IX.

Samhain bedeutet Sommers Ende und gilt als größtes Fest in Gallien. Es wird jeweils am ersten November und in der Nacht davor gefeiert. An diesem Tag muß das Vieh von den Sommerweiden zurück sein. Die überzähligen Tiere müssen geschlachtet und gepökelt sein, und alle Abgaben und Tribute sind fällig. Jene zwölf Nachtstunden, die den Sommer vom Winter trennen, gehören den Göttern und den Toten. Es ist eine unbestimmte Zeit, weil sie nicht mehr Sommer und noch nicht Winter ist. In jenen zwölf Nachtstunden fließen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander. Die Anderswelt vermischt sich mit unserer Welt. Wer Fragen an die Götter hat, stellt sie in der Nacht von Samhain. Und ich hatte ernsthafte Fragen.

Ich ließ mir vom Mädchen aus dem Gasthof, das die meisten Boa riefen, ein saftiges Stück Wildschwein und einige Schläuche Wein bringen. Dann ließ ich mich von Fufius Citas Sklaven zum nahen Wald begleiten. Sie machten ein Feuer für mich. Sie schafften Steine zum Sitzen herbei und ordneten sie kreisförmig an. Vor jedem steinernen Sitz lag ein etwas flacherer Stein. Es war nicht nötig, die Sklaven anzutreiben. Die Sklaven gehorchten und beeilten sich. Die Angst war ihnen ins Gesicht geschrieben. Je näher die Dämmerung kam, desto schneller wurde gearbeitet. Jedes Geräusch erschreckte sie. Ständig drehten sie sich um, blitzschnell, und starrten in den Wald. Als das Feuer loderte und die Speisen und Getränke für acht Personen bereitstanden, erlaubte ich den Sklaven zu gehen. Sie sollten in den frühen Morgenstunden wiederkommen und mich abholen.

Fast alle Menschen fürchten sich vor Samhain. Sie bleiben deshalb zu Hause und setzen sich um das Feuer. Sie essen und trinken und erzählen sich Geschichten, damit die Zeit schneller vergeht. Wenn sie ein Geräusch hören, stellen sie sich taub. Sie stehen nicht auf und schauen nach. Denn sie wissen, es sind die Toten, die sie heimsuchen. Überrascht man einen Toten, ist man bereits mit einem Bein in der Anderswelt. Auch im Freien sollte man sich nicht umdrehen, wenn man Schritte hört. Man sollte wirklich zu Hause bleiben. Und genügend Speisen und Getränke für die Toten bereithalten.

Aber in dieser Nacht wollte ich sie sehen, die Toten, all jene Menschen, die mir einmal viel bedeutet hatten und jetzt in der Anderswelt lebten. Ich wollte Onkel Celtillus sprechen, ich wollte auch all die Toten aus meinem raurikischen Hof wiedersehen, meine Mutter und meinen Vater, die ich ja kaum gekannt hatte, meine Geschwister, die ich nie gesehen hatte. Für sie alle hatte ich die Speisen und Getränke auftischen lassen. Von mir aus konnten sich auch Teutates, Esus, Taranis und Epona zu mir setzen. Ich hatte keine Angst. Und sollten sie mich für meinen Hochmut in die Anderswelt mitnehmen, so war es mir einerlei. Ich war bereit. In der Anderswelt wäre ich Wanda näher. Sie wäre für immer unerreichbar, aber stets in meiner Nähe. Ich kam über die Trennung einfach nicht hinweg.

Fast andächtig nahm ich ein Stück Fleisch in den Mund und kaute es langsam. Sehr langsam. Kein Mensch könnte in der Nacht von Samhain etwas achtlos hinunterschlingen. Denn alles hat eine Bedeutung. Jede Geste wird zur Zeremonie. Die Toten sind nah. Man spürt ihr Kommen, ihre Blicke, den Atem, der einem wie ein sanfter Windstoß durchs Haar fährt. Und tatsächlich, plötzlich waren sie da, um mich versammelt. Sie setzten sich auf die Steine, die ich ihnen hatte herrichten lassen, aber sie blieben stumm und unsichtbar. Mir schien auch, sie wären traurig. Ich weiß nicht, warum. Ich gab Lucia, die zufrieden auf meinen Füßen ruhte, ein Stück Fleisch und schloß die Augen. Ich hörte nur das Knistern des Feuers. Meine Gäste blieben stumm.

Als ich die Augen wieder öffnete, hatte ich den Eindruck, wieder allein zu sein. Die Steine waren nichts als Steine, und die vollen Becher auf den Tischflächen wirkten plötzlich albern. War das schon alles gewesen? Was hatte das zu bedeuten? Hatten sie das Interesse an mir verloren? Ich legte neues Holz nach und zog meine Kapuze über den Kopf. Es war dunkel geworden. Und kalt. Ich sah in den sternklaren Himmel hinauf, und plötzlich, ich weiß nicht, warum, fragte ich mich, ob es überhaupt Götter gäbe. Ob sie nicht nur eine Erfindung der Druiden seien, um uns untertan zu machen. War es denn möglich, daß unser Leben genauso sinnlos war wie das Leben eines Wurms oder das Leben eines Busches? Insgeheim erwartete ich einen göttlichen Gegenbeweis oder gar eine Strafe der Götter. Ich erwartete, daß Taranis einen Blitz auf die Erde schleuderte. Aber nichts geschah. Kein Wind, kein Aufheulen der Wölfe, kein Regen. Meine Gedanken bewegten sich in derselben Richtung weiter. Nur wenn es keine Götter gab, war erklärbar, wieso alles, was sich zwischen Himmel und Erden abspielt, derart wirr und zufällig ist, ungerecht und sinnlos. Ich versuchte, nicht weiterzudenken, und wartete. Nichts geschah. Ich horchte. Nur der Schrei einer Eule war zu hören. Eine Eule, sonst nichts. Vielleicht gab es keine Götter. Oder gab es sie doch, und sie taten einfach nichts? Vielleicht hatten sie gar kein Interesse an uns Menschen. Vielleicht bildeten wir uns nur ein, die Götter seien für dieses und jenes verantwortlich. Vielleicht waren sie irgendwo im Universum und wußten gar nicht, daß es uns armselige Kreaturen gab. Vielleicht waren wir nicht mehr als ein Sandkorn in irgendeiner Welt. Vielleicht mußten wir unser Schicksal selbst in die Hand nehmen und Gott spielen. So, wie es Cäsar tat.

Kurz bevor ich einschlief, entschuldigte ich mich bei den Göttern. Ich sagte ihnen, daß es mir sehr leid täte, und versprach, morgen ein Opfer zu bringen. Ich sagte ihnen auch ganz offen, daß es mir wohlgetan hatte, ein bißchen zu stänkern. Und ich gab ihnen den Rat, doch mal über meine Vorwürfe, oder sagen wir mal, über meine Gedanken nachzudenken. Als ich langsam eindöste, bereute ich, Samhain im Freien verbracht zu haben. Es war kalt. Und ich mußte einfach hinnehmen, daß alle Götter, egal ob griechisch, römisch oder keltisch, parteiisch und ungerecht waren. Ich denke, wenn man einen gerechten Gott erwartet, verliert man den Glauben. Wenn man hingegen einsieht, daß da oben göttliches Gesindel sein Unwesen treibt, geht es in Ordnung. Nur dann kann man verstehen, wieso unsere Götter zuließen, daß ein Römer unser Land überfiel, ganze Stämme ausrottete, unsere Heiligtümer plünderte und dabei ständig vom Glück begünstigt blieb. Alles Gesindel, oben und unten!

