5

Mitten in der Nacht weckte ihn der Alte. Sie verließen die Grube so, wie sie gekommen waren, und umrundeten sie, als sie sich oben befanden, bevor sie in Richtung Norden abbogen. Anders als am Tag zuvor fühlte der Junge sich nun ausgeruht und weniger besorgt. Sie durchquerten die Ebene im schwachen Schimmer des Mondes, der noch nicht den Boden beschien, auf den sie den Fuß setzten. An das Geschirr des Esels geklammert, wirkte der wiegende Trott des Tieres ebenso monoton auf den Jungen wie die Landschaft, durch die sie zogen. Nichts als Schwärze hoch über ihren Köpfen, am Horizont und auf dem Brachland. Vom Alten geführt und vom Esel gehalten, verlor er sich in Erinnerungen an den Ort, aus dem er stammte. Sein Dorf, erhaben über dem Grund eines breiten Taleinschnitts, durch den irgendwann einmal Wasser geflossen war, der sich jetzt aber nur noch als eine lange Schneise mitten durch die endlose Ebene zog. Die Häuser, viele von ihnen leer, scharten sich größtenteils um die Kirche und den mittelalterlichen Palast. Rundum dann wie ein Asteroidengürtel eine Vielzahl an Hütten im Umland, Spuren von Obst- und Gemüsegärten, die das Dorf einst ernährt hatten. In den Gassen Mauern aus gekalktem Bruchstein mit sattelförmigen Ziegeldächern. Die Fenster mit grob gehämmerten schmiedeeisernen Gittern und die Eingänge mit Vorhängen versehen, hinter denen sich die blechernen Türflügel verbargen. Die Hoftore fest verriegelt, um Holzkarren, Dreschflegel und sonstige Gerätschaften sicher unter Verschluss zu halten. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, als die Ebene vor Getreide nur so strotzte. An windigen Frühlingstagen die Getreidefelder wie ein wogendes Meer. Grüne, herrlich duftende Wellen in froher Erwartung der sommerlichen Sonnenwärme. Derselben, die jetzt den Lehmboden zum Gären brachte, bis er rissig wurde und zu Staub zerfiel.

Er erinnerte sich an den mit Olivenbäumen bewaldeten Streifen, der sich am Nordhang des alten Flussbetts entlangzog. Dort, wo er Zuflucht gefunden hatte. Eine unverwüstliche hölzerne Heerschar, die die Landschaft in die dunklen Farben von Leder tauchte. Oft wurden einzelne Laubkronen von zwei oder drei knorrigen Stämmen gleichzeitig gehalten, die aus der Erde ragten wie belaubte Greisenfinger. Nur selten sah man einen Olivenbaum von normalem Wuchs, stattdessen wimmelte es nur so von knotigen, zerklüfteten Stämmen mit trockenen Schrunden, in die irgendwann einmal Wasser eingedrungen war, bis es gefror und das Holz hatte bersten lassen. Wie ein Haufen Soldaten, zurück von der Front. Verwundet, aber noch auf dem Marsch. Einem Marsch, der schon so lange dauerte, dass niemand mehr an ein Vorankommen glaubte. Die Bäume als uralte Zeugen der Vergänglichkeit der Zeit.

In Gedanken folgte er der Eisenbahnstrecke, die das Dorf dem Verlauf des alten Tals gleich von Ost nach West durchquerte – auf einem erhöhten Bahndamm aus Kies und Schotter hinein ins Dorf und am anderen Ende wieder heraus. Der Ort wie mit einer Schere durchgeschnitten. Auf der einen Seite das eigentliche Dorf mit der Kirche, dem Rathaus, der Kaserne und dem Palast. Auf der anderen eine Siedlung niedriger Häuser, die sich um eine verlassene Essigfabrik drängten. Die Deckengewölbe einiger Hallen waren eingefallen, und aus einem lecken Tank entwich ein ekelerregender Gestank, Tag für Tag dosiert wie ein ewiger Fluch. Die Stunden, die sie in der Grube verbracht hatten, kamen ihm im Vergleich mit den unsichtbaren Ausdünstungen jenes Ortes geradezu angenehm vor. Auf der Höhe der Fabrik verzweigten sich die Gleise auf drei Spuren. Auf der einen Seite stand das Bahnhofsgebäude mit seinen vernieteten Eisenauskragungen und zerbrochenen Fensterscheiben. In der Mitte gab es einen Bahnsteig, wie eine längliche Insel mit einem halben Dutzend mickriger Gaslaternen. Dann noch die Viehverladehalle aus Ziegelstein und zwei Schuppen, die Türen mit Brettern vernagelt. Über dem letzten Gleis ragte ein blassgelbes Getreidesilo auf, gekrönt von einem roten Schild mit der Aufschrift ELECTRA. Ein Gebäude, das aus dem Rahmen fiel, von aufdringlicher Maßlosigkeit, von dessen Dach aus der Blick bis zu den fernen Bergen im Norden reichte, wo die Meseta endete. Ein Massiv, das einen Schatten von schmerzlicher Intensität warf.

Seine Familie bewohnte eines der wenigen Steinhäuser im Dorf. Von der Eisenbahngesellschaft genau an der Stelle erbaut, an der der Weg zu den Feldern und in die südlichen Regionen über den Bahndamm vorbeiführte. Bei allen hieß es nur »das Haus des Weichenstellers«. An Sommerabenden bedeckte der Schatten des Silos das gesamte Dach und einen Teil des umliegenden Hofes: ein Gelände aus gestampftem Lehmboden, in dem ein Dutzend Hühner und drei Ferkel frei herumliefen. Außer dem Polizeiwachtmeister und dem Pfarrer hielt sonst keiner im Dorf Tiere.

Vor der großen Dürre hatte der Vater die Schranke bedient und war dem Bahnvorsteher beim Weichenstellen zur Hand gegangen. Viermal täglich setzte er den Mechanismus in Gang, um die Holzschranke herunterzulassen, während er gleichzeitig mit einer Handglocke bimmelte. Einige Lastwagenfahrer schalteten den Motor ab, stiegen aus und drehten sich Zigaretten, während sie den Zug gemächlich in Richtung Meer vorbeirattern sahen. Das waren die Zeiten, als die Güterzüge leer anrollten und voll beladen mit Hafer, Weizen und Roggen aus dem Silo wieder ausliefen. Später kam dann die Hitze, und die Felder siechten dahin, bis sie starben. Das Korn hörte auf zu wachsen, und die Eisenbahngesellschaft ließ die Waggons auf dem Abstellgleis verrotten. Der Bahnhof wurde geschlossen und der Vorsteher an einen Posten weiter im Osten versetzt. Innerhalb eines Jahres wanderte die Hälfte der Familien ab. Nur wenige, die tiefe Bohrbrunnen besaßen und mit dem Getreide Geld gemacht hatten, sowie einige, für die zwar weder das eine noch das andere galt, die sich aber den neuen Regeln der ausgedörrten Erde ergaben, hatten ausgeharrt. Seine Familie besaß keinen Brunnen und kein Vermögen, aber sie war geblieben.

