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Mitten in der Nacht befand er sich auf dem Weg gen Norden, stets darauf bedacht, die ausgetretenen Pfade zu meiden. Seine Hose war noch klamm, doch inzwischen hatte er andere Sorgen. Er watete durch Stoppelfelder, immer auf der Suche nach Strohresten vom letzten Schnitt, um notfalls in Deckung zu gehen. Ab und an scheuchte er ein Rebhuhn auf oder vernahm das Trippeln der Feldhasen, die vor seinen knirschenden Stiefeln Reißaus nahmen. Als der Olivenhain hinter ihm lag, hatte er keinen weiteren Plan, als den Kurs zu halten. Er wusste, wie man die Milchstraße erkannte, das w-förmige Sternbild der Kassiopeia und den Großen Bären. Ihre Position half ihm, den Polarstern zu orten, und in diese Richtung lenkte er seine Schritte.

Obwohl er noch keine vierundzwanzig Stunden auf der Flucht war, wusste er, dass es ausreichte, um im Dorf bereits eine Flut der Angst durch die Gassen zu spülen, auf das Haus seiner Eltern zu. Ein unsichtbarer Strom, der die Frauen des Dorfes mitriss und sie erst wieder beruhigen würde, wenn sie um die Mutter herumstanden, die schlaff und runzlig wie eine alte Kartoffel auf dem Bett lag. Er stellte sich vor, welch ein Aufruhr daheim und im gesamten Dorf herrschte. Menschen, die in Scharen die steinerne Brüstung seines Elternhauses erklommen, in der Hoffnung, durch den Türspalt einen Blick auf das Treiben drinnen zu erhaschen. Ihm stand das Motorrad des Polizeiwachtmeisters vor Augen, das vor dem Eingang parkte: eine robuste Maschine mit Beiwagen, auf der er kreuz und quer durchs Dorf und über die Felder brauste, dicke Staubwolken aufwirbelnd. Den Beiwagen kannte er nur zu gut. Wie oft war er schon mitgefahren, unter einer speckigen Decke verborgen. Er dachte an den schmierigen Geruch unter der Wolldecke, an die Borte aus brüchigem Wachstuch. Das Motorengeräusch bedeutete für ihn die Posaune des ersten Engels. Der, der Feuer mit Blut gemengt über der Erde ausschüttete und alles grüne Gras verbrannte.

Der Polizeiwachtmeister war der Einzige im Dorf, der ein motorisiertes Fahrzeug besaß. Seines Wissens fuhr in der Gegend nur noch der Gouverneur einen Wagen mit vier Rädern. Gesehen hatte er ihn nie, aber Hunderte von Malen die Geschichte von seinem Besuch im Dorf zur Einweihungsfeier des Getreidesilos zu hören bekommen. Die Kinder hatten zu seiner Begrüßung Papierfähnchen geschwenkt, und zur Feier des Tages waren mehrere Hammel geschlachtet worden. Wer das miterlebt hatte, beschrieb den Wagen als eine Art Wunderwerk.

Während er als winzige, dunkle Gestalt durch die urgewaltige Schwärze stapfte, fragte er sich, ob es auf der Linie zwischen seiner Position und dem Polarstern im Norden etwas geben mochte, was ihm nützlich sein könnte. Obstbäume am Wegesrand etwa, saubere Wasserquellen, anhaltende Frühlingszeiten. Es war ihm unmöglich, sich eine konkrete Vorstellung von dem zu machen, was ihn erwartete, aber das kümmerte ihn nicht. Wenn er immer nur in Richtung Norden marschierte, entfernte er sich vom Polizeiwachtmeister und von seinem Vater. Es reichte ihm, dass er fortkam. Das Schlimmste, was ihm passieren könnte, dachte er, wäre, wenn er seine letzten Kräfte damit vergeuden würde, im Kreis zu laufen oder wieder in Richtung Heimat. Er wusste, dass er früher oder später jemandem oder etwas begegnen würde. Es war nur eine Frage der Zeit. Spätestens, wenn er einmal die Welt umrundet hätte, würde er wieder auf sein Dorf stoßen. Aber wenigstens würde er bis dahin Fäuste haben, hart wie Felsklötze. Selbst wenn er keinem Menschen begegnen würde, hätte er auf seiner langen Wanderschaft genug gelernt, um dem Polizeiwachtmeister nicht mehr wehrlos ausgeliefert zu sein.

