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Er schlug die Augen erst wieder auf, als der Schatten der Mauer seine scharfen Konturen verloren hatte und sich als länglicher Fleck zum leeren Horizont hin verflüchtigte. Der Alte lag wach neben ihm, die Hände über der Brust gefaltet, den Blick starr gen Himmel gerichtet, als suchte er einen Weg zwischen den Kragsteinen der über ihren Köpfen schwebenden Brustwehr hindurch. Der Junge richtete sich auf und blieb, verloren in die Ferne blickend, sitzen.

»Wie viele Ziegen sind noch da?«, fragte der Alte.

»Drei.«

»Der Bock zählt nicht?«

»Der ist verschwunden.«

Seufzend schloss der Hirte die Augen.

»Haben sie den auch aufgeschlitzt?«

»Ich weiß nicht. Hier sind nur tote Ziegen.«

»Schau genau nach.«

Der Junge stand auf und ließ den Blick über das vor ihm liegende Gelände schweifen. Mit dem Zeigefinger in der Luft zählte er die Kadaver.

»Sechs tote Ziegen. Hund und Bock sind weg.«

Der Alte meinte, früher oder später würde der Hund zurückkehren, wo immer er sich versteckt halte. Den Bock allerdings, so vermutete er, hätten sie an den Hörnern gepackt und mit sich fortgeschleppt. Vielleicht würde der Polizeiwachtmeister ihn schlachten, um mit dem Kopf seine Trophäensammlung zu ergänzen.

»Du musst so schnell wie möglich Wasser herbeischaffen.«

»Wenn Sie Durst haben, kann ich eine Ziege melken. Ich weiß jetzt, wie das geht.«

»Es sind die Tiere, die Wasser brauchen.«

Der Junge schnappte sich den Eimer. Einige Meter vor der Wasserstelle erspähte er mehrere Raben auf dem Brunnenrand. Als er dort ankam, verscheuchte er die Vögel mit der Hand und beugte sich über das Loch. Er vernahm ein Summen und befürchtete das Schlimmste. Das schräg einfallende Abendlicht drang kaum bis zum Grund vor, doch es reichte, um den enthaupteten Kadaver des Ziegenbocks zu erkennen, der mit aufgeschlitzten Gedärmen im Wasser schwamm. Sämtliche Fliegen der Gegend hatten sich zum Festschmaus versammelt. Sie gingen ein und aus wie Gäste bei einer großen Feier. Der Galgen über dem Brunnenrand übersät von schwarzen Punkten.

Es war schon fast dunkel, als er zur Mauer zurückkehrte. Er erzählte dem Alten, was er vorgefunden hatte, der vor Wut ächzte angesichts dessen, was ihnen drohte. Der Junge sah den Hirten niedergeschlagen wie noch nie.

»Keine Sorge. Wir finden bestimmt noch mehr Wasserstellen hier in der Gegend.«

»Nein. Es gibt keine.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich weiß es.«

»Dann gehen wir eben woandershin.«

»Ich kann nirgendwohin gehen.«

Der Junge verstummte. Wenn der Hirte sich nicht fortbewegen konnte, würde er Wasser besorgen müssen. Er dachte an die letzten Tage, den Sonnenstich, den Durst, die Nachtmärsche und bekam Angst, denn nur dank der Gegenwart des Hirten hatte er es geschafft zu überleben.

»Du wirst alleine losziehen müssen, um Wasser zu holen.«

»Ich weiß nicht, wohin.«

»Das werde ich dir sagen.«

»Ich habe Angst.«

»Du bist ein sehr tapferer Junge.«

»Bin ich nicht.«

»Du hast es bis hierher geschafft.«

»Weil Sie bei mir waren.«

»Weil du einen starken Willen hast.«

Der Junge wusste keine Antwort.