Im Morgengrauen weckte mich Lucias Knurren. Am Waldrand waren Rehe aufgetaucht. Ich strich Lucia kurz über die Schnauze. Das war der Befehl, sich ruhig zu verhalten. Die Rehe kamen etwas näher. Es war ein ganzes Rudel. Instinktiv dachte ich an Onkel Celtillus. Vielleicht hatte er in der Nacht andere Orte besucht.

»Onkel Celtillus?« flüsterte ich.

Das eine Reh hob den Kopf und hielt die Nüstern in den Wind. Plötzlich sprang es mit eleganten, großen Sätzen in den Wald zurück. Die andern folgten ihm. Mir war, als hätte ich das Lächeln von Onkel Celtillus gesehen. Als hätte er zu mir gesprochen. Ich hatte nichts gehört. Keinen Laut. Aber ich hatte das Gefühl, Onkel Celtillus hatte mich beschwichtigt und mir Mut zugesprochen, als hätte er gesagt, mir würde geholfen werden. Doch wenig später war das Leuchten in mir bereits wieder erloschen. Prophezeite ich nicht vielen Ratsuchenden, daß ihnen geholfen würde, nur weil ich wußte, daß ihnen das die Kraft gab, sich selbst zu helfen. Jaja, es ist ernüchternd, wenn man die Tricks der Seher und Weissager kennt.

Im Osten ging die Sonne auf, aber die Sklaven des Fufius Cita waren immer noch nicht gekommen. Ich war wütend. Samhain hatte mich enttäuscht. Keine Zeichen der Götter, keine Spur von Onkel Celtillus. Und jetzt ließ man mich einfach hier sitzen mit all dem Geschirr und den vollen Trinkschläuchen. Mühsam sammelte ich alles ein, verstaute es in Leinensäcken und band es an meinem Pferd fest. Ich nahm mein Pferd beim Zügel und suchte eine geeignete Stelle, um aufzusteigen. In der Nähe war ein Baumstrunk. Ich führte das Pferd nahe heran, bestieg dann den Baumstrunk und versuchte das eine Bein über den Pferderücken zu heben. Doch die nächtliche Kälte hatte meine Glieder steif und hart gemacht. Ich schaffte es nicht. So humpelte ich schließlich neben meinem Pferd zum Oppidum der Carnuten zurück. Kurz vor Cenabum fand ich dann doch noch eine geeignete Stelle, wo ich bequem aufsteigen konnte.

Cenabum, die Hauptstadt der Carnuten, war in Aufruhr. In der Nacht hatten Unbekannte die Lagerhäuser der römischen Kaufleute in Brand gesetzt. Durch die Straßen zogen johlende junge Kelten und feierten. Im Händlerviertel sah ich Fufius Cita. Sein Kopf steckte auf einem Speer, den ein paar besoffene Krieger wie eine Standarte vor sich hertrugen. Es war mir fast peinlich, einfach so an ihm vorbeizulaufen. Instinktiv warf ich meinen römischen Kapuzenmantel ab. Trotz der Kälte. Aber es konnte nicht schaden, wenn mich die Besoffenen gleich als Kelten erkannten. Im Händlerviertel lagen die römischen Kaufleute wie Küchenabfälle auf den Straßen. Einige hatte man einfach aus den Fenstern geworfen. Sie lagen tot im Straßendreck und wurden von Hundemeuten beschnuppert. Andere lagen erschlagen vor ihren Geschäften. Einen hatte man in Papyrus gewickelt und angezündet. Die ausgelassene Stimmung glich einem Volksfest. Die Schreibkanzlei von Fufius Cita war völlig verwüstet. Türen, Tische und Regale waren mit wuchtigen Axthieben zertrümmert worden. Vermutlich brannten alle seine Lagerhäuser unten am Fluß. Zwischen Holzlatten und Hunderten von Papyrusrollen entdeckte ich einen Fuß. Ich kniete nieder und legte den Körper frei. Es war einer von Fufius Citas Mitarbeitern. Er lag auf dem Bauch. In seinem Rücken klaffte eine riesige Wunde. Vermutlich war er mit einem Axthieb von hinten niedergestreckt worden. Unter einem Regal entdeckte ich einen weiteren Angestellten. Er lag zusammengekrümmt unter einem Haufen Holzplanken. Seine blutroten Hände waren an seinen Bauch gepreßt. Den Kopf hatte er wild nach hinten geworfen. Er muß qualvoll verblutet sein.

»Korisios!«

Boa, das Mädchen von der Gaststätte, stürzte herein.

»Sie töten alle Römer. Alle Händler und Verwaltungsbeamten!«

Sie warf mir einen rotkarierten keltischen Wollmantel zu.

»Zieh dir das über! Wer weiß, was sie noch alles anstellen! Wo ist dein römischer Kapuzenmantel?« flüsterte sie.

»Ich habe ihn unterwegs weggeworfen.«

»Gut, Korisios, das heißt, nein, ich hätte den Stoff gebrauchen können. Aber gut, daß er weg ist.« Boa war ziemlich durcheinander.

»Was ist denn eigentlich los hier?«

Boa drehte sich um. Nun stand sie vor mir und strahlte mich an. Sie gab mir einen heftigen und langen Kuß und flüsterte dann: »Gallien wird wieder frei, Korisios. Die Kelten haben sich unter der Führung des Arvernerkönigs zusammengeschlossen, um gemeinsam gegen Cäsar zu marschieren!«

»Seit wann haben die Arverner einen König?« fragte ich voller Zweifel.

»Er heißt Vercingetorix«, strahlte das Mädchen. »Er soll von sehr hohem Wuchs und sehr schön sein. Er hat bereits ein riesiges Heer aufgestellt. Alle Stämme müssen ihm Krieger schicken und sich seinem Kommando unterordnen. Zum ersten Mal haben wir einen Feldherrn. Einen für Gallien! Vercingetorix!«

Draußen zogen bereits keltische Krieger durch die Straßen und skandierten den Namen des jungen Arvernerkönigs.

»Wo ist Vercingetorix?« fragte ich Boa. »Ich muß sofort zu ihm!«

Das Mädchen trat erschrocken einen Schritt zurück.

»Was hast du vor, Korisios?«

»Ich habe Karten, in denen alle römischen Proviantlager eingezeichnet sind! Wenn Vercingetorix diese Karte hat, kann er Cäsars Heere vernichten, ohne daß er sie jemals zu Gesicht bekommt.«

Das Mädchen half mir die Papyrusrollen zusammenzusuchen. Sie wickelte sie in ein großes Stück Leder und verschnürte die Riesenrolle mit Schnüren.

Dann brachte sie mich zu den Kriegern, die sich bereits auf dem Marktplatz versammelt hatten, um sich Vercingetorix anzuschließen. Der carnutische Fürst Gedomo führte sie an.

»Fürst!« rief ich. »Nehmt mich mit, ich muß sofort zu Vercingetorix!«

»Was hast du in deinem Lederpaket?«

»Papyrusrollen!«

Die Krieger grölten vor Lachen.

»Es ist der Schreiber von Fufius Cita!« schrie einer.

»Verbrennt diese Rollen! Rom soll brennen!«

»Und sein Schreiber dazu!« röhrte eine heisere Stimme.

»Er ist ein keltischer Druide!« schrie Boa. Junge Krieger drückten sie mit ihren Pferden zur Seite.