Er fragte sich, ob es ihm unter diesen Voraussetzungen möglich sein würde zu verzeihen. Ob, nachdem er den eisigen Pol, die finsteren Wälder und andere Wüsten durchwandert hätte, das Feuer, das ihn innerlich verzehrte, noch immer in ihm lodern würde. Vielleicht hätte sich die Gefühlskälte, die ihn aus seinem Elternhaus vertrieben hatte, bis dahin in Luft aufgelöst. Womöglich würden die Entfernung, die Zeit und die ständige Reibung mit der Welt seine rauhen Stellen abschleifen und ihn irgendwann besänftigen. Ihm fiel der Pappglobus ein, der in der Schule stand. Eine große Kugel, genauso breit wie ihr hölzerner Sockel, weshalb sie leicht umfiel. Mit einem Blick war zu erkennen, wo sich die staubige Ebene seiner Heimatregion befand, weil Generationen von Kindern Jahr für Jahr die Stelle, an der das Dorf lag, mit ihren Fingern abgegriffen hatten, bis das gesamte Land und das umliegende Meer weggewischt waren.

In der Ferne erspähte er etwas, das aussah wie ein Lagerfeuer. Er fragte sich, wie weit es wohl entfernt sein mochte, und hielt inne, um die Distanz abzuschätzen. Doch in dem undurchdringlichen Dunkel, das ihn umgab, war es ihm unmöglich. Er dachte, was er für ein fernes Lagerfeuer hielt, könne ebenso gut ein brennendes Streichholz wenige Meter vor seiner Nase sein oder aber ein ganzes Haus, das einige Kilometer weiter in Flammen stand.

Wie ein Indianer, betört vom Flittertand, mit dem der Konquistador lockt, zog es ihn zu dem einzigen Lichtpunkt auf der weiten Ebene. Mehr als eine Stunde durchquerte er ein Gelände aus trockenem Lehm und Steinen. Der Wind blies ihm ins Gesicht. Wer auch immer das Lagerfeuer entfacht hatte, würde ihn nicht bemerken. Ohne einen konkreten Plan marschierte er auf den leuchtenden Punkt zu, der geradeso gut das Lager eines Schäfers oder Maultiertreibers sein konnte wie das eines Wegelagerers. Er vertraute darauf, dass ihm das Feuer, sobald er nah genug dran war, weitere Anhaltspunkte geben würde. Der Gedanke, auf einen Räuber zu stoßen, bereitete ihm Angst. Er wusste auch nicht, ob um das Lagerfeuer herum nicht noch ein paar Hunde schliefen. Sicher war nur, dass er den Proviant und das Wasser desjenigen benötigte, der das Feuer angezündet hatte. Ob er darum bitten oder alles heimlich an sich nehmen würde, wollte er entscheiden, wenn er wusste, mit wem er es zu tun hatte. Er vernahm einen Chor von Glockengeläut, der aus der Richtung der Feuerstelle zu ihm herüberdrang, und das beruhigte ihn ein wenig. Dennoch bemühte er sich auf den letzten Metern um völlige Lautlosigkeit. Er setzte die Füße so behutsam auf, als liefe er über Rosenblätter. Unweit des Lagers fand er eine Hecke aus Feigenkakteen, hinter denen er sich versteckte, um sich umzuschauen.