Unter ein paar alten Mandelbäumen machten sie Rast. Wegen der Hitze tranken sie so viel, dass sie fast ihre gesamten Wasserreserven aufbrauchten. Anders als am Vortag hatte der Junge diesmal den Eindruck, der Ziegenhirt wisse, wohin er sie führte. Einmal waren sie auf einen Stacheldrahtzaun gestoßen und an ihm entlanggelaufen, bis sie eine Lücke fanden, um auf die andere Seite zu gelangen. Sie hatten ein brachliegendes Saatfeld überquert und auf einem neuen Weg wieder verlassen, dem sie in westliche Richtung gefolgt waren. Die unverhoffte Abweichung vom nördlichen Kurs hatte den Jungen argwöhnen lassen, sie wanderten nur planlos umher und der Alte sei gar nicht auf der Suche nach Weidegrund, sondern allein darauf aus, durch die Gegend zu streifen. Was ihn betraf, so entfernten sie sich immerhin vom Dorf.

Im ersten Dämmerlicht sahen sie die Überreste eines großen Gemäuers am Horizont auftauchen. Die Landschaft war hügelig, und während sie weiterzogen, tauchte die Ruine mal auf oder versank zwischen den verbrannten Kornfeldern. Die letzte Steigung enthüllte ihnen nach und nach die Details dessen, was sie seit langem sahen. Eine hohe mit Mörtel verputzte Steinmauer, von einer Reihe schartiger Zinnen gekrönt und durch ein nacktes Geröllfeld vom Weg getrennt. Eine einzige Wand, die dank des angebauten runden Turms noch aufrecht stand. Mehrere Reihen von Entwässerungslöchern zogen sich auf unterschiedlichen Höhen quer über die Mauer. Die Überreste einer Burg oder einer mittelalterlichen Festung, auf deren Turm jemand eine Jesusfigur angebracht hatte, die die Ebene mit zwei zusammengelegten Fingern segnete. Aus ihrem Nacken traten drei Lichtstrahlen hervor. Der Junge erkannte das Bild, das in seiner Erinnerung die Legende, die sich um die Burg rankte und die jedes Kind im Dorf schon einmal gehört hatte, aufleben ließ. Es hieß, irgendwo an einem Ort in nördlicher oder nordöstlicher Richtung befände sich eine Burg. Bewohnt würde sie von einem Mann, von einem furchteinflößenden Wächter beschützt. Tag und Nacht stünde der Mann oben auf einer Mauer mit erhobener Hand als Warnung für die Reisenden, sich seiner Burg nicht zu nähern. Manch einer erzählte auch, in Wirklichkeit zeige er keine Geste, sondern eine Waffe. Es hieß, aus seinem Kopf wüchsen Strahlen, die in allen Richtungen über die Ebene hinwegfegten. Man erzählte sich darüber hinaus von wilden Hunden und dass der Wächter Kinder fange und dem Mann bringe, damit er sie aufs Grausamste peinigte.

Sie stiegen den sanften Abhang hinab, der zu der Burgruine führte, und blieben unterwegs stehen, um die Anlage genauer in Augenschein zu nehmen. Der Pfad führte noch etwas weiter und mündete in einen Treidelweg, der parallel zu einem erhöhten alten Bewässerungskanal verlief, dessen verfallene Stützpfeiler sich in der glutheißen Luft verbogen. Daneben konnte man noch den ellenlangen Hohlweg erkennen, auf dem einst Barkassen vollgeladen mit Baumstämmen und Getreidesäcken verkehrt waren. Sie scherten aus und überquerten das Geröllfeld, bis sie eine Stelle fanden, an der die Wand sie nicht erschlagen würde, sollte sie einstürzen. Unbewusst leiteten Vorsicht und Angst ihr Handeln. Eine ganze Weile musterten sie die Mauer, als stünden sie vor einem unwiederbringlichen Wunder. Links ein runder Turm, dann die Wand und schließlich der Horizont in der Richtung, aus der sie gekommen waren. Auf der Turmseite ein Rundbogen, der ein zugemauertes Tor umriss. Am oberen Rand der Mauer über dem Tor eine völlig unversehrte Brustwehr, von drei Kragsteinen gehalten. Die Ziegen verteilten sich ungezwungen über das gesamte Gelände, allein von der Suche nach trockenen Grasresten getrieben. Hätte die Mauer in diesem Moment nachgegeben, wären sie fast alle erschlagen worden. Der Junge musterte ausgiebig die Skulptur und stellte eine Ähnlichkeit mit der Figur des Heiligen Jesu fest, die bei ihnen in der Kirche stand. Nur für einen kurzen Moment verspürte er Lust, dorthin zurückzukehren, sich zu den Kindern im Schulhof zu gesellen und ihnen von seiner Entdeckung zu erzählen. Ihnen zu erklären, dass das Grauen nicht oben auf einer Burg thronte, sondern begleitet von Fehlzündungen und giftigen Rauchwolken durch die Dorfstraßen streifte.

Nach einer Weile wandte sich der Junge zu dem Alten um und wartete darauf, dass er die Besichtigung für beendet erklärte, um den Esel zu entladen und auszuruhen. Doch der Mann starrte abwesend auf die Mauer. Der Junge dachte, der Ziegenhirt sei eingeschlafen. Er konnte die länglichen Nasenlöcher des greisen Mannes sehen und die langen weißen Haare, die aus der Schwärze hervorwuchsen. Den weißen Viertagebart, den Kiefer mit der schlaff herabhängenden Haut seines abwesenden Gesichts. Am liebsten hätte er ihn am Ärmel gezupft, um ihn aus seinen Gedanken zu holen, doch diese Art von Vertraulichkeit war ihm untersagt. Er räusperte sich, kratzte sich am Nacken und hampelte herum, als müsste er unbedingt mal. Doch der Alte reagierte nicht.

»Señor.«

Der Hirte drehte sich brüsk um, als hätte er ihn beleidigt, und da erst gingen sie auf die Mauer zu. Dort angekommen ließ der Alte sich an der Mauer fallen, und der Junge befreite den Esel von seiner Last. Er hob die Sachen aus dem Sattelgestell und lud sie neben dem Alten ab. Später montierte er die Körbe ab und räumte die Habseligkeiten des Hirten wieder hinein. Der Alte bat ihn, den Sattel zu holen, damit er sich daran anlehnen könne. Der Junge versuchte, ihn von der Seite abzunehmen, aber das Stück klemmte zu fest auf dem Rücken des Lasttiers, und sosehr er sich auch bemühte, es gelang ihm nicht, ihn herunterzuheben. Aus einem der Körbe kramte er einen Pfriemgrasstrick hervor, der beim Umzäunen des Geheges übrig geblieben war, und knotete ihn am Sattelgurt fest. Das andere Ende befestigte er an einem von der Burg herabgefallenen Stein und zog am Halfter. Als das Tier sich in Bewegung setzte, rutschte der Sattel über sein Hinterteil und fiel zu Boden.