»Ich bin Korisios vom Stamme der Rauriker«, schrie ich, während auch ich immer dichter von berittenen Kriegern bedrängt wurde. »Auf diesen Rollen sind alle römischen Proviantlager eingezeichnet.«

Gedomo entriß sie mir und warf sie in hohem Bogen in Richtung eines brennenden Lagerhauses. Sofort stürzten sich junge Krieger, die ohne Pferd gekommen waren, auf die Rollen und warfen sie ins Feuer.

»Nieder mit Rom! Tod den Römern!«

»Fürst Gedomo!« brüllte ich. »Diese Rollen waren für Vercingetorix! Es steht dir nicht zu, sie zu verbrennen.«

Die carnutischen Krieger lachten und ließen, auf dem Rücken ihrer Pferde sitzend, den Weinschlauch kreisen, während die jungen Kelten meine Papyrusrollen einzeln ins Feuer warfen. Ich wollte hinüberreiten, und ihnen die Rollen entreißen, doch die anderen Kelten kesselten mich ein. Ich riß das goldene Amulett mit dem Ebergott Euffigneix von meinem Gurt und hielt es hoch.

»Das ist der Gott des Arvernerkönigs! Er hat ihn mir geschenkt, damit ich eines Tages zu ihm zurückkehre! Für ihn habe ich die Karten angefertigt! Für ihn, ihr Narren! Für ihn und ein freies, geeintes Gallien!«

Ich glaube, all die Rufe, die Vercingetorix und das freie Gallien hochleben ließen, blieben ihnen im Halse stecken. Gedomo hob die Hand, damit alles schweige.

»Bist du wirklich Druide?«

»Ja«, fauchte ich, »und die Götter werden jeden verfluchen, der vernichtet hat, was für Vercingetorix bestimmt war!«

Gedomo riß die Augen weit auf und preschte zum brennenden Lagerhaus hinüber, wo die Jungen die Papyrusrollen genußvoll ausrollten und langsam verbrannten.

»Aufhören!« brüllte er. »Aufhören, oder ihr werdet von den Gottesdiensten ausgeschlossen!«

Doch es gab nichts mehr zu retten. Das Feuer hatte seine Arbeit bereits vollendet. Der große Gedomo sah aus wie ein kleiner, dummer Junge. Er kam wieder zu mir zurück, wußte aber nicht, was er sagen sollte. Schließlich brummte er: »Was meinst du, Druide, ist das mit einem Goldschüsselchen wiedergutzumachen.«

»Nein«, fauchte ich, »und nochmals nein. Die Götter sind stinksauer! Und du kannst froh sein, daß ich ein ausgesprochen gutes Gedächtnis habe. Vielleicht schaff ich es, die Karte mit den Proviantdepots nochmals zu malen.«

»Du meinst, du könntest das schaffen, Druide?« fragte er ungläubig.

»Bring mich zu Vercingetorix! Aber schau zu, daß mir unterwegs nichts passiert. Ein gutfunktionierendes Gedächtnis braucht genügend Flüssigkeit und Nahrung …«, herrschte ich ihn an. Ich schrie mir förmlich die Angst, die ich soeben ausgestanden hatte, von der Seele.

»Jaja«, flüsterte Gedomo und winkte einen jungen Kelten herbei. »Sorge dafür«, rief er diesem zu, »daß dem Druiden nichts passiert! Ich mache dich und deine Brüder persönlich für sein Wohl verantwortlich!«

»So sei es, Gedomo!« brüllte der junge Kelte, und seine Brüder stießen johlend ihre Schwerter in den Himmel. Es war für sie offenbar eine Ehre, einen Druiden beschützen zu dürfen.

Ich verabschiedete mich von Boa, zurückhaltend, wie es sich für einen Druiden in der Öffentlichkeit gehört. Es fiel mir schwer. Während der langen Winternächte hatten wir uns gegenseitig ein bißchen Wärme und Halt gegeben. Wie zwei Verirrte in der Nacht.

»Boa«, sagte ich leise, »vielleicht kommt eines Tages ein Grieche und fragt nach mir. Dann sag ihm, daß ich zu Vercingetorix reite. Und anschließend nach Massilia. Er soll mir folgen.«

»Wie heißt der Grieche?« fragte Boa.

»Krixos. Er ist mein Sklave, aber sei nicht erstaunt, wenn er sich als Freigelassener oder Händler ausgibt. Er heißt Krixos, hörst du?«

»Ja«, sagte Boa und streichelte unauffällig mein linkes Bein. »Kommst du eines Tages wieder?«

Ihre Augen waren feucht.

»Nein, Boa. Wir werden uns nie mehr sehen.«

Wenig später ritten wir los, Vercingetorix' Heer entgegen. Ich erfuhr, daß die druidischen Oberhäupter Galliens bei ihrem jährlichen Treffen im Wald der Carnuten den heiligen Krieg beschlossen hatten. Und der junge Arvernerkönig Vercingetorix, der seit Monaten für diese Idee warb, sollte diesen Feldzug anführen. Die Druiden kehrten zu ihren Stämmen zurück und befahlen ihren Fürsten, sich bedingungslos mit allen ihren Kriegern und Klienten dem Befehl des Arverners unterzuordnen. Häduer, Arverner, Sequaner, sie sollten plötzlich alle gemeinsam unter einem Befehl kämpfen. Die Druiden machten das Unmögliche wahr. Ein vereintes Gallien unter einem Oberkommando. Cäsars Stunden schienen gezählt.

Ich war eigentlich nicht sehr erstaunt, als ich hörte, daß der ungestüme Vercingetorix mit seinen heißblütigen Anhängern in sein Oppidum zurückgekehrt war, alle seine Feinde erschlagen hatte und sich zum König hatte ausrufen lassen. Geduld war nicht seine Stärke. Aber um Cäsar zu besiegen, würde er Geduld brauchen.

Über die Stärke seines Heeres gab es die wildesten Gerüchte. Viele hielten es für einen großen Vorteil, daß Vercingetorix jahrelang mit seinen Leuten als Reiteroffizier in Cäsars Heer gedient hatte. Mit ihm würde ein Kelte gegen Cäsar antreten, der mit der römischen Kriegsführung bestens vertraut war. Er kannte die Ausrüstung, und was noch wichtiger war: Er kannte den Prokonsul Gaius Julius Cäsar persönlich! Ich war mir sicher, daß wir siegen würden.

Vercingetorix empfing mich mit offenen Armen. Er preßte mich derart fest an sich, daß ich den Halt unter den Füßen verlor. Als er mich wieder absetzte, um mich näher betrachten zu können, fiel ich rückwärts in die Arme der jungen Brüder, die mich die ganze Reise über fürstlich betreut und verwöhnt hatten. Vercingetorix strotzte nur so vor Kraft und Energie. Nichts sollte dem Zufall überlassen werden. Ich drückte ihm die goldene Euffigneix-Statue in die Hand: »Du wirst sie jetzt brauchen, Vercingetorix, König der Arverner und Anführer der keltischen Stämme!«

Er ließ die kleine Statue in seiner kräftigen Hand verschwinden. »Du bringst mir Glück, Druide. Komm in mein Zelt. Die carnutischen Kundschafter haben mir angekündigt, daß du Karten mit allen römischen Stützpunkten zeichnen kannst.«

Ja, die Druiden haben durchaus recht, wenn sie behaupten, daß das geschriebene Wort das Gedächtnis verfaulen läßt wie einen wurmstichigen Apfel. Wer hingegen jahrelang Hunderte von Versen auswendig gelernt war, verfügt über ein ausgezeichnet geschultes Gedächtnis. Ich hatte überhaupt keine Mühe, ohne Vorlage eine genaue Karte Galliens anzufertigen. Mit sicherem Strich skizzierte ich die Flüsse und Berge, schraffierte Wälder und zeichnete die römischen Proviantlager und Versorgungsrouten ein.