Jenseits der Glut schlief ein Mann auf dem Boden. Obwohl er das Gesicht dem Feuer zugewandt hatte, war sein Alter nicht zu erkennen, da er von Kopf bis Fuß in eine Decke gewickelt war. Ein sanfter Schimmer begann wie eine ferne Glut am Horizont aufzuscheinen und enthüllte die Umrisse einer Baumgruppe, die die Nacht verschluckt hatte. Der Junge meinte, die Silhouetten mehrerer Pappeln auszumachen, und vermutete, dass die Herde sich aus denselben Gründen dort befand wie die Bäume. Eine Geiß tauchte aus der dunklen Tiefe auf, huschte hinter dem Hirten vorbei und verschwand wieder in den Kulissen des aufziehenden Morgens. Ihr Glockengeläut hinterließ eine Klanglinie in der Luft wie eine verknotete Saite. Seitlich ruhte ein Esel auf seinen unter der Brust geknickten Vorderbeinen. Ringsum verstreut waren reglos daliegende Ziegenkörper zu erkennen, die bald aufwachen würden. Zu Füßen des Mannes eine Hirtentasche. Eingerollt daneben ein schlafender Hund.

Im schwachen Feuerschein flackerten die Schatten wie schwarze Flammen. Der Junge schob den Kopf zwischen den Blättern der Pflanzen hervor und versuchte, den Mann grob einzuschätzen. Als er einen Stich im Arm spürte, zog er ihn ruckartig zurück, sodass der Verschluss des Leinensacks leise klickte. Der Hund öffnete die Augen und stellte die Ohren auf. Gleich darauf sprang er hoch und schnupperte nach allen Seiten in die Luft. Der Junge drückte den Arm mit der Hand fest an den Körper, als führte die verräterische Gliedmaße ein Eigenleben und würde sich jeden Moment erneut auf die Stacheln des Feigenkaktus stürzen. Der Hund wurde zusehends munterer, schnüffelte erst im Umkreis des Hirten herum, erweiterte dann seinen Radius und kam der Stelle, an der sich der Junge verbarg, immer näher. Bei genauerer Betrachtung sah der Hund nicht sehr wild aus, aber der Junge wusste, dass man dieser Art von Vierbeinern nie ganz trauen durfte. Bastarde nannte man sie im Dorf, Promenadenmischungen ohne Stammbaum, verkümmert durch unzählige Kreuzungen, denen jegliches Rassemerkmal verlorengegangen war. Wenige Meter vor ihm hielt das Tier inne, alle seine Sinne auf das Dickicht der Feigenkakteen gerichtet. Es schnupperte in der Luft. Dann plötzlich begann es, das Versteck des Eindringlings neugierig, mit wedelndem Schwanz zu umkreisen. Als der Hund ihn schließlich entdeckte, geschah das unaufgeregt und ohne Gebell. Er kam friedlich herbei und beschnupperte die Hand, die der Junge ihm hinstreckte, um zu verhindern, dass er bellte. Schließlich leckte er ihm die Hand, und der Junge verlor seine Angst, ertappt zu werden. Der ihm anhaftende Geruch nach Erde oder nach Urin schien ihn der Welt des Hundes anzunähern. Er nahm den Kopf des Tieres in beide Hände und kraulte es mit den Daumen unter dem Maul. Auf diese Weise hielt er den Hund für eine Weile ruhig. Gerade so lange, wie er brauchte, um zu beschließen, die ungeschützte Strecke, die ihn von der Hirtentasche zu Füßen des Mannes trennte, zu überwinden.

Er öffnete seinen Proviantsack und kramte die halbe ihm noch verbliebene Räucherwurst hervor. Anschließend erhob er sich und ließ den Hund dort sitzen, der ganz mit dem Beschnuppern der Fleischstange beschäftigt war, wagte sich aus der Deckung und bewegte sich lautlos auf die Hirtentasche zu. Der Feuerschein warf seinen zitternden Schatten auf die Kakteen hinter ihm. Während er sich langsam anschlich, wurde ihm auf einmal angst und bange, und schon wollte er auf dem Absatz kehrtmachen. Sich an einen sicheren Ort zurückziehen, um in Ruhe den nächsten Morgen abzuwarten und seine Möglichkeiten neu zu überdenken. Doch hinter den Kakteen zerkaute der Hund gerade seinen letzten Vorrat, und er wusste, es gab kein Zurück.