Er brachte den Sattel zu dem Hirten, der aus der Nähe betrachtet viel erschöpfter wirkte als an den Tagen zuvor, wie ein kranker Mann. Der Alte sagte, sie würden ein paar Tage hierbleiben, da es in der Nähe einen Brunnen gebe und die Burgruine kilometerweit der einzige schattige Fleck sei, an dem die Ziegen Nahrung fänden. Der Junge schaute sich in der Gegend um. So weit das Auge reichte, nichts als Schotter und ausgetrockneter Lehm. Nur ein paar verstreute Reste zum Grasen für die Tiere. Der Junge dachte, dass sie bisher noch keinen Tag ohne Schatten verbracht hatten und dieser Ort hier der armseligste war, an dem sie je gerastet hatten. Als er sich dem Alten wieder zuwandte, lag dieser auf den Steinen, den Kopf auf den Sattel gebettet, den Hut über das Gesicht gezogen. Der Junge dachte, er sei erschöpft vom langen Weg, und wenn sie hierblieben, dann nur, weil die Knochen des Alten streikten. Er bückte sich, fasste die Flaschen am Hals und schüttelte sie, um zu überprüfen, wie viel Wasser ihnen noch blieb.

Gegen Mittag packte er dem Esel den Lastsattel und die Tragekörbe auf, die er mit den Flaschen und dem Melkeimer belud. Von seinem Lager aus beschrieb ihm der Hirte, was er vorfinden würde, wies ihm den Weg mit dem Zeigefinger und lieh ihm, bevor er sich aufmachte, seinen Strohhut.

Obwohl die Zisterne, neben der der Brunnen lag, von der Burg aus zu sehen war, standen dem Jungen Schweißperlen auf der Stirn, als sie dort ankamen. Wie von dem Alten beschrieben, fand er den runden Wasserspeicher und ein paar Meter weiter einen Ziehbrunnen aus Backstein mit einem plumpen Galgen, an dem ein Schöpfhaken mit vier Krallen hing. Jemand hatte Stöcke in den Schacht geworfen, die kreuz und quer übereinanderlagen und kein Loch freiließen, um den Eimer ins Wasser zu tauchen. Mit dem Schöpfhaken zog er sie heraus, bis er eine Öffnung geschaffen hatte.

Er brauchte mehrere Stunden, um beide Flaschen zu füllen. Er verschloss sie mit dem Korken. Dann griff er sich eine und wollte sie auf den Esel hieven, bekam sie aber nicht hoch. Schließlich musste er jede bis zur Hälfte wieder ausleeren, doch auch so hatte er größte Mühe, sie in die Körbe zu laden.

Erst als es auf den Abend zuging, kehrte er zur Burgruine zurück, zerschlagen von der Anstrengung. Der Alte lag immer noch an derselben Stelle, an der er ihn zurückgelassen hatte. Der Junge lud das Wasser ab, befreite den Esel und fesselte ihn an den Vorderhufen, und nachdem er allen Ziegen Wasser zu trinken gegeben hatte, ließ er sich neben dem Alten nieder und beobachtete die sich wandelnde Textur des Lichtes, während die Sonne hinter der Mauer versank. Man hörte das Geflatter der Tauben, die zum Schlafen in den Turm heimkehrten.

Zu Abend aßen sie ranzige Mandeln und Rosinen im Schein des Halbmonds, und als sie fertig waren, räumte der Junge die Sachen auf und säuberte anschließend wenige Meter vom Liegeplatz des Alten entfernt ein Fleckchen Erde von Steinen. Dabei fand er den Schädel eines Hasen. Ihn in Händen haltend, strich er mit den Fingerkuppen über seine komplexen Formen. Er stellte sich den Kopf auf einer kleinen ovalen Platte aus dunklem Holz vor, eine Jagdtrophäe in Miniatur. Darunter stünde auf einer Messingplakette der Name des Jägers sowie das Datum, an dem er das Tier erlegt hatte. Er legte den Schädel beiseite und rollte die Satteldecke zusammen, um seinen Kopf darauf zu betten. Er war so müde, dass ihm selbst der derbe Eselsgeruch, den sein improvisiertes Kopfkissen verströmte, angenehm erschien. Er wünschte dem Alten eine gute Nacht und erhielt wie üblich keine Antwort. Im Liegen suchte er am Himmel nach den Sternzeichen, die er kannte, und richtete den Blick dann auf den Mond. Das milchige Licht schmerzte auf der Netzhaut. Als er die Augen schloss, sah er immer noch den flackernden Lichtbogen. Ihm kam der Schädel wieder in den Sinn. Auf der feuchten Leinwand seiner Lider zogen Erinnerungen an die Trophäengalerie im Haus des Polizeiwachtmeisters vorbei. Er dachte daran, wie er in Begleitung seines Vaters jenen Ort zum ersten Mal betreten hatte. Der herbe Holzgeruch und das Knarren der langen Dielen, ein Boden, wie er ihn von keinem anderen Ort kannte. Wie sie beide im Empfangszimmer gewartet hatten, der Vater die Mütze zusammengeknüllt vor der Brust. Die dunkle Täfelung und der lange Saal voller Mufflons, Rotwild und Stiere.

»Ist das dein Junge?«

»Ja, Señor.«

»Ein bildhübsches Bürschchen.«

Bei der Erinnerung an die Stimme des Polizeiwachtmeisters schossen ihm die Tränen in die Augen wie aufwallendes Blut. Er biss sich auf die Lippen, das Gesicht dem Himmel zugewandt, und spürte einen Schwall, der die Tränendrüsen durchbrach und ihm allmählich die Nase verstopfte. Er schniefte und schluckte, um die Nasengänge freizubekommen, doch die Geräusche, die er dabei erzeugte, mahnten ihn zur Vorsicht, da er fürchtete, der Ziegenhirt könne ihn hören.

»Hab keine Angst. Hier wird dir nichts geschehen.«

Die Stimme des Alten brach aus den Tiefen der Erde hervor, bahnte sich ihren Weg durch die Felsschichten hindurch, um das sie zuschnürende Korsett zu zersprengen, das sie umgab. Der Junge verstummte mit einem Kloß im Hals. Während er die Grillen zirpen hörte, fing er an, die Nase hochzuziehen und den Rotz zu schlucken, bis er spürte, wie wieder frische Luft durch seine Nasenlöcher drang. Er trocknete sich die Tränen, bettete sein Gesicht auf die zusammengelegten Hände und schlief kurz darauf ein.

Obwohl er sich einige Meter entfernt von dem Ziegenhirten hingelegt hatte, erwachte der Junge am nächsten Morgen eng an den reglosen Körper des Alten geschmiegt. Die nahtlose Helligkeit der Ebene öffnete ihm die Augen, und als Erstes fiel ihm der stinkende Verwesungsgeruch auf, der den Mann umgab, so streng wie der eigene, nur weniger vertraut. Er blinzelte ein paarmal, um wach zu werden, und kroch an die Stelle zurück, an die er sich gelegt hatte, in der Hoffnung, der Hirte schlafe noch. Der Alte, der noch genauso dalag wie am Abend zuvor, wandte den auf den Sattel gebetteten Kopf dem Jungen zu und bat ihn, ihm eine Ziege zu bringen. Der Junge schämte sich, als er merkte, dass der Alte vor ihm aufgewacht war, und wusste nicht, wie er es deuten sollte, dass sie nebeneinandergelegen hatten, ohne dass der Ziegenhirt von ihm abgerückt war. Er stand auf und klopfte sich den Staub ab. Rotzflecken waren auf seinem Hemd, und Büschel wie von Rosshaar hingen am Ansatz der Hosenbeine.