Bewundernd schaute mir Vercingetorix über die Schulter: »Dieser Julier wird hier verhungern«, murmelte er. »Ich werde ihn mit seinen eigenen Waffen schlagen. Jetzt wird sich endlich zeigen, ob er tatsächlich von den Göttern begünstigt ist.«

Vercingetorix zeigte auf die Karte und tippte mit dem Finger auf Narbo, das etwas westlich von Massilia liegt. »Hier ist Cäsar. Er sichert die Grenzen seiner Provinz, und hier oben«, er zeigte auf eine Stelle östlich von Cenabum, »hier oben, bei den Senonen und Lingonen, überwintern seine Legionen. Und wir sind dazwischen. Hat Cäsar nicht immer gepredigt, daß man die gallische Wildsau nicht auf einmal verzehren soll? Ich werde es ihm gleichtun. Eine Legion nach der andern!«

Cäsar ahnte, daß sich in diesem siebten Kriegsjahr etwas Besonderes zusammenbraute. Nahezu alle Stämme Galliens hatten sich mittlerweile dem Oberbefehl des charismatischen Heerführers Vercingetorix unterstellt. Die Häduer zögerten noch. In Eilmärschen zog Cäsar mit frisch ausgehobenen Truppen über die zu dieser Jahreszeit noch völlig verschneiten Cevennen. Doch Vercingetorix griff ihn nicht an. Er ließ Cäsar ungehindert durch das Land der immer noch mit Rom verbündeten Häduer marschieren. Die keltischen Fürsten drängten den Arverner jedoch zum Kampf. Sie hatten zuwenig Nahrung, um ihre Krieger und Klienten bei Laune zu halten.

»Wieso greifst du ihn nicht endlich an?« fragte ich Vercingetorix eines Abends. Mittlerweile erledigte ich seine Korrespondenz, so wie ich es für Cäsar getan hatte.

»Du meinst, wenn ich ihn nicht angreife, wird die Verpflegung knapp? Dann meutern meine Leute und kehren zu ihren Stämmen zurück?«

Ich nickte.

»Das ist schon möglich, Druide. Aber was passiert, wenn die Legionäre nichts mehr zu essen haben? Werden sie auch meutern?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube nicht.«

Vercingetorix lachte. »Vielleicht werden sie tatsächlich nicht meutern. Sie werden verhungern. Denn der Prokonsul hat mich einmal gelehrt, daß der Hunger das Eisen besiegt. Wozu soll ich also noch mehr keltisches Blut opfern?«

Cäsar hatte gut vorgesorgt. Es fehlte ihm an nichts. In Eilmärschen erreichte er Cenabum und legte es in Schutt und Asche. Arme Boa. Ich glaube nicht, daß sie überlebt hat. Cäsar vereinte sich mit dem übrigen Heer und marschierte direkt auf das Land der Arverner zu. Er hoffte, damit die treibende arvernische Kraft von der gesamtgallischen Koalition zu sprengen. Aber Vercingetorix reagierte nicht. Er blieb unsichtbar. Er mied die Schlacht. Doch überall, wo Cäsars Herr eintraf, brannten die Städte und Proviantlager, waren die Felder verwüstet und die Tiere verschwunden. Während die Legionäre bereits auf Notrationen umgestellt wurden, mußte Cäsar immer größere Einheiten losschicken, um die Nachschubwege zu sichern. Etliche Einheiten kamen nie mehr zurück. Es gab wohl in ganz Gallien nichts Gefährlicheres, als auf römischen Nachschubwegen zu reiten.

Die Legionäre wurden immer ungeduldiger. Sie hatten Hunger. Und überdies schien es, als hätten die keltischen Götter endlich eingegriffen: Es regnete sintflutartig. Cäsars Armee versank hungernd im Schlamm. Cäsar blieb nichts anderes übrig, als bei strömendem Regen vor seine ausgezehrten Soldaten zu treten, und ihnen den Rückzug in die Heimat zu erlauben. Natürlich war dies bloß ein geschickter Schachzug. Die Legionäre waren beschämt. Jetzt wollten sie Cäsar erst recht zeigen, wozu sie imstande waren. Den Ausschlag gab schließlich einmal mehr der geniale Mamurra.

Er rollte seine raffinierten Belagerungstürme an die Mauern der biturigischen Hauptstadt und ließ Hunderte von Mehrladegeschützen, Sturmlauben und Mauersicheln herstellen. Avaricum, das Oppidum zwischen dem Land der Carnuten, der Häduer und der Arverner, fiel. Und es fiel tief. Vierzigtausend Einwohner wurden von blindwütigen Legionären ermordet, fast jede Frau wurde vergewaltigt. Selbst Säuglinge wurden verstümmelt und mit Katapulten in den Himmel geschossen. Achthundert ließen sie am Leben, damit sie Vercingetorix und den andern erzählen konnten, was sich an jenem Tag ereignet hatte.

Doch Vercingetorix' Position wurde dadurch nicht geschwächt. Im Gegenteil. Hatte er nicht lauthals die freiwillige Verbrennung des biturigischen Oppidums gefordert? Die Ausrottung der Stadtbewohner lieferte den Beweis, daß Vercingetorix' Strategie der verbrannten Erde richtig war. Nur die Bituriger hatten sich Vercingetorix' Befehl widersetzt. Und nur sie waren Cäsar unterlegen. Selbst die Häduer mußten nun eingestehen, daß Vercingetorix durchaus Ahnung hatte. Dennoch konnte es sich Cäsar erlauben, sein gesamtes Nachschublager mitsamt der Kriegskasse und allen gallischen Geiseln in der häduerischen Stadt Noviodunum unterzubringen.

Nachdem Cäsar anfangs des Jahres alles unternommen hatte, um sich mit seinem Heer zu vereinen, mußte er sein Heer nun wegen der nach wie vor prekären Versorgungslage wieder teilen. Der treue Labienus zog mit vier Legionen in den Norden, während Cäsar mit sechs Legionen ins Land der Arverner zog.

Er wollte Vercingetorix ins Herz treffen. Er wußte, daß keine Stadt in Gallien Mamurras genialen Belagerungswaffen standhalten konnte. Doch Gergovia, die Hauptstadt der Arverner, war eine hochgelegene Festungsstadt mit unzugänglichen Anfahrtswegen, so daß sich Cäsar die Zähne daran ausbiß. Gallien frohlockte. Selbst die Häduer erhoben sich gegen den Prokonsul. Jetzt glaubten auch sie, daß Cäsars Zeit in Gallien vorbei war. Cäsar brach die Belagerung von Gergovia ab und zog, unter dem Hohngelächter der Verteidiger, eilig ins Land der Häduer. Nachdem er die Häduer gescholten und diese sich untertänigst entschuldigt hatten, kehrte Cäsar vor die Mauern Gergovias zurück. Er brauchte einen Verbündeten in Gallien, deshalb die Milde den Häduern gegenüber. Aber was er noch dringender brauchte, war die Einnahme von Gergovia. Die arvernische Hauptstadt mußte fallen. Doch Vercingetorix operierte geschickt. In kleinen Gruppen griffen die ortskundigen Krieger Tag und Nacht die römischen Flanken an, schlugen blitzschnell zu und galoppierten wieder davon. An einem einzigen Tag fielen sechsundvierzig Centurionen und siebenhundert Legionäre. Cäsar gab die Belagerung auf.