»Hast du den Heiligenschein der Christusfigur dort oben gesehen?«

»Ja. Er hat drei Spitzen.«

»Das sind Lichtstrahlen. Einer steht für die Erinnerung, der zweite für die Vernunft und der dritte für den Willen.«

Der Junge blickte nach oben. In der Abenddämmerung zeichnete sich hoch über der Mauer die schwarze Gestalt ab, deren Gewand, Hände und Heiligenschein man nur erahnen konnte. Für einen Moment vergaß er über die Erzählungen des Alten seine Sorgen.

»Christus musste auch leiden.«

»Ich will nicht länger leiden.«

»Dann bleiben wir eben hier und verdursten. So musst du bald nicht mehr leiden.«

Der Alte erzählte ihm, Richtung Norden gebe es ein Dorf mit einem Brunnen. Über die Entfernung war er sich nicht ganz sicher, doch es würde wohl einige Stunden dauern, dorthin zu gelangen. Er sagte ihm, er müsse sich so bald wie möglich mit dem Esel auf den Weg machen, aber bevor er aufbreche, habe er noch einiges auf dem Burggelände zu erledigen.

Als Erstes bat er ihn, den Kadaver einer braunen Ziege zu ihm an die Mauer zu bringen. Dann trug er ihm auf, den anderen toten Tieren die Glocken abzunehmen und ihre Kadaver so weit wie möglich von der Burg fortzuschaffen.

Bis zum späten Abend schleppte er tote Tiere über die Steine. Alle naselang machte er Halt, fuhr sich mit dem Handrücken über die Wangen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Nach mehr als einem Tag in der prallen Sonne hatten die Eingeweide bereits einen Gärzustand erreicht, der die Leiber der geköpften Tiere auftrieb. Verwesungsgase in den brodelnden Gedärmen. Geier und Raben, die sich bald in Scharen einfinden würden, wären kilometerweit zu sehen. Eine fliegende Spirale, ein lärmender Schwarm schwarzen Gefieders über der staubigen Erde. Einen Moment lang erwog der Junge, die Kadaver zu verbrennen, um Aasfressern und Krankheitserregern keine Chance zu geben, doch der Feuerschein wäre mitten in der Nacht weithin sichtbar. Mit etwas Glück würde der Polizeiwachtmeister ihn jetzt nach den Folterqualen im Turm für tot halten. Nachdem sie den Ziegenhirten so übel zugerichtet hatten, würde ein Haufen brennender Ziegen seinen Häschern verraten, dass er noch am Leben war.

Als er die toten Tiere aufgeschichtet hatte, kehrte er zur Burg zurück und ließ sich neben dem Alten nieder. Eine Weile sprach keiner ein Wort. Der Alte in seine Schmerzen vertieft, der Junge völlig verausgabt von der Anstrengung. Beinahe wäre er eingenickt, als er plötzlich die Hand des Hirten auf seinem Unterarm spürte.

Den präzisen Instruktionen des Hirten folgend schliff er das alte Messer aus gehämmertem Stahl – ein Werkzeug mit abgerundeter Spitze, einer Kerbe am Messerkopf und einem mit Hanf umwickelten Griff. Er wetzte den Stahl an einem Stein, bis er ihm eine silbern glänzende Schneide abgerungen hatte. Anschließend legte er die braune Ziege rücklings auf den Boden, hielt ihren Kopf mit den Knien fest, setzte ihr das Messer an die durchgeschnittene Kehle und schlitzte ihr den Bauch bis zum Euter auf. Daheim hatte er seine Mutter Hasen und Kaninchen ausweiden sehen. Er selbst hatte schon Wachteln den Hals umgedreht, doch das hier war nicht vergleichbar. Ein Tier völlig anderen Kalibers, dem eine solche Menge dunkelrotes Gekröse aus dem Bauch quoll, dass er es nicht einmal mit beiden Händen umfassen konnte. Erneut stach er das Messer hinein, um den aufgedunsenen Unterleib aufzuschlitzen. Obwohl die Klinge grob war, glitt sie durchs Bindegewebe wie durch warme Butter. Der Gestank, den er auf diese Weise freisetzte, durchfuhr ihn schmerzlich und prägte sich ihm unwiderruflich ins Gedächtnis ein. Als er den Blick abwandte, traf er auf den des Hirten, der ihn von seinem Lager aus still beobachtete. Er fühlte sich von den Augen des Hirten geleitet. Seine ungeschickten Hände waren die des Alten.