Nach dem Frühstück bat der Alte den Jungen, ihm mit der Decke ein Schutzdach gegen die Morgensonne zu basteln. Der Junge stopfte die Decke an zwei Enden jeweils in ein Loch in der Mauer und klemmte sie mit Stöcken fest. Sobald er fertig war, ließ er sich außerhalb des Schattens neben dem Alten nieder und wartete auf weitere Instruktionen, denn so begann ihr Zusammenleben, sich zu gestalten. Der Hirte, eingeschränkt durch die fortschreitende Steifheit seiner Gelenke, ruhend, der unerbittlichen Glut des Himmels ausgesetzt. Der Junge, als verlängerter Arm des Alten, bereit für die Plackerei, die ihnen die karge Ebene auferlegte. Eine ganze Weile regten sie sich nicht. Der Alte an den Sattel gelehnt, der Junge wartend in der brütenden Sonne. Schließlich hielt er es nicht mehr aus, stand auf und ging um die Mauer herum, um sich dort, auf der anderen Seite, in den Schatten zu legen. Irgendwann döste er ein, bis später die Sonne allmählich den Rand der Mauer überschritt. Er gesellte sich wieder zu dem Ziegenhirten, und gemeinsam aßen sie ein paar Käsereste und etwas von dem bisschen Trockenfleisch, das noch übrig war.

Den größten Teil des Nachmittags brachte der Alte damit zu, in einer Bibel mit abgerundeten Ecken zu lesen, die er in einen Stofffetzen gewickelt aufbewahrte. Er verfolgte die Worte mit dem Zeigefinger, während er sie Silbe für Silbe vor sich hinsagte. Derweil erkundete der Junge gemeinsam mit dem Hund die Umgebung der Burgruine. Auf seinem Streifzug entdeckte er Reste der Fundamente, die den alten Grundriss der Burg erkennen ließen, und fragte sich, wo wohl all die Steine abgeblieben waren, aus denen die Wände und Decken bestanden hatten. Er stieß auf ein paar vertrocknete Eidechsen und Gewölle, gefüllt mit kleinen Knöchelchen und zerrupftem Flaumhaar. Auf der Südwestseite der Mauer fand er Federn und verschrumpelte Hautfetzen, die er als Reste eines Festschmauses der Steinkäuze deutete.

Am anderen, der Mauer gegenüberliegenden Ende des Fundaments kletterte er eine Böschung hinab, in der Kaninchen sich einen Bau mit Dutzenden von Ausgängen gegraben hatten. Dann kehrte er zu dem Alten zurück, um ihm seine Entdeckung mitzuteilen. Er erklärte ihm, dass es überall Spuren und Kot gebe. Auch von seiner Erfahrung als Jäger mit Hilfe von Frettchen sprach er und davon, wie sehr diese Methode derjenigen glich, derer sich der Alte beim Einfangen der Ratte in der Grube bedient hatte. Er erzählte ihm von Tagen der Jagd auf den Bahndämmen und wie man die erbeuteten Tiere an den Hinterläufen aufhängt und ihnen mit Knüppelschlägen das Genick bricht. »Die Hasen sehen dann so aus«, sagte er Fratzen schneidend, die zitternden Arme von sich gestreckt. Juli sei der beste Monat, um Rebhuhnjunge zu fangen. »Man muss zur Mittagszeit losziehen, wenn es am heißesten ist, und sobald man eine Henne mit Jungen erspäht, eines auswählen und es pausenlos jagen. Irgendwann erlahmen sie.« Dann erklärte er, ohne die Mutter zu erwähnen, wie man ein Kaninchen häutete oder einer Taube den Hals umdrehte. Der Hund neben ihm wedelte mit dem Schwanz, als wollte er den abenteuerlichen Träumereien des Jungen Luft zufächeln. Nachdem er zu Ende erzählt hatte, erklärte der Alte ihm, es bringe nichts, Kaninchen zu jagen, denn um sie zu grillen, müssten sie Feuer machen, und das würde die Männer anlocken, die nach ihm suchten. Der Junge war gekränkt angesichts dieses Dämpfers, denn endlich hatte er gedacht, er könne dem Mann, der alles zu wissen schien, auch mal etwas beweisen. Vor lauter Enttäuschung war er unfähig zu begreifen, was der Alte ihm gerade gesagt hatte.

Den Rest des Tages verbrachten sie getrennt. Der Hirte mit seiner Bibel auf der einen und der Junge mit dem Hund auf der anderen Seite der Mauer. Am frühen Abend angelte der Alte sich mit dem Stab seinen Ranzen und kramte daraus ein Stück Fladenbrot und die letzten ranzigen Mandeln hervor. Während er wartete, dass der Junge wiederkam, versuchte er, die Mandeln mit zwei Steinen zu knacken. Seine Hände zitterten, und es gelang ihm nicht, die Mandeln entsprechend zurechtzulegen. Als er sich bei einem der vielen Versuche auf die Finger schlug, schrie er auf vor Schmerz. Erst nachdem die Sonne schon fast untergegangen war, tauchte der Junge wieder auf, in der einen Hand einen Stock und in der anderen ein Kaninchen. Der Hund scharwenzelte um ihn herum.

Trotz seiner schmerzenden Knochen war es der Alte, der das Kaninchen enthäutete. Er wog es in beiden Händen, schätzte sein Gewicht ab, und einen Moment lang wirkte er zufrieden mit dem Beutestück. Anschließend schlitzte er das Fell an den Beinen und am Bauch auf und zog die Haut ab, bis das Tier völlig nackt war. Die Eingeweide warf er dem Hund hin und bat den Jungen dann, ihm aufzuhelfen. Gemeinsam gingen sie zum Turm, und während der Alte mit Steinen eine Feuerstelle errichtete, durchstreifte der Junge das Areal auf der Suche nach Brennmaterial. Sie grillten das Kaninchen auf dieselbe Weise wie die Ratte. Während des Abendessens redeten sie nicht. Sie beschränkten sich darauf, das Fleisch bis auf die letzte an den Knochen haftende Faser abzunagen. Nach dem Mahl drehte der Alte sich eine Zigarette, während der Junge sich daranmachte, die Feuerstelle zu reinigen und die Knochen sowie das Fell zu entsorgen. Erst als er die Abfälle in einiger Entfernung von der Burg vergrub, fiel ihm wieder ein, wie der Alte ihn vor der Gefahr gewarnt hatte, Feuer zu machen. Der Junge beendete seine Abfallentsorgung, indem er Erde mit seinen Stiefeln über der Grube plattdrückte, und kehrte zu dem Hirten zurück. Der stand, den Rücken ihm zugekehrt, ein paar Meter von der Decke entfernt da, eine Hand auf die Mauer gestützt, und urinierte. Der Zigarettenqualm hüllte seinen Kopf ein wie eine Wolke trüber Gedanken.