Er besann sich wieder auf seinen Plan, der so simpel wie bestürzend war. Er würde sich leise an die Hirtentasche heranpirschen, vorsichtig nach dem Riemen greifen und die Tasche ganz langsam näher zu sich ziehen. Er durfte dem Mann nicht ins Gesicht blicken, es wäre nicht nur indiskret, sondern auch riskant. Abgesehen von den Essensvorräten, deren Reste der Hund gerade verputzte, hatte er Erwachsenen noch nie etwas gestohlen, und wenn er das jetzt erneut tat, dann nur, weil ihm keine andere Wahl blieb. Die steinernen Mauern seines Elternhauses diktierten ein uraltes Gesetz, nach dem Kinder, die etwas ausgefressen hatten, den Kopf senken und den Nacken entblößen mussten wie reuige Sühneopfer. Je nach Schwere des Vergehens erhielten sie einen Klaps oder eine gehörige Tracht Prügel. Als er schon fast am Ziel war, kamen ihm erneut Bedenken, ob er die Tasche wirklich an sich nehmen sollte. Er könnte ja einfach an der Feuerstelle warten, bis der Mann erwachte. Dann würde er sich als das zu erkennen geben, was er war: ein hilfloser Junge, von dem nichts zu befürchten war. Mit ein wenig Glück würde der Mann sich als ein Ziegenhirt aus einer Nachbarregion entpuppen, den die Suche nach Resten der letzten Mahd hergeführt hatte. Ans Alleinsein gewöhnt, wäre er vielleicht sogar froh über ein wenig Gesellschaft. Er würde ihm etwas zu essen und zu trinken anbieten und irgendwann würde jeder wieder seines Weges ziehen.

Plötzlich bemerkte er ein Schnauben in seinem Rücken und erstarrte. Er rührte sich nicht, versank in einem Loch aus Angst, seine Muskeln versagten. Auf einmal war alles weg: der Hirte, die Tasche und die Herde. Vom Dunkel verschluckt, in dem seine Sinne sich auflösten. Er zitterte, sein Magen begann zu rebellieren, und etwas Hartes stieß ihn in die Rippen. Unwillkürlich schaute er hin. Es war der Hund, der ihn mit der Schnauze anstupste, die Wurstschnur zwischen den Zähnen. Er rang nach Luft, suchte am Boden Halt, bis er sich wieder fasste.

Die Hirtentasche war aus grob gegerbtem Leder. Sie roch nach getrockneter Zwiebel und Schweiß. Mit den Fingerspitzen tastete er nach dem Riemen und zupfte vorsichtig daran. Er merkte, wie schwer sie wog, und vergaß seine Skrupel. In seinem Kopf überschlugen sich die Bilder von allen erdenklichen Köstlichkeiten, und die Realität um ihn herum wurde verdrängt von dem, was sich in der Tasche verbergen könnte. Es gelang ihm, seine Beute fast geräuschlos einige Zentimeter vorzuziehen, bis er in seiner Gier dann doch so heftig daran zerrte, dass die straffe Rückseite der Tasche auf den Steinchen vibrierte wie die Haut einer Trommel.

»Wohin willst du damit?«

Wie gelähmt vernahm er die heisere Stimme auf der anderen Seite der Feuerstelle, die sein zur Fratze erstarrtes Gesicht beleuchtete.

»Ich habe Hunger, Señor.«

»Hast du nicht gelernt, bitte zu sagen?«

In dem Moment hätte er am liebsten mitsamt der Provianttasche die Flucht ergriffen und den Mann, der unter seiner Decke lag und mit ihm sprach, einfach zurückgelassen. Er fragte sich, ob sich der Hund in diesem Fall noch als zutraulich erweisen würde. Noch verstand er nichts von Anstand und Rücksichtnahme oder von der Wirkung der Zeit auf zwei Menschen, die sie nach und nach wie eine Steppnaht zusammenheftet.

»Hilf mir auf, mein Junge.«

Er ließ den Lederriemen fallen und machte ein paar winzige Schritte auf den Mann zu. Wenige Meter von ihm entfernt blieb er stehen und musterte den halb verhüllten Körper. Der Mann hatte die Decke über das Gesicht gezogen, nur von den Knien abwärts schauten die Beine hervor. Unter der Decke geriet er kaum merklich in Bewegung, vielleicht, um sich die Hose zuzubinden oder auf der Suche nach seinem Feuerzeug. Als der Hirte schließlich den Kopf hervorstreckte, war der Junge längst wieder hinter der Kakteenwand verschwunden.