Das war die erste große Niederlage des Prokonsuls auf gallischem Boden. Vercingetorix hatte Cäsar bezwungen.

Die Häduer änderten darauf erneut ihre Meinung und ermordeten in Noviodunum die römische Besatzung, die Cäsar zur Bewachung der Kriegskasse, der Vorräte und des schweren Gepäcks zurückgelassen hatte. Mit den Häduern verlor Cäsar seine letzten Verbündeten in Gallien und sein gesamtes Reisegepäck. Er wollte den erneuten Verrat der Häduer rächen. Doch als er auf die Stadt zumarschierte, brannte sie bereits lichterloh. Die Häduer hatten allen Proviant weggebracht oder vernichtet. Cäsar war am Ende. Seine Soldaten hungerten wieder. Mancher Offizier hatte all sein Hab und Gut verloren, das er in Noviodunum zurückgelassen hatte.

Die Gallier hatten endlich zu einem Zusammengehörigkeitsgefühl gefunden. Eine gesamtgallische Versammlung wurde in Bibracte einberufen, dort, wo Cäsar einst die Helvetier besiegt hatte. Die Zusammenkunft der gallischen Stammesfürsten wurde zum großen Triumph des Vercingetorix. Er wurde in seinem Oberbefehl bestätigt. Er hatte nun die Wahl, Cäsar mit seinem ausgehungerten Heer in seine Provinz zurückzujagen oder im Norden gegen Labienus' Legionen zu kämpfen. Labienus schleppte sich mit seinen Soldaten nach Lutetia, um die Stadt einzunehmen und seine Männer verpflegen zu können. Doch als Labienus nahte, lag auch diese Stadt bereits in Schutt und Asche, und die Kuriere, die von ihren schweißnassen Pferden stiegen, brachten die Meldung von Cäsars Scheitern vor den Toren Gergovias. Labienus wurde klar, daß das gallische Abenteuer zu Ende ging. Er eilte in den Süden, Cäsar entgegen. Gemeinsam wollten sie in die römische Provinz flüchten. Dachte Vercingetorix. Deshalb heftete er sich an die Fersen des fliehenden Cäsars und griff seine lange Marschkolonne von drei Seiten an.

Im Grunde genommen wollte Vercingetorix nur noch vollenden, was er bereits vollbracht hatte. Die Befreiung Galliens. Doch Cäsar hatte mittlerweile seine davongelaufene keltische Reiterei durch germanische Reiter ersetzt. Und es waren ausgerechnet diese germanischen Reiter, die den ersten Angriff der gallischen Reiterei abwehrten. Sie schlugen die Reiter des Vercingetorix in die Flucht und nahmen die Verfolgung auf. Und dann geschah das Unfaßbare: Die Gallier zogen sich in einem heillosen Durcheinander zurück, während die römischen Legionäre neuen Mut schöpften und die Fliehenden verfolgten. Vercingetorix flüchtete mit seinen Männern in die befestigte Stadt der Mandubier. Sie liegt auf einer steilen Anhöhe. Sie heißt Alesia.

In Alesia gibt es eine Gaststätte. Die Fassade ziert ein weißer Hirsch, obwohl sie ›Gaststätte zum goldenen Eber‹ heißt. Vercingetorix dachte, es bringe ihm Glück, wenn er seine engsten Vertrauten in dieser Gaststätte unterbringen würde. Siegessicher stand er vor der ausgebreiteten Karte von Gallien und nahm den Weinbecher, den ein Offizier ihm reichte.

»Cäsar wird sich erneut die Zähne ausbeißen«, lachte er. Er schaute kurz zu mir rüber. Es muß ihm aufgefallen sein, daß ich sehr ernst war, denn er fragte mich, was ich von seinem Plan hielt. Die Offiziere und Adligen hatten sich daran gewöhnt, daß Vercingetorix immer besonderen Wert auf meine Meinung legte. Sie standen um den großen Tisch herum und starrten mich an.

»Cäsar hat einen Mamurra«, begann ich leise. »Er nimmt jede Stadt im Handumdrehen ein.«

Die Offiziere lachten. »Und was war in Gergovia?« schrien einige verärgert und vom Wein schon arg benebelt.

»Alesia hat nicht die Beschaffenheit von Gergovia. Gergovia ist nicht Alesia. Wenn es etwas gibt, das die Römer besser können als alle anderen Völker unter der Sonne, dann ist es die Belagerung einer Stadt!«

»Er wird die Stadt nicht lange belagern können«, lachte Vercingetorix, »denn den Römern geht der Proviant aus. Und ich werde wie in Gergovia Tag und Nacht berittene Einheiten losschicken, um ihnen den Schlaf und die Centurionen zu rauben.«

»Ich weiß nicht«, sagte ich vorsichtig, »aber aus dem Norden naht Labienus. Er will sich Cäsar anschließen.«

»Labienus wird vorher verhungern«, sagte ein Offizier.

»Wieso besinnen wir uns nicht auf das, was uns den großen Erfolg gebracht hat? Auf den Bewegungskrieg, auf die Vermeidung der Schlachten, auf das Aushungern der römischen Truppen!«

»Wenn Cäsar Gallien lebend verläßt, wird er eines Tages mit zwanzig Legionen zurückkehren. Es ist nicht damit getan, Cäsar zu besiegen«, sagte Vercingetorix ernst. »Wir müssen ihn und seine Legionen vernichten, auf daß Roms größte Niederlage den Namen Alesia trage. Im übrigen war es nicht die Beschaffenheit Gergovias, die Cäsars Belagerung zum Scheitern brachte. Die fortwährenden Angriffe unserer Reiter haben seine Männer zermürbt und ihn zum Aufgeben gezwungen. Bis Labienus eintrifft, wird Cäsars Heer schon stark dezimiert sein. Und während wir hier bestens versorgt sind, werden sie dort draußen nichts mehr zu beißen haben.«

Als ich am nächsten Morgen aufstand und zur Stadtmauer hochstieg, hatte ich ein ziemlich mieses Gefühl. Cäsar war über Nacht nicht abgezogen. Nein, seine Pioniere hoben Gräben aus. Um die ganze Stadt herum. Unter Mamurras Anleitung bauten sie einen Befestigungsring von zwölf Meilen. Es war nicht zu fassen, aber dieser Julier schloß uns förmlich ein! Um die ganze Stadt herum zog er einen lückenlosen Ring von Gräben, Wällen, Palisaden und Türmen. Es waren die Kelten, die plötzlich in der Falle saßen. Vercingetorix reagierte schnell. Er schickte den größten Teil seiner Reiterei aus der Stadt, denn hier würden sie uns nichts mehr nützen. Im Gegenteil – je weniger Mäuler zu stopfen waren, desto länger würden unsere Vorräte reichen. Vercingetorix gab ihnen den Befehl, in ganz Gallien ein zweites Heer zusammenzustellen und nach Alesia zu führen. Hier sollte sich das Schicksal des keltischen Volkes in Gallien entscheiden.