»Woher wissen Sie, dass die Männer hinter mir her sind?«

Der Alte blieb stumm. Der Junge wartete. Ohne die Hand von der Wand zu nehmen, beendete der Ziegenhirt sein Geschäft und schüttelte ab. Als er sich umdrehte, sah der Junge seine nasse Hose und die rosa Eichel, die aus dem Hosenstall hervorschaute.

Hastig ergriff er die Flucht und verschwand im Dunkel. Sein Unterbewusstsein trieb ihn in die Richtung, in der er wenige Minuten zuvor die Essensabfälle vergraben hatte. Stolpernd und wütend gegen die Steine tretend rannte er daran vorbei, so schnell er konnte, und weiter auf den Brunnen zu, bis er gegen den Absperrhahn der Zisterne stieß. Dort blieb er liegen, mitten in der Dunkelheit, während er spürte, wie das gleichmäßig pochende Blut die Verletzung an der Wade anschwellen ließ. Als er sich wieder beruhigt hatte, kroch er bis zum Wasserspeicher vor und ließ sich dort an die Ziegel gelehnt nieder. Von seinem Platz aus hatte er einen verschwommenen Blick auf die Mauer und die umliegende Ebene. Der Anblick des Alten, wie er sich ungelenk zu ihm umgewandt hatte, ließ ihn nicht mehr los. Die feuchte Eichel, das nackte Fleisch des gehäuteten Kaninchens, die Häscher, die hinter ihm her waren. Er fürchtete, dass dieser Rastplatz nichts anderes war als eine Wartestation. Ein Treffpunkt, an dem er dem Polizeiwachtmeister ausgeliefert werden sollte. Er dachte, der Alte habe seine Schmerzen nur geheuchelt und ihn hergelockt, um ihn fern des Dorfes hinrichten zu lassen. Er stellte sich vor, wie der Ziegenhirt seelenruhig zusähe, wie er gequält wurde. Er wünschte sich weit fort und beklagte, dass es ihm nicht gelungen war, sein Schicksal besser zu ertragen. Das ferne Meckern der Ziegen lenkte ihn ab, und für eine Weile richtete er seine Aufmerksamkeit auf die Burgruine, die still vor ihm lag. Später, als sein voller Magen sich von der Anstrengung der Flucht erholt hatte, ließ er sich von den Geräuschen der Ziegen einlullen und nickte im Sitzen, den Kopf auf der Brust hängend, ein.

Kurz vor der Morgendämmerung weckte ihn der Hund, der ihn mit der Schnauze am Hals anstupste. Noch halb im Schlaf stieß ihn der Junge weg, doch das Tier beschnüffelte ihn erneut unter dem Kinn. Als der Junge die Augen aufschlug, sah er ihn als Erstes mit dem Schwanz wedeln. Um seinen Hals hing die Blechbüchse, die der Hirte ihm bei ihrer ersten Begegnung gegeben hatte. Der Junge kraulte den Hund, bevor er sich hinter dem Mauervorsprung räkelte. Er sah den rostigen Absperrhahn, an dem er sich am Abend zuvor gestoßen hatte, und fasste sich mit der Hand ans Schienbein. Er tastete es über dem Stiefel ab, und obwohl es schmerzte, schien er sich nichts gebrochen zu haben.

Gegen Mittag kehrte der Junge gemeinsam mit dem Hund zur Burg zurück. Als sie dort eintrafen, lag der Alte mit offenen Augen an seinem Platz. Kein feuchter Fleck mehr zwischen den Beinen. Der Junge blieb in einiger Entfernung stehen, während der Alte ihn musterte.

»Setz dich.«

»Ich will nicht.«

»Ich werde dir nichts tun.«

»Sie wissen, dass sie hinter mir her sind. Sie werden mich ausliefern.«

»Das ist nicht meine Absicht.«

»Sie wollen das Gleiche wie alle.«

»Du irrst dich.«

»Warum haben Sie mich hierhergebracht?«

»Weil es weit weg ist.«

»Weit weg von was?«

»Von den Leuten.«

»Die Leute sind nicht mein Problem.«

»Jeder, der dich sieht, kann dich verraten.«

»Das werden Sie doch auch tun.«

»Nein.«

»Sie sind genau wie die anderen.«

»Ich habe dir das Leben gerettet.«

»Damit ich Ihnen was schuldig bin.«

Der Alte schwieg. Der Junge trippelte in zehn Metern Entfernung im Kreis, als müsse er sich vor Enttäuschung fast in die Hose machen.

»Ich weiß nicht, warum du ausgerissen bist, und will es auch gar nicht wissen.«

Der Junge hielt inne.

»Ich weiß nur, dass der Polizeiwachtmeister hier keine Befehlsgewalt hat.«

Kaum vernahm der Junge das Wort »Polizeiwachtmeister« aus dem Mund des Hirten, fühlte er auch schon, wie seine Fersen glühten, als stiegen Flammen vom Boden auf, um ihn innerlich zu verbrennen, wie es nur die Scham vermag. Er hatte den Namen des Satans aus dem Mund eines anderen gehört und spürte jetzt, wie dieses Wort die Mauern einriss, in denen seine Schande lebte. Sah sich nackt vor dem Alten und der Welt. Der Junge wich ein paar Schritte zurück und kauerte sich vor die warme Steinmauer. Er spürte die rauhe Oberfläche des Felsgesteins und überschlug, was die Ebene ihm gebracht hatte. Genau hier, außerhalb jeder Zuständigkeit des Polizeiwachtmeisters, konnten sie mit ihm anstellen, was sie wollten. Nur diese Steine wären Zeugen der Quälereien, auf die unweigerlich der Tod folgen würde. Er sprang auf.

»Ich gehe.«

»Tu, was du willst!«

Der Junge löste dem Hund die Blechbüchse vom Hals und zeigte sie dem Ziegenhirten.

»Die hier nehme ich mit.«

»Sie gehört dir.«

Er goss Wasser aus der Flasche in den Behälter und trank mehrmals. Dann packte er die Büchse in seinen Proviantsack, bückte sich und kraulte den Hund unterm Maul. Bevor er aufbrach, zog er die Kordel enger, die ihm als Gürtel diente, und schaute rundum. Der Himmel war von makellosem Blau. Er strich mit der Hand über den Kopf und marschierte, ohne dem Hirten noch einen Blick zu schenken, los in Richtung Norden. Der Alte setzte sich auf, um dem Jungen nachzusehen. Der Hund folgte ihm glücklich, als brächen sie auf, um die Umgebung der Festung zu erkunden. Mal lief er zur Rechten, mal zur Linken des Jungen. Schließlich richtete er sich vor ihm auf, die Vorderbeine auf seine Oberschenkel gestützt, um gekrault zu werden. Der Junge stieß ihn beiseite, um seinen Weg fortzusetzen, woraufhin der Hund nicht länger beharrte und ihm in aller Ruhe hinterhertrottete. Als sie fünfzehn oder zwanzig Meter hinter sich gebracht hatten, pfiff der Hirte. Der Hund ließ die Spielereien und stellte die Ohren auf. Da bückte sich der Junge zu dem Hund, legte ihm die Hände um den Hals und flüsterte ihm etwas ins Ohr, damit sich die Anspannung seines Hüterinstinkts legte und er ruhig und zufrieden zur Mauer zurücktrabte.