Während der Junge in seinem Versteck ausharrte, zeichneten sich nach und nach im schwachen Lichtschimmer einzelne Bereiche des Lagerplatzes ab. Bei den Bäumen handelte es sich wie vermutet um Pappeln, deren Kronen nun die Spuren der Dürre erkennen ließen. Neun Ziegen zählte er und einen Bock. Dann bemerkte er einen Verschlag, der ihm vorher nicht aufgefallen war, eine pyramidenförmige Hütte aus Ästen, wohl von den Bäumen weiter hinten abgesägt. Daran hingen Gurte, Seile, Ketten, eine blecherne Milchkanne sowie eine schwarz verrußte Pfanne. Eine Hütte, die eher an ein Tabernakel erinnerte. Zwischen dem Bretterverschlag und dem Pappelhain ein Gehege, umzäunt von vier in den Boden gerammten Pflöcken, die mit Seilen aus geflochtenem Pfriemgras verbunden waren.

Während er sich umschaute, brauchte der Hirte einige Zeit, um sich aufzusetzen und eine Zigarette zu drehen. Es verstrichen mehrere Minuten, bis er sich aufgerappelt hatte, um sich aus der Decke, in der er sich verfangen hatte, auszuwickeln. Der Junge konnte das Gesicht des Mannes schlecht erkennen, schloss jedoch aus der Schwerfälligkeit seiner Bewegungen, dass er bereits älter sein müsse. Ein ausgemergelter alter Mann, der in seiner Kleidung schlief. Ein dunkles Jackett mit breitem Revers, verfilztes weißes Haar und ein Bart wie eine weiße Bürste, der unterhalb der Nase sein Gesicht bedeckte.

Der Ziegenhirt sah den Jungen hinter den Feigenkakteen hervorkommen, schenkte ihm aber, da er zu sehr damit beschäftigt war, sein Feuerzeug zu entzünden, keinerlei Beachtung. Zwei Meter vor dem Mann hielt der Junge inne. Aus der Entfernung nahm er die Strohreste im Haar des Alten wahr und die durchgewetzten Ellenbogen seines Jacketts. Er wunderte sich, dass der Hirte es so lange mit gekrümmtem Rücken am Boden sitzend aushielt. Der Hirte blickte auf und musterte den Jungen. Die Zigarette hinters Ohr geklemmt, hielt er die gestreckte Hand schützend über den orangefarbenen Docht des Feuerzeugs. Dann machte er eine Geste, die der Junge noch unzählige Male bei ihm sehen sollte. Daumen und Zeigefinger zum V geformt, säuberte er sich mit den Fingerkuppen die Mundwinkel. Anschließend fuhr er sich noch einmal mit dem Zeigefinger darüber, als wollte er die losen Haare eines Schnauzbarts wegstreichen.

»Setz dich. Du wirst etwas essen!«

Der Mann zeigte auf eine Stelle vor seinen Füßen, wo der Junge sich folgsam niederließ. Noch eine ganze Weile mühte der Hirte sich erfolglos mit dem Rädchen des Feuerzeugs ab und blies auf den Docht. Schweigend beobachtete ihn der Junge, erstaunt über das mangelnde Geschick des Alten, das Rad an der richtigen Stelle und mit ausreichendem Druck zu betätigen. Es juckte ihn in den Fingern, hatte er ein solches Gerät doch schon unzählige Male bedient.