Cäsar konnte den Ausbruch der keltischen Reiterei nicht verhindern. Es war ein offenes Geheimnis, daß sich in Gallien ein zweites Heer sammelte. Doch Cäsar dachte nicht an Abzug, nein, jetzt zog dieser Verrückte noch einen zweiten, nach außen gerichteten Verteidigungsring. Wiederum mit Gräben, Wällen, Palisaden, Türmen, Fallgruben und Pferdefallen.

Zwischen diesen beiden Ringen stapelten sich die Vorräte der fünfzigtausend Legionäre und siebentausend Reiter. Cäsar hatte den Spieß umgedreht. Jetzt würde sich zeigen, wer wen aushungerte.

»Hast du mir nicht den Sieg prophezeit, Druide?« fragte Vercingetorix, als wir von der Stadtmauer auf die gespenstisch flackernden Lagerfeuer der römischen Legionäre blickten. Es war eine tiefschwarze Nacht. Ich hatte Mühe zu verstehen, wie Cäsar in einer schier aussichtslosen Situation einen derart tollkühnen Plan entwickeln konnte. Er spielte sein altes Spiel: alles oder nichts. Und spekulierte auf die Hilfe der unsterblichen Götter.

»Ich habe dir nie den Sieg versprochen, Vercingetorix. Ich habe nur gesagt, daß Cäsar besiegbar ist. Aber ich habe nicht gesagt, daß Cäsar besiegt werden würde.«

»Aber du hast prophezeit, daß ich es vollbringen kann.«

»Ja. Aber nicht, daß du es vollbringen wirst.«

Vercingetorix schien verärgert. Ungeduldig rieb er seine Hand auf dem Stein der Burgmauer. Plötzlich löste sich ein kleines Stück und fiel hinunter. Wir hörten den dumpfen Aufschlag. Es schien so, als würde ihm das Glück zwischen den Fingern zerrinnen.

»Ich habe heute nacht eine schwierige Entscheidung zu treffen.« Vercingetorix schaute mich prüfend an. Ich ahnte, daß ich davon betroffen sein würde.

»Wir sind achtzigtausend Leute in diesem verfluchten Alesia. Und wir haben kaum noch zu essen.«

Ich schaute wieder hinüber zu den Lagerfeuern. Cäsar hatte die Versorgung seiner Legionäre sichergestellt. Die Stimmung schien gut.

»Wer keine Waffen tragen kann, muß bis zum Morgengrauen Alesia verlassen haben«, sagte Vercingetorix abrupt. Dann umarmte er mich und wünschte mir viel Glück.

Es gibt Ideen, für die ganze Generationen geopfert werden. Es gibt auch Ideen, für die man alle seine Prinzipien opfert, alles, woran man bisher geglaubt hat. Im Morgengrauen fand ich mich inmitten von klagenden Frauen und weinenden Kindern. Wir waren zum Tod verdammt. Langsam schritten wir unter dem Stadttor hindurch in unser Verderben. Viele Alte waren krank und schwach. Sie mußten von den Frauen gestützt werden. Ich hatte genug damit zu tun, das Gleichgewicht zu halten. Von allen Seiten wurde man geschubst. Es wurde geflucht und geweint. Der eine bettelte um Essen, der andere verlangte nach einer Decke. Schließlich trat ich in ein Loch und fiel der Länge nach hin. Ich blieb liegen. Mein Onkel Celtillus hatte mich gelehrt, wieder aufzustehen. Aber ich blieb liegen. Vorne war der innere Verteidigungsring, mit dem Cäsar Alesia eingeschlossen hatte. Es gab kein Entkommen. Die kretischen Bogenschützen standen sicher hinter ihrem Palisadenzaun und streckten jeden nieder, der dem Graben zu nahe kam. Ich setzte mich ins Gras und drückte Lucia an meine Brust. Der Troß der Ausgestoßenen näherte sich dem römischen Belagerungsring. Als die Legionäre sahen, daß im Niemandsland zwischen der Stadtmauer und ihrer inneren Befestigungsanlage keine waffenfähigen Männer waren, wurden sie regelrecht wütend. Mir schien, als hätten sie Mitleid mit den Ausgestoßenen. Die Frauen flehten, man möge sie doch ziehen lassen. Doch Cäsar gab offenbar Befehl, keinen einzigen Kelten durchzulassen. Hier und da sah ich, wie ein Legionär etwas über die Palisaden warf. Wie Hyänen stürzten sich Frauen und Kinder auf das Stückchen Brot. Die Alten versuchten es erst gar nicht. Schlimmer als der Hunger war der Durst. Wir würden verdursten, bevor wir verhungerten.

In der nächsten Nacht starben bereits viele Alte und Kranke. Auch die Säuglinge. Vercingetorix hatte mir eine warme Tunika, einen dicken, rotkarierten Wollmantel, ein Stück Brot und einen Trinkschlauch mitgegeben. Heimlich, im Schutze der Dunkelheit, trank ich einen kleinen Schluck Wasser. Mit der nassen Hand befeuchtete ich Lucias Schnauze. Sie lag neben mir und rührte sich kaum noch.

Ich hörte auf, die Tage und Nächte zu zählen. Mühsam schleppte ich mich auf allen vieren vorwärts. Ich wollte raus hier, nichts als raus. Lucia folgte mir. Sie war mager geworden. Und schwach. Meine Arme knickten ein, und ich schlug mit der Stirn an einen Stein. Ich richtete mich auf. Die Sonne blendete mich. Über mein linkes Auge floß Blut. Offenbar war die Wunde größer, als ich dachte. Ich mußte sie auswaschen. Ich brauchte Wasser. Dringend. Ich hatte Durst. Nach einigen Tagen läßt der Hunger nach. Aber der Durst wird immer drängender. Zornig riß ich mein rechtes Bein hoch, winkelte es an, und versuchte aufzustehen. Mit einem Ruck stand ich plötzlich auf beiden Beinen. Mir wurde schwarz vor Augen. Ich hörte Stimmen, aber ich weiß nicht, woher sie kamen. Ich drehte mich um und sah Alesia. Und davor, vor den Stadtmauern, lagen Tausende von Menschen. Im Sterben. Ich wollte es hinter mich bringen. Onkel Celtillus sollte dem Fährmann sagen, daß ich komme. Ich riß mich von Alesia los und stolperte vorwärts. Ich sprach langsam auf Lucia ein, erzählte ihr von Massilia. Jaja, Massilia. Ich wischte mir das Blut von der Stirn und leckte meine Finger. Ich torkelte weiter. In der Ferne sah ich das Glitzern von Metall. Ich hörte wütende Schreie und riß die Augen auf. Vor mir erhob sich ein hölzerner Turm in den Himmel. Davor der Graben. Eine tote Frau lag darin. Selbst im Tod hielt sie ihren Säugling noch fest. Ich wollte nicht in den Graben stürzen. Ich schaute nochmals zum Turm hoch. Mir war, als hätte mir jemand gewinkt. War es möglich? War das tatsächlich der Primipilus der zehnten Legion? Der Name war mir entfallen. Plötzlich bohrte sich ein Pfeil ein paar Schritte vor mir in den Boden. Ich war bereit. Ich ging noch ein paar Schritte weiter. Jetzt stand ich genau vor dem Graben. Und vor mir war dieser Pfeil. Er war in der Mitte ein bißchen dick. Brot. Brot! Blitzschnell griff ich danach. Doch im gleichen Augenblick spürte ich eine furchterregende Übelkeit. Ich erinnere mich, daß alles um mich herum dunkel wurde. Ich brach zusammen und verlor das Bewußtsein. Leblos rollte ich in den Graben.