Der erste stinkende Schwall verflüchtigte sich. Vor ihm eine ausufernde Lache voller schillernder Rottöne, weißlicher Gewebeteile, wulstiger Gebilde, die sich in allen Richtungen wanden und schlängelten. Der Alte erwartete von ihm, dass er das Tier ausnahm und dann zerteilte, so wie er es vorher mit dem Hasen und der Ratte getan hatte. Doch die Menge und der Umfang des Gekröses ließen ihn kapitulieren. Mit aufgekrempelten Armen und dem Messer in der Hand starrte er den Hirten an und zuckte mit den Schultern.

»Schieb die Hände unter das Gedärm, such den Hals und setz dort das Messer an!«

Eine Stunde später lagen die Innereien neben dem aufgeschichteten Berg toter Ziegen wie zu ihrem Hohn, eine danteske Zukunftsvision oder die warnende Drohung eines Mörders. Unterwegs hatte er mehrmals anhalten müssen, um die Gedärme wieder aufzulesen, die ihm von den Armen gerutscht waren.

Den Rest des Tages gab der Alte von seinem Lager aus Anweisungen, die der Junge stillschweigend befolgte. Er begann die Ziege zu zerlegen, indem er ihr die Beine abtrennte und unbeholfen das Fleisch von den Knochen löste. Den gewonnenen Haufen Fleischfetzen schnitt er in so viele Streifen wie möglich, um sie auf einem Stein ausgebreitet kräftig einzusalzen. Einmal machte er während der Arbeit den Fehler, sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Das Salz rann ihm über das feuchte Gesicht und drang in die Wunden auf seinen Wangen ein. Vor Schmerzen kniff er die Augen zu, fiel innerlich in ein Loch. Er schrie nicht. Er blickte nur zum Himmel auf und weinte. Unbewusst flehte er um Hilfe. Die glühenden Hände und das ätzende Salz im Gesicht. Wäre ein Tümpel in der Nähe gewesen, hätte er sich hineingestürzt. Der Alte sah den Schmerzenstanz des Jungen, der auf die Knie gesunken war und sich wand, und versuchte, sich aufzurichten, konnte ihm aber nicht helfen. Der Alte streckte die Hand in seine Richtung aus, bis ihm allmählich die Kräfte schwanden. Dann ließ er den Arm langsam sinken und schloss die Augen.

Im seidigen Schimmer des Halbmonds wickelte der Junge mit geröteten Augen und noch immer brennendem Gesicht das Hanfseil ab, das den Messergriff gebildet hatte. Er klaubte in der Umgebung ein paar Stöcke zusammen und steckte sie in diverse Mauerlöcher. Dann verband er die Stöcke mit dem Hanfseil und hängte die Fleischstreifen darüber. Das Ergebnis zeichnete ein groteskes Grinsen auf die bläulichen Mauersteine, das sofort mit Fliegen übersät war. Anschließend sammelte er sein Werkzeug ein und ordnete es um den Alten herum an wie um einen gestrandeten Schiffbrüchigen. Seinen Instruktionen folgend trieb er die drei überlebenden Ziegen zusammen und fing sie mit Hilfe einer aus den Glockenhalsbändern der getöteten Ziegen geknüpften Leine ein. Dann machte er sie an einem Stein in der Nähe fest, damit die Tiere für den Hirtenstab erreichbar blieben. Er legte dem Esel die Satteldecke auf, band die leeren Flaschen zusammen und hängte sie über den Eselsrücken wie zwei mit der Schnur verknotete Stiefel.

Als es bereits tagte, hielten sie die Reisevorbereitungen für beendet. Die Luft bewegte sich kaum, und die Mauersteine strahlten still ihre Wärme ab. Sie aßen das Wenige, das ihnen geblieben war: Brotkrumen, eine Handvoll vom Boden aufgelesene Rosinen und etwas Wein. Später bat der Alte den Jungen, sich zu ihm zu setzen.