Dann stellte der Junge sich wieder auf und empfing, als er sich gerade die Hosenbeine zurechtrüttelte, einen warmen Lufthauch im Nacken. Er holte einmal tief Atem, um sich für den ungewissen Weg zu wappnen. Da vernahm er plötzlich ein Motorengeräusch, das der Wind herantrug. Er drehte sich um und erspähte in der Ferne eine Staubwolke über dem Treidelweg. Der über dem Boden schwebende Hitzeschleier machte es ihm unmöglich zu erkennen, woher genau das Geräusch kam, das immer deutlicher zu hören war. Als er sich, ohne es zu wollen, zu dem Hirten umschaute, sah er, dass dieser auf den Knien, die Augen mit der Hand abschirmend, in Richtung der anrückenden Staubwolke Ausschau hielt. Dieselbe Brise, die die Männer herbrachte, blätterte die durchscheinenden Seiten der aufgeschlagen am Boden liegenden Bibel um. Der Hirte bedeutete ihm mit einer Handbewegung, in Deckung zu gehen.

Nervös schaute der Junge sich nach einer Rückzugsmöglichkeit um, fand aber nichts. Hinter ihm nur der Hirte, die Mauer und ein Haufen Trümmer. Sonst rundum nichts als unbarmherziges, endloses Ödland, das ihm keinen Schutz bieten würde. Er duckte sich und legte die Strecke bis zur Mauer auf allen vieren zurück. Er kroch vorbei an dem Alten und presste sich gegen die Steine.

»Versteck dich!«

Der Junge drückte die Brust auf den Boden und robbte auf den Ellenbogen vorwärts. Kiesel bohrten sich ihm in die Unterarme und rissen sein Hemd auf. Er kroch dicht an der Mauer entlang auf die andere Seite. Vor den Blicken der Männer geschützt weiter durch die Schutttäler bis zur Mauermitte. Der Hund folgte ihm neugierig, in Erwartung, dass der Junge ihm ein Stöckchen werfe oder ihn kraulte. So drohte er, sein Versteck zu verraten. Der Junge hockte sich hin, den Rücken an die Mauer gelehnt, rief den Hund zu sich und kraulte ihn mit den Fingern unterm Maul, um ihn ruhig zu stellen.

Als der Trupp vom Treidelweg abbog und den Weg zur Burg heraufkam, erkannte der Alte das Motorrad des Polizeiwachtmeisters. Begleitet wurde er von zwei Männern auf Pferden, deren Hufe auf den Kieselsteinen Funken schlugen.

Auf einen Pfiff des Hirten hin hörte der Hund auf, mit dem Schwanz zu wedeln, straffte die Beine und stellte die Ohren hoch. Er zog seinen Kopf aus der Umklammerung des Jungen und sprintete los, umrundete die Mauer und gesellte sich zu dem Alten, der gerade etwas in seinem Ranzen suchte. Als die Männer näherkamen, verwandelte sich das Motorbrummen in ein lautes Knattern, das die Turtel- und Ringeltauben, die im Turm nisteten, aufschreckte.

Die Ziegen wichen ihnen aus. Der Alte ließ den letzten Streifen Trockenfleisch neben sich zu Boden fallen. Der Hund hockte sich ihm zur Seite und begann an dem sehnigen Muskelstück zu lecken und darauf herumzukauen.

Der Hirte hatte sich zu ihrem Empfang erhoben. Er zog den Hut und nickte zur Begrüßung mit dem Kopf. Einer der Reiter erwiderte den Gruß mit einem flüchtigen Griff an den Rand seiner Schirmmütze. Derweil ließ der andere, ein Typ mit rötlichem Bart, bereits den Blick über das Gelände schweifen. Als einziger der drei trug er eine Waffe. Ein doppelläufiges Jagdgewehr mit holzverkleidetem Kolben. Der Polizeiwachtmeister stellte den Motor ab, und obwohl die Ziegen weiter meckerten und mit ihren Glöckchen bimmelten, hatte der Alte das Gefühl, als herrsche plötzlich Totenstille. Der Mann streifte sich die Lederhandschuhe ab und legte fein säuberlich einen neben den anderen über die Innenkante des Beiwagens. Die Finger nach innen, sodass die langen Lederschäfte außen herabbaumelten. Ohne vom Motorrad abzusteigen, nahm er die gummierte Schutzbrille ab, öffnete den Kinnriemen seines Helms und zog ihn vom Kopf. Sein Haar war schweißnass. Er fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht, als wollte er es waschen, und strich sich mit den Fingern wie mit einem Kamm das feuchte Haar zurück. Dann zog er aus dem Beiwagen einen braunen Filzhut, fächelte sich damit ein paar Sekunden lang Luft zu, setzte ihn auf und rückte ihn feierlich über der Stirn zurecht.

»n’Abend, alter Mann.«

»Señor.«

»Ach, auf einmal nennst du mich Señor?«

Die Stimme des Polizeiwachtmeisters hallte schneidend zwischen den Steinmauern. Hinter der Trennwand fühlte der Junge, wie sich ihm die Nackenhaare sträubten. Er spürte eine feuchte Wärme, die ihm an den verkrampften Schenkeln hinabrieselte und seine Stiefel durchweichte. Der Urin rann an dem Leder entlang und bildete einen kleinen nassen Fleck zu seinen Füßen. Wenn er hierblieb, brauchten sie nur um die Mauer zu spähen, um ihn zu finden.

»Schreckliche Hitze.«

»Kann man wohl sagen.«

Der Hirte bückte sich und zog am Korbhenkel der Flasche, ohne sie hochzubekommen.

»Einen Schluck?«

»Ich würd’s dir danken, alter Mann.«

Der Polizeiwachtmeister winkte mit der Hand, und einer der Männer näherte sich dem Hirten, ohne abzusteigen. Der Mann war so groß, dass das Pferd unter ihm klein wirkte. Der Reiter hielt vor dem Hirten und regte sich nicht. Der Alte bückte sich erneut und zog an dem Henkel. Der Bauch des Pferdes befand sich fast über ihm. Er packte die Flasche mit beiden Händen und schaffte es schließlich, sie bis auf Taillenhöhe hochzuhieven. Der Reiter beugte sich herunter, nahm das Gefäß entgegen und reichte es dem Anführer. Der entkorkte es und nahm einen ordentlichen Schluck. Das Wasser rann ihm übers Kinn und benetzte das staubige Tuch, das er um den Hals geschlungen trug. Als er fertig war, wischte er sich mit dem Handrücken den Mund ab und gab die Flasche dem Mann, der sie ihm gereicht hatte. Der ließ sein Pferd umkehren und bot dem anderen Reiter einen Schluck an, der nichts trank, sich aber Gesicht, Nacken und Hemd nass machte.