Wasser. Ich öffnete den Mund. Jemand hatte meinen Oberkörper aufgerichtet. Er kniete hinter mir und flößte mir Wasser ein. Wasser.

»Nacht?« murmelte ich. »Ist es Nacht?«

»Ja, Herr«, antwortete eine Stimme, »es ist Nacht. Lucius Speratus Ursulus, der Primipilus der Zehnten, hat mir erlaubt, dir Wasser zu bringen.«

»Wasser?« murmelte ich. »Wasser?« Ich begann fürchterlich zu husten.

»Trink nicht so schnell«, flüsterte die Stimme in der Dunkelheit.

»Wo ist Celtillus? Mein Onkel Celtillus?«

»Wanda ist in Massilia! Hörst du, Herr? Wanda ist in Massilia.«

Auf einen Schlag war ich hellwach. Ich wollte mich umdrehen, doch mir wurde gleich wieder elend und übel.

»Ich bin's, Herr, Krixos, dein Sklave!«

Krixos!

»Laß dich anschauen, Krixos«, keuchte ich. Die Aufregung hatte mir den Atem geraubt. Krixos hielt mich mit einem Arm fest und rutschte auf den Knien in mein Blickfeld. Zitternd suchte ich sein Gesicht, befühlte seine Wangen, seine Nase.

»Bist du's wirklich?«

»Ja, Herr! Ich habe Wanda gesehen!«

»Geht es ihr gut?« keuchte ich.

»Ja, Herr, ich soll dir sagen, daß sie dich liebt, hörst du?«

Es war wie ein schmerzhafter Kloß, der langsam im Hals anschwoll und die Tränen aus den Augen trieb.

»Der Bernstein …«, murmelte ich. »Hast du Wanda freigekauft?«

Krixos schwieg. Also hatte er nicht.

»Sie ist Sklavin«, keuchte ich, »nicht wahr?«

»Ja, Herr. Aber es geht ihr gut. Ich wurde ausgeraubt, aber ich bin dem Sklaventroß gefolgt, bis nach Massilia hinunter.«

»Und … und wessen Sklavin ist sie, Krixos … Nenn mir seinen Namen!«

Krixos schwieg.

»Du sollst mir seinen Namen nennen, Krixos!« keuchte ich.

Ich hörte sein Flüstern an meinem Ohr. »Kretos«, sagte er.

Eine Viertelmillion Kelten rückte auf Alesia vor. Doch ich dachte nur noch an eins: Kretos. Ich mußte überleben und nach Massilia. Krixos hatte mir einige Wasserschläuche in der Erde vergraben. Nachts grub ich sie aus und trank. Seit einigen Tagen hatte ich Krixos nicht mehr gesehen.

Ich bin sicher, daß er in der Nacht erneut gekommen wäre, wenn es möglich gewesen wäre. Wahrscheinlich hatte er kein Geld mehr, um die Wachen zu bestechen.

Als ich eines Morgens aufwachte, war er wieder da. Er lag neben mir, von einem Pfeil niedergestreckt. Krixos war tot. In seiner Hand hielt er einen Leinensack. Er war mit Brot, Würsten und Wasserschläuchen gefüllt.

Zweihundertfünfzigtausend Kelten preschten auf Cäsars äußeren Befestigungsring zu. Eine Viertelmillion. Die Entscheidungsschlacht um Alesia hatte begonnen. Die letzte Schlacht für ein freies Gallien. Aber es war schier unmöglich, diesen genialen Sperrgürtel zu durchbrechen.

Zuerst kam ein breiter Landstreifen, der mit Tausenden von heimtückischen eisernen Widerhaken gespickt war. Egal, wie man diese vierdornigen Pferdefallen hinwarf, eine Spitze ragte immer steil nach oben. Die Kelten mußten absteigen. Nach dem Streifen mit den Eisenhaken folgten sorgsam mit Buschwerk getarnte Fallgruben, aus denen angespitzte Pfähle nach oben ragten. Darauf folgte ein breiter Streifen mit angespitzten Astgabeln, die wie eine stumme Phalanx steil aus dem Boden ragten. Und dahinter kamen zwei breite, im Abstand von vierhundert Schritt ausgehobene Gräben, die teilweise mit Wasser gefüllt waren. Zweihundertfünfzigtausend Kelten kamen zum Stillstand. In mühsamer Kleinarbeit mußten alle Hindernisse unter Einsatz des Lebens beseitigt werden.

Cäsars germanische Kavallerie machte einen Ausfall und fügte den Kelten empfindliche Verluste zu. Erst am vierten Tag gelang es ihnen, den äußeren Befestigungsring zu durchbrechen. Doch der mittlerweile ebenfalls eingetroffene Labienus verhinderte den endgültigen Durchbruch.

Und Cäsar warf sich seinen roten Feldherrenmantel über, bestieg Luna, den Schimmel des Niger Fabius, und führte seine Kavallerie aus dem schmalen Lager hinaus. In einer tollkühnen Aktion umging er das keltische Heer und fiel ihm erfolgreich in den Rücken. Die Kelten stoben panikartig auseinander. Vier Tage ohne regelmäßiges Essen hatten genügt. Vier Tage in erbärmlichen hygienischen Verhältnissen. Unter Tausenden von Menschen auf engstem Raum brechen Seuchen über Nacht aus. Die Krieger des keltisches Hilfsheeres hatten die Nase gestrichen voll. Und keiner von ihnen hatte die Autorität, sie zu halten. Viele blieben tot auf dem Schlachtfeld zurück oder wurden gefangengenommen und in die Sklaverei verkauft.

Am nächsten Tag wurden die Tore von Alesia geöffnet. Vercingetorix, der König der Arverner, ritt ins Niemandsland hinaus. Er war allein auf seinem letzten Ritt. Sein Schimmel war prächtig geschmückt. Aufrecht ritt er in seiner vergoldeten Rüstung auf die innere Befestigungsanlage der Römer zu. Die Pioniere hatten einen Teil des Palisadenzauns eingerissen und den Graben mit Erde aufgefüllt.

Langsam erhob ich mich. Lucia blieb liegen. Sie war krank. Ich nahm sie in die Arme und humpelte mit ihr den Graben entlang. Ein paar hundert Schritte vor dem zugeschütteten Graben blieb ich stehen und setzte mich. Lucia zitterte. Ich hörte Trompeten und das metallische Geräusch der Gladien, wenn sie auf die Randbeschläge ihrer Schilde aufschlagen. Ich hörte die Rufe: »Ave Cäsar! Ave Imperator!«

Cäsar kam hoch zu Roß zwischen den beiden Wehrtürmen hervor und blieb auf dem aufgeschütteten Graben stehen. Er trug seinen roten Umhang. Links und rechts von ihm standen seine berittenen Legaten. Die Offiziere waren zu Fuß. Kretische Bogenschützen waren in Stellung gegangen. Hunderte von Schützen für einen Kelten.

Vercingetorix blieb ein paar Pferdelängen vor Cäsar stehen. Dann stieg er etwas hölzern von seinem Schimmel. Fast zärtlich strich er ihm über den Kopf und drückte sein Gesicht an seine Nüstern. Er schien ihm etwas zuzuflüstern. Dann ließ er langsam die Zügel los. Es war mir, als überlasse er Gallien seinem Schicksal …

Vercingetorix schritt aufrecht auf Cäsar zu. Cäsar schwieg. Ich glaube, er hatte Achtung vor seinem Gegner. Vercingetorix legte sein Schwert Cäsar zu Füßen. Dann löste er seinen Waffengurt und ließ ihn zu Boden gleiten. Alesia war gefallen. Gallien war befriedet. Vercingetorix löste die Lederriemen seines Muskelpanzers und warf ihn auf seine Waffen. Dann kniete er mit einem Bein nieder und senkte den Kopf.