»Ich werde dir das Melken beibringen.«

Verwundert blickte der Junge den Hirten an. Zu einem anderen Zeitpunkt wären diese Worte für ihn ein Grund zur Freude gewesen. In ihrer augenblicklichen Lage erstaunte es ihn allerdings, dass der Hirte dafür seine Zeit aufbringen wollte.

»Es ist schon spät. Wenn ich nicht zeitig aufbreche, wird es noch ganz hell werden.«

»Ich weiß, dass es spät ist.«

»Sie können es mir zeigen, wenn ich zurück bin.«

Eine Schar schwarzer Vögel zog in Richtung Brunnen vorüber. Ihre Flügelschläge wie klopfende Holztäfelchen am dunklen Himmel. Die traurige Gestalt des Esels bewegte sich mit hängendem Kopf. Dem Jungen stiegen die Tränen in die Augen, doch er weinte nicht, schniefte nur leise vor sich hin. Er blieb einfach neben dem zusammengekrümmten Alten sitzen und spürte, wie sich der Himmel an der Erde rieb. Ein uraltes Rumoren aus den Tiefen des Felsgesteins. Er stellte sich eine Wassermühle in einem Buchenhain vor und Berge am Horizont wie gezackte Handsägen. Den Himmel, der auf die Erde drängte, sich über ihr ergoss, und hoch aufragende Berggipfel. Das Haus der Götter. Das Paradies, von dem der Pfarrer so oft sprach. Ein grüner Teppich, auf dem lässig die Bäume ruhten, nichtsahnend von der eigenen Üppigkeit. Ahorn, Tannen, Zedern, Eichen, Kiefern, Farn. Sprudelndes Wasser zwischen immer feuchten Felsen. Über allem ein Teppich aus frischem Moos. Teiche, glasklar, und strahlender Sonnenschein über Flüssen auf steinigem Grund. Strudel, abwechselnd ruhige Gewässer, auf deren spiegelnde Oberfläche das Licht flimmernde Spiralen zeichnete.

Er hörte auf zu schniefen, erhob sich, fing eine der Ziegen ein und stellte sie vor den Alten hin, ohne sie von dem mit den Halsbändern geknüpften Seil zu lösen. Dann hockte er sich neben ihn und wartete, während der Mann die Büchse an ihren Platz stellte. Kaum hatte er das getan, bat der Hirte den Jungen, die Zitzen mit den Händen zu greifen. Der legte die hohle Faust um die Zitzen und drückte zu. Da half der Hirte ihm und verschob ihm die Daumen so, dass sie die Zitzen mit den Nägeln gegen die Innenseite der übrigen Finger pressten. Wortlos umfasste er dann die Hände des Jungen mit seinen und bearbeitete die Zitzen, bis die Milch hervorsprudelte. In kürzester Zeit hatten sie sowohl die Büchse als auch die Ölkanne gefüllt und eine Ziege bis auf den letzten Tropfen ausgepresst. Sie teilten sich die Milch aus der Büchse und hoben die Kanne für das Frühstück des Alten am nächsten Morgen auf.

Später, als er schon auf dem Esel saß, schenkte er dem immer noch daliegenden Hirten einen letzten Blick. Sein Bart war von Milchresten verklebt. Er schlief oder war ohnmächtig. Eine sanfte Brise erinnerte den Jungen daran, dass sein Gesicht vor einer Weile noch wie ein Stern geglüht hatte.

»Hüte dich vor den Leuten aus dem Dorf.«

Die vage Stimme des schlaff am Boden ausgestreckten Alten. Der Junge wandte den Kopf in Richtung Norden und sah seinem ungewissen Schicksal entgegen. Dann packte er den Proviantsack auf den Sattel und stieß dem Esel die Hacken in die Seiten, bis dieser sich in gemächlichem Trott, begleitet von mürrischem Schnauben, von der Burg entfernte.