»Trink, Rotschopf, verdammt!«

Der Rothaarige wehrte mit der Hand ab.

»Noch weißt du nicht, ob der Alte Wein da hat.«

»Den wird er haben.«

»Ich kannte einmal einen Typen, der seit seinem zwölften Lebensjahr kein Wasser mehr trank …«

»Lass mich in Frieden!«

Der Polizeiwachtmeister wandte den Kopf ab. Er brauchte die beiden Männer nicht einmal anzublicken, damit sie auf der Stelle verstummten.

»Wir sind auf der Suche nach einem vermissten Jungen.«

Der Ziegenhirt blickte geistesabwesend in die Ferne und runzelte die Stirn, als versuchte er, sich zu erinnern. Er schätzte die Lage ab, in die der Polizeiwachtmeister ihn brachte. Ein stolzer Mann.

»Ich bin schon seit Wochen keinem Christenmenschen mehr begegnet.«

»Du musst dich reichlich einsam fühlen.«

»Die Ziegen leisten mir Gesellschaft.«

Der Rothaarige stellte sich in den Steigbügeln auf, als wollte er den Schritt lüften oder über eine Wand spähen. Er ließ den Blick über die Mauer schweifen auf der Suche nach Hinweisen. Er wirkte wie ein Ingenieur, der aus der Hauptstadt gekommen war, um die Burgruine zu begutachten.

»Ich bin mir sicher, dass du deinen Spaß mit ihnen hast.«

Der Reiter, der das Wasser gebracht hatte, brach in dröhnendes Gelächter aus, während der Polizeiwachtmeister gezwungen grinste. Der Alte ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, ebenso wenig der abwesend wirkende, den sie Rotschopf nannten. Der Alte hielt sich mit gekrümmtem Körper nur mit Mühe auf den Beinen, während der Polizeiwachtmeister sich mit den Fingern übers Kinn strich und über seine nächste Frage nachdachte.

»Du bist aber sehr weit gekommen mit deinen Tieren.«

»Ich bin Hirte. Ich suche Weideplätze.«

Der Rothaarige zog die Zügel an, und sein Pferd setzte sich in Gang. Während der Polizeiwachtmeister weiter mit dem Alten sprach, trottete es übers Schottergelände auf das Ende der Mauer zu, hinter dem der Junge verschwunden war. Der Alte zwang sich, nicht zu dem Schergen hinüberzublicken, denn jede Geste in seine Richtung würde dem Polizeiwachtmeister verraten, was er längst ahnte. Der Reiter umrundete langsamen Schritts die Ruine, und als er auf die andere Seite gelangte, war der Junge nicht mehr da. Er stieg ab und untersuchte zu Fuß das Fundament der Mauer, ohne auf die mit dem Blut des Jungen befleckten Steinsplitter zu achten. Als er in der Mitte ankam, stocherte er mit der Stiefelspitze in dem feuchten Fleck, den der Junge dort hinterlassen hatte. Mit aufgestütztem Gewehrkolben bückte er sich, hob eine Prise Sand mit den Fingern auf und hielt sie sich unter die Nase.

Auf der anderen Seite sagte der Polizeiwachtmeister in diesem Moment zum Hirten, dass das hier nicht gerade ein schattiges Plätzchen sei und dass das gleiche trockene Gras auch direkt außerhalb des Dorfes wachse. Niemand, fuhr er fort, würde hierherkommen, um ihm seine spärliche Milch abzukaufen, er hätte besser auf ihn hören sollen, damals, als er ihn zu den Stellen geführt habe, an denen er hätte weiden sollen. Er erinnerte ihn an seine Worte von einst: »In der Nähe, aber außerhalb.«

Der Rothaarige setzte seine Erkundungstour zum Turmeingang fort. Bevor er eintrat, prüfte er die runden Konturen, die in den wolkenlosen Himmel aufragten. Einige der geflohenen Tauben kehrten zurück. Vorsichtig schob der Mann seinen Kopf durch die Tür. Überall Vogelexkremente. Ausgetrocknete Kadaver zweier junger Täubchen, zerbrochene Eierschalen und Reste eines von einem Raubvogel zerfetzten Nagers. Pergamentartiges Muffeln nach Exkrementen, das den flüchtigen Geruch nach kindlichem Urin verdeckte. Der Scherge des Polizeiwachtmeisters beugte sich ins Innere des Turms vor und blickte nach oben. Nur die erste Stufe der alten Wendeltreppe war noch intakt. Darüber stieg eine Spirale aus halb herausgebrochenen Steinen an der Wand empor wie die Winde einer Schraube. Ein von Tauben hinterlassenes Gemisch aus Kot, Federn und Zweigen hatte ein Loch einbrechen lassen, das auf die obere Terrasse führte. Ohne diese Lichtquelle drei Meter über dem Boden wäre die Dunkelheit undurchdringbar gewesen.

»Komm raus, wo immer du dich befindest, Bastard!«

Die Stimme des Mannes stieg den Kolben empor, bohrte sich dem Jungen in den Schädel und wirbelte seine Gedanken durcheinander. Er zitterte auf dem Kragstein, den er mit Mühe und Not erklommen hatte, sodass er drohte, den Halt zu verlieren und abzustürzen.

»Komm raus, wenn du da drinnen bist, verfluchter Bengel!«

Der Polizeiwachtmeister und der andere Mann kamen herbei. Der Rothaarige zog den Kopf aus dem Turm zurück und wandte sich zu ihnen um.

»Im Umkreis von zehn Kilometern gibt es keinen anderen Ort, um sich zu verstecken. Entweder er ist hier oder tot.«

»Reg dich nicht auf, Rotschopf. Wenn er da drin ist, wird er herauskommen.«

»Man sieht da drinnen nichts.«

Der Polizeiwachtmeister presste die Lippen zusammen und strich sich das schon fast trockene Haar glatt. Er trat einige Meter nach hinten und inspizierte die Außenmauer des Turms. Dann kehrte er zum Eingang zurück und steckte den Kopf hinein. Mit der Stiefelspitze stocherte er im sandigen Boden und grub die Reste des Feuers aus, auf dem sie am Vorabend das Kaninchen gegrillt hatten. Er kam wieder hervor, klopfte sich mit der flachen Hand auf die Lippen und blickte den Rothaarigen an. Dann fing er an zu gestikulieren, zeigte mit gestreckten Fingern gen Himmel und hob langsam beide Arme. Wortlos entfernten sich die Männer, jeder in eine andere Richtung, während der Polizeiwachtmeister am Türsturz stehenblieb, aus der Innentasche seines Jacketts einen ledernen Tabakbeutel zog, die Kordel aufknüpfte und einen Block Zigarettenpapier herausnahm. Mit einem braunen Papierblättchen und einer Prise Tabak drehte er sich sorgfältig eine Zigarette. Als die Männer zurückkehrten, saß ihr Anführer eingehüllt in weiße Qualmwolken auf einem Felsblock. Er spielte klickend mit einem Benzinfeuerzeug.

