quer über den Schurz vier miteinander verbundene Tragekörbe aus Espartogras, die er an beiden Flanken zurechtrückte. Der Esel, der bis dahin stillgehalten hatte, machte Anstalten loszutrotten. Um ihn zu beruhigen, streichelte der Alte seine Stirn und fuhr mit den Fingern durch das Haarbüschel, das zwischen seinen Ohren hervorlugte.

Der Hirte verteilte die Lasten auf die vier Tragekörbe und nahm, als alle seine Habseligkeiten verstaut waren, das Ganze noch einmal schnaufend in Augenschein. Hier und da packte er ein paar Kleinigkeiten um, überprüfte den Schemel und die Pfanne und löste schließlich die Fußfesseln, mit denen die Hufe des Tiers zusammengebunden waren.

Der Hund rannte eifrig von einer Seite zur anderen und drängte die Herde dicht ans Hinterteil des Esels, der hin und wieder austrat, um sie zu vertreiben. Der Alte ließ den Blick noch einmal über den Lagerplatz schweifen und zählte eines nach dem anderen seine Tiere durch, wobei er den Zeigefinger zu Hilfe nahm. Dann rückte er sich den Hut zurecht und streckte die Hand in Richtung des Jungen aus.

»Die Decke.«

Der Junge sprang hoch, hob die Decke vom Boden auf und reichte sie ihm. Der Alte nahm sie entgegen und legte sie über die Packkörbe. Auf seinen Pfiff hin lief der Hund zu einigen noch abseitsstehenden Ziegen und trieb sie zusammen. Der Junge fragte sich, ob sich der gestrige Tag wiederholen würde: Frühstück bei Tagesanbruch, Marschieren und Sonnenstich. Der Alte schnappte sich den Halfterstrick und zog mehrmals daran. Der Esel trottete los, mit schwankender Last hinter dem Alten her, gefolgt vom restlichen Geleitzug. Der Junge blieb, wo er war, und sah zu, wie die Herde an ihm vorbeizog und sich mit lautem Geblöke und sanftem Glockengeläut in allen nur erdenklichen Tonlagen langsam entfernte. Vorneweg der Alte mit dem Esel, dann der Hund, und zum Schluss die Ziegen, die eine Kotspur hinter sich herzogen wie einen Kometenschwanz. Als sie etwa zwanzig Meter weit gekommen waren, hielt der Alte an und wandte sich zu dem Jungen um: »Ich werde nicht bis ans Ende meiner Tage auf dich warten.«