Als der Alte seine Zigarette endlich angezündet und die ersten Züge getan hatte, stützte er sich mit der freien Hand am Boden ab und entspannte den Rücken, als hätte er sich einer lästigen Pflicht entledigt. Dann pfiff er mit gestrafften Lippen, der Hund sprang auf und trabte in Richtung Herde los, die sich allmählich zu regen begann. In wenigen Minuten kreiste der Hund eine Gruppe brauner Ziegen ein und trieb sie dem Hirten zu. Ohne sich zu erheben, fing dieser mit Hilfe eines Stocks, an dessen Ende ein stumpfer Haken befestigt war, eine Geiß an einem Hinterbein ein und zog sie zu sich heran. Mit einer Hand hielt er sie fest, mit der anderen warf er die Decke beiseite, um das Tier zwischen den Beinen einzuklemmen. Verblüfft über die unverhoffte Wendigkeit des Mannes, dem es gerade noch schwergefallen war, sich eine Zigarette anzuzünden, beobachtete der Junge diese Aktion. Als der Alte die Ziege so herumgeschoben hatte, dass sie mit dem Hinterteil direkt vor seinem Gesicht stand, stellte er einen Blechkübel unter ihr Euter. Zu Anfang prallte jeder Strahl scheppernd auf den Boden des Gefäßes und entlockte dem Blech einen metallenen Klang. Als er genug hatte, verpasste der Hirte der Ziege einen Klaps, worauf die sich mit ein paar Sätzen wieder zu den anderen gesellte. Danach streckte er das Gefäß dem Jungen hin und stellte es, als dieser sich nicht vom Fleck rührte, schließlich auf dem Boden ab, um sich wieder seiner Zigarette zuzuwenden.

Schweigend nagten sie an schwitzigen Käsekeilen, Streifen von Trockenfleisch und ein wenig hartem Brot. Der Ziegenhirt genehmigte sich lange Schlucke aus seiner ledernen Weinflasche, und der Junge überlegte, wann der Hirte ihn wohl fragen würde, wer er sei und was er an diesem Ort zu suchen habe. Er fürchtete, die Nachricht von seinem Verschwinden könne bis zu ihm vorgedrungen sein. Ihm war klar, dass er sich noch nicht weit genug vom Dorf entfernt hatte, so mühselig sich sein Abenteuer auch gestaltet hatte. Irgendwann kam ihm der Verdacht, die Freundlichkeit des Alten könne eine Finte sein, um ihn festzuhalten, bis seine Häscher oder gar der Polizeiwachtmeister höchstpersönlich ihn holen kämen. Für diesen Fall wusste er bereits, wie er reagieren würde. Er würde zu den Feigenkakteen rennen und sich zwischen den Stauden verstecken. Die scheuenden Pferde würden einen Bogen um die Stacheln machen, sich nicht hineinwagen. Wenn sie ihn heimbringen wollten, müssten sie ihn mit Gewalt hinauszerren. Sie würden sich blutig kratzen, ihre Hemden zerfetzen oder ihn vom Sattel herab mit Kugeln durchsieben und obendrein den Zeugen erschießen müssen.

Als der Alte das Frühstück für beendet hielt, griff er in ein kleines Erdloch neben sich und zog ein zerknittertes Blatt Zeitungspapier hervor. Darin wickelte er etwas Proviant ein und hielt das Päckchen dem Jungen hin, der ihn nur anstarrte, bis der Hirte es wie zuvor mit der Milch leid wurde und das Päckchen auf den Boden legte. Den restlichen Proviant verstaute er wieder in seinem Ranzen und bat den Jungen erneut, ihm aufzuhelfen. Als dieser sich ihm näherte, schlug ihm ein ganzes Gemisch von Körpergerüchen entgegen: das süßliche Aroma des Weines, das den Kopf des Hirten umschwebte, und der säuerliche Geruch der getrockneten Schweißschichten auf dessen lederner Gesichtshaut. Aufrecht stehend überragte er den Jungen kaum. Seine Hose war mit einer Kordel um die Taille gebunden, und seine Stiefel wirkten wie aus Pappe. Sobald er ihm aufgeholfen hatte, wich der Junge ein paar Schritte zurück und verfolgte aus einiger Entfernung die Bewegungen des Mannes, die von Minute zu Minute behender wurden. Wieder wunderte sich der Junge, mit welcher Leichtigkeit der Mann sich bewegte, wie er den Rücken krümmte, um die Decke aufzuheben und zusammenzufalten. Sie hing noch über seinem Arm, als er ein weiteres Mal nach dem Hund pfiff, der sogleich aufsprang und in die Richtung loseilte, in der die restlichen Ziegen weideten. Der Alte ging zur Hütte, steckte den Kopf durch die Öffnung zwischen den Zweigen, die als Eingang diente, und zog einen Korkschemel und einen Blechkübel hervor. Er nahm die Milchkanne vom Haken und trug alles in das kleine rechteckige Gehege. Derweil hatte der Hund die Herde zusammengetrieben und führte sie bellend und mit Schnappgebärden dem Hirten zu. Als sie ankamen, öffnete der Mann den Pferch an einer Ecke und drängte die Ziegen hinein. Sobald sie alle im Gehege waren, rammte er den Pflock wieder fest und verband die vier Eckpfähle mit einer groben Drahtschlinge, die an einem von ihnen herabhing. Die eng zusammengepferchten Tiere begannen heftig blökend überund untereinander zu steigen, sodass es im Gehege zuging wie in einem brodelnden Kochtopf.