»Im gesamten Umkreis nichts.«

Der Polizeiwachtmeister wies mit dem Daumen auf die Mauer hinter seinem Rücken, die Männer umrundeten sie und ließen ihren Anführer weiter seinen Gedanken nachhängen. Sie trafen auf den Hirten, der auf den Strohkörben saß und so tat, als lese er in seiner Bibel.

»Weg da, Alter.«

Schwerfällig rappelte der Ziegenhirt sich auf und wich zur Seite. Die Männer hoben die Tragekörbe auf und kippten den gesamten Inhalt über den Boden. Die Pfanne klirrte wie eine Glocke, als sie auf einen Stein aufschlug. Die Blechkanne versprenkelte das letzte Öl über den Staub, ohne dass der Hirte sich rührte. Die Männer schleiften die Packkörbe und den Saumsattel aus Roggenstroh hinter sich her. Im Turm zerriss der Rothaarige die Fächer des Saumsattels und schichtete einen Teil der Strohfüllung zu einer kleinen Pyramide auf. Darüber verteilte er die Reste des Tragegestells und die plattgedrückten Tragetaschen. Ein Haufen Brennstoff. Sobald der Polizeiwachtmeister das Feuerzeug dranhielt, zündete das Stroh. Die abschirmenden Turmmauern und die Gluthitze des Tages erledigten den Rest. Nach nur wenigen Sekunden überragten die Flammen die Höhe der Türangel und verloren sich im Innern des Turms. Die Männer trennten sich und schauten zu, wie die Flammen die Fasern verzehrten, die sich kräuselten, bis sie zu einem schwarzen Fadengewirr verkohlt waren. Ein paar Tauben turtelten noch in den weiter entfernten Entwässerungslöchern der Mauer.

Dem Jungen blieb keine Zeit, in Panik zu geraten. In seinem Inneren überstürzten sich alle Überlebensmechanismen, und in einem ersten Reflex presste er sich an die Wand, als verschaffe er sich so mehr Platz auf dem Kragstein. Platz, um auf die andere Seite der Röhre zu springen, über den Rauch und die Flammen hinweg. Sein Körper reagierte ganz von alleine, und zu den möglichen Alternativen zählte er nicht, sich auf die lodernden Körbe fallen zu lassen und nach draußen zu flüchten. Zur Not würde er sich vom blindwütigen Feuer aufzehren lassen wie von einem gefräßigen Frettchen, bis zum Tod.

Er war hoch genug geklettert, dass die Flammen ihm nicht die Füße verbrannten. Noch hatte auch der Rauch innerhalb des Turms genügend Raum, sodass ihm noch ein paar Sekunden blieben, bevor er ersticken und auf den brennenden Strohhaufen hinabstürzen würde.

Er tastete die Wand hinter seinem Rücken ab auf der Suche nach irgendetwas, einer Tür, die nicht existierte, oder einer Mutter, die ihm die Wunden leckte. Die Flammen beleuchteten das Turminnere, und als er einen schmalen vertikalen Schatten direkt gegenüber seiner Position erspähte, keimte überall in seinem Körper Hoffnung auf. Er vermutete ein Fenster oder eine Heiligennische auf halber Höhe, so eine, wie er sie vom Aufstieg zur Christuskapelle in seinem Dorf kannte. Er drehte sich auf seinem winzigen Vorsprung um und tastete die Wand hinter sich nach Haltemöglichkeiten ab. Überall befanden sich Schlaglöcher und Ritzen. Er klemmte die Hände in die Einbuchtungen und schaffte es mit Hilfe der Stufenreste und der Löcher, die die herausgefallenen Steine in der Mauer hinterlassen hatten, sich vorwärtszuhangeln. Irgendwann, er hatte jegliches Zeitgefühl verloren, erreichte er den Schatten. Eine vermauerte Schießscharte, die durch die Wand nach draußen führte. Er hockte sich auf den dreieckigen Sims und schob die Hand zwischen die Steine, mit denen der Durchbruch verschlossen war. Der Rauch erreichte allmählich seine Höhe. Es gelang ihm, ein paar Felsbrocken herauszuziehen. Sie fielen ins Feuer, da er in der Panik seine Bewegungen nicht mehr im Griff hatte. Zu seinem Glück war der Polizeiwachtmeister in einiger Entfernung von der Tür ganz ins Rauchen seiner Zigarette vertieft, und seine Männer unterhielten sich lautstark, darauf gefasst, dass irgendwann ein Körper hinabstürzen würde, kein Stein.

Obwohl ihm der Qualm bereits im Rücken brannte, weshalb seine Bewegungen behindert wurden, schaffte er es, sein Gesicht in die Öffnung zu zwängen, um endlich durchzuatmen. Inzwischen entwich auch Rauch durch die Öffnung, und ein paar endlose Sekunden lang musste er sich mit dem grauen Qualm, der ihm in den Augen brannte und das Haar kräuselte, arrangieren. Er presste das Gesicht so heftig gegen den Stein, dass ihm die Brandblasen von der Sonne auf den Wangen aufplatzten. Irgendwann atmete er zu viel Rauch ein und musste den Kopf zurückziehen und drinnen husten, um sich seinen Häschern draußen nicht zu verraten. Nach und nach ließen Feuer und Qualm nach, sodass der Junge den Kopf wieder aus der engen Schießscharte ziehen konnte. Als er sich mit schwarzen Fingern das Gesicht abtastete, spürte er ein juckendes Brennen.

Kaum waren die Packkörbe zu einem Haufen glühenden Fadengewirrs zusammengeschrumpft, ging der Polizeiwachtmeister wieder zum Eingang des Turms und inspizierte den Innenraum. Hastig rauchte er seine Zigarette auf, warf die Kippe auf den Boden, trat sie aus und sagte zu seinen Männern, sie würden aufbrechen. Da näherte sich der Rothaarige der Tür und horchte ins Innere des Gewölbes. Als er herauskam, flüsterte er dem Polizeiwachtmeister ins Ohr, vielleicht sollten sie noch ein Weilchen warten. Der Anführer blickte ihn verärgert an, machte eine Geste mit der Hand und hockte sich wieder auf seinen Stein, um sich eine weitere Zigarette zu drehen. Der Rothaarige kehrte zu seinem Begleiter zurück und unterhielt sich leise mit ihm, der eine mit dem Gesicht, der andere mit dem Rücken zum Turm, sodass er die weite Ebene überblickte. Sie wirkten wie Trauergäste, die ungeduldig der Beerdigung harrten. Als könnten sie es kaum erwarten, endlich wieder in die Schenke zu kommen.

Als der Polizeiwachtmeister die Zigarette zu Ende geraucht hatte, warf er die Kippe neben die vorherige und trat sie mit dem Stiefel aus. Dann rückte er sich den Hut zurecht und marschierte wortlos um die Mauer herum. Der eine Scherge stieß den anderen mit dem Ellenbogen an, und beide folgten ihrem Chef auf dem Fuße. Sie gingen zu den Pferden, die losgebunden mitten in der Ziegenherde standen, während der Alte mit geschlossenen Augen vor sich hin betete.