Vor die Ecke, an der er die Ziegen eingelassen hatte, plazierte der Mann den Blechkübel. Boden und Öffnung des Gefäßes, das den Jungen an den Eimer erinnerte, den sie daheim benutzt hatten, um die Latrine zu leeren, hatten den gleichen Durchmesser. Der Alte drückte den Kübel fest in den staubigen Boden und drehte so lange am oberen Rand, bis er sicher stand und nicht mehr wackelte. Dann zog er eine Deichsel und drei rostige Stangen aus dem Inneren des Behälters hervor. Er reinigte den Boden um den Eimer von Lehmresten und fing an, die Metallstäbe eng um das Gefäß herum in den Boden zu bohren. Er prüfte noch einmal, ob der Kübel wirklich festsaß, dann setzte er den Schemel vor den Melkeimer und ließ sich darauf nieder. Der Junge hatte sich nicht von der Stelle gerührt und staunend alle Handgriffe beobachtet.

Von seinem Schemel aus zog der Alte den Eckpfahl wieder heraus und schuf eine Öffnung im Zaun. Schließlich streckte er eine Hand aus und packte eine der Ziegen am Bein, zog sie heraus und stellte sie mit dem Hinterteil über den Eimer vor sich. Er griff nach den Zitzen, richtete sie über dem Eimer in Position und begann zu melken. Während die Hände beschäftigt waren, blickte er zum Himmel, als suchte er nach Vorboten von Regen. Wie ein Pantograph imitierte der Junge aus der Entfernung die Bewegungen des Alten und erforschte ebenfalls den Himmel. Allmählich hellte sich das Gewölbe über ihren Köpfen auf, bis die letzten Sterne verblasst waren. Die Sonne, die sich hinter den Bergen im Osten ankündigte, würde jeden Moment über dem Gebirgskamm auftauchen. Keine Spur von Wolken.

Der Junge wandte sich dem Ziegenhirten zu. Der steckte mit dem Kopf fast im Hintern des Tieres und zerrte unwirsch an den Zitzen. Der Alte wirkte nervös. Unruhig trat die Geiß gegen das Blech und versuchte auszubüchsen, sodass der Hirte ihr die Beine an zwei Stecken festband. Erst als er fertig war, machte er die Ziege los, die sofort in Richtung Pappeln davonpreschte, um sich beim Knabbern an den Spitzen der tieferhängenden Zweige zu beruhigen.

Eine Ziege nach der anderen wurde gemolken. Der Junge sah, wie der Kübel sich füllte, und wunderte sich, was der Hirte hier in der Einöde mit der ganzen Milch anfangen wolle. Nachdem die Arbeit erledigt war, stand der Alte auf und trug den Eimer zu der Stelle, an der die Milchkanne hing, befüllte sie und schraubte den Deckel zu. Erst jetzt wandte er sich dem Jungen zu und sagte: »Mir ist egal, ob du ausgerissen bist oder dich verlaufen hast.«

Die Bemerkung traf den Jungen wie ein Schlag, und er verschwand wieder hinter einem Kaktus. Der Alte machte eine lange Pause.

»Gleich kommen ein paar Männer, um die Milch abzuholen.«