»Du hast gesiegt, Cäsar. Dir gebührt der Ruhm. Nimm mein Leben und verschone mein Volk.«

Cäsar nickte einigen Offizieren zu. Sie traten ein paar Schritte vor und stellten sich links und rechts von Vercingetorix auf. Der Arvernerkönig erhob sich. Dann ließ er sich abführen. Cäsar ritt langsam ins Niemandsland hinaus. Er ritt direkt auf mich zu. Ich blieb im Gras sitzen. Lucia in meinen Armen.

»Druide, wieso hast du mich verlassen?«

Ich schwieg. Ich hörte, wie jemand fragte, ob sie mich ans Kreuz schlagen sollten. Ich schaute nicht mal hoch.

»Du hast mir prophezeit, daß ich nicht in Gallien den Tod finden würde. Du hattest recht, Druide.«

»Nimm ihn wenigstens als Sklaven, Prokonsul«, sagte einer der Legaten.

»Er ist frei«, sagte Cäsar knapp und ritt zurück.

Frei? Ich schleppte mich zu einer der zahlreichen Garküchen, die in der Umgebung Alesias wie Pilze aus dem Boden schossen. Überall kampierten die Sklavenhändler, die auf den Ausgang der Belagerung gewartet hatten. Auch sie mußten verpflegt werden. Keltische Wirte, deren Gaststätten im Krieg zerstört oder auf Vercingetorix' Befehl hin niedergebrannt worden waren, folgten nun ihrerseits den Hyänen und Schakalen des römischen Imperiums, um diese Brut zu ernähren. Nach kurzer Zeit gab es plötzlich wieder luftiges Weißbrot und gallische Würstchen im Überfluß. Und Wein! Und Regen! Ich lag irgendwo inmitten von Garküchen und Weinstuben, irgendwo im Schlamm und nuckelte an meinem Weinschlauch. Manchmal gab ich einem Kind eine Sesterze, damit es mir neuen Wein brachte. Eines Morgens sagte mir der kleine Knirps, daß Lucia tot sei. Sie lag wie immer in meinen Armen. Ihr Bauch war kalt wie ein Weinschlauch. Die Götter hatten mich endgültig verlassen. Ich begrub Lucia im Schlamm neben mir. Ich war dabei, mich um den Verstand zu saufen. Ganze Tage und Nächte verbrachte ich im Regen. Und als die Sonne wieder schien, trocknete der schmutzige Lehm wie eine zweite Haut auf meinem Körper. Ja, ich war frei. Es war die härteste Strafe, die Cäsar mir auferlegen konnte. Ich lebte. Und ich hatte die Hoffnung, jemals nach Massilia zu gelangen und Wanda wiederzusehen, aufgegeben. Wer weiß, vielleicht hatte Wanda mittlerweile Gefallen an ihrem neuen Herrn gefunden? Kretos. Was juckte mich diese massilianische Ratte? Ich war ohnehin am Ende. Ich hatte alles verloren, Wanda, Lucia, Krixos. Ich war weder Druide noch Händler geworden. Ich war nur noch ein Stück Abschaum im Dreck, irgendein keltischer Köter, der sich von kleinen Kindern Weinschläuche bringen ließ.

Die gefangenen Häduer und Arverner ließ Cäsar nach kurzer Zeit wieder frei. Es war nicht die Milde des Siegers. Es war eine Notwendigkeit. Cäsar brauchte sichere gallische Stützpunkte, Verbündete. Die anderen Gefangenen schenkte er seinen Legionären. Sie banden ihnen Stricke um den Hals und zogen sie wie Vieh auf den großen Sklavenmarkt, der inmitten der Zeltstadt vor Alesia entstanden war. Die Händler hatten hohe Holzpodeste errichtet, die von allen Seiten über mehrere Stufen bestiegen werden konnten. Es war wohl Ironie des Schicksals, daß mir die Götter von meinem mittlerweile ausgetrockneten Schlammloch aus eine vorzügliche Sicht auf die Sklavenbühne gewährten. Tag für Tag das gleiche Schauspiel. Tausende von Sklaven, die hinaufgeführt, angepriesen und verkauft wurden. Wollte man den Verkäufern glauben, so gab's wohl auf der ganzen Welt nirgends so viele gesunde und gebildete Kelten wie hier um Alesia herum. Einige Contubernien und Kohorten verkauften ihre Sklaven gleich im Dutzend. Das war den Sklavenhändlern am liebsten. Aber einige Narren glaubten tatsächlich, mit einem einzigen keltischen Sklaven das Geschäft ihres Lebens zu machen.

Eines Tages führte ein untersetzter Legionär mit bulligem Nacken einen hochgewachsenen, athletischen Kerl auf die Holzbühne. Er wollte tatsächlich tausend Sesterzen für ihn! Man stelle sich das mal vor. In wenigen Tagen wurden hier weit über hunderttausend Kelten verkauft, die Preise waren längst in den Keller gesackt, und da kam so ein griesgrämiger kleiner Legionär mit der Schnauze eines massilotischen Kampfhundes und verlangte tausend Sesterzen! Die Händler und Schaulustigen grölten vor Vergnügen. Doch das wiederum beleidigte den stolzen Kelten! Er brüllte, so laut er konnte, daß er einer der mutigsten Männer Galliens sei und daß er es in Rom mit jedem Gladiator aufnehmen würde. Irgendwie kam mir die Stimme bekannt vor. Aber mein Gedächtnis war bereits abgesoffen. Ich war komplett betrunken. Ich kratzte mir den Dreck von den Wangen und schaute angestrengt zur Sklavenbühne hinüber. Der Kerl hatte Humor. Er hielt tatsächlich einen Vortrag! Gerade teilte er der amüsierten Zuhörerschaft mit, daß er ein raurikischer Fürst sei und sein Bruder ein bedeutender Druide, so bedeutend, daß er in Cäsars Kanzlei gedient habe. Mit einem Schlag war ich hellwach!

»Was ist?« fragten die beiden Buben neben mir. »Brauchst du neuen Wein?«

»Nein«, sagte ich. »Habt ihr schon mal einen Sklaven gekauft!«

»Nein, ehhh …«, sagte der eine zögernd.

»Doch«, widersprach sein Freund. »Gib uns Geld, und wir kaufen, was du willst!«

Vorsichtig nahm ich ein paar Münzen aus meinem rechten Schuh. Ich hatte das Geld überall verteilt. Kein Mensch sollte sehen, daß ich immer noch eine ansehnliche Summe hatte. Beide Buben hielten mir die Hände entgegen.

»Aber paßt auf«, schrie ich zornig. »Denkt bloß nicht, ich hätte nicht bemerkt, daß ihr mir seit einigen Tagen den Wein verdünnt! Ich bezahle einen ganzen Schlauch, und ihr kauft bloß einen halben und füllt den Rest mit Wasser auf!«

Die Buben liefen rot an. Der eine wollte sich entschuldigen, aber der keckere ergriff gleich das Wort: »Weißt du, wir haben das bloß für deine Gesundheit getan! Wenn du stirbst, verlieren wir unseren besten Kunden!«

»Lauft los, und kauft mir diesen Verrückten da oben!«

Die beiden Buben nahmen das Geld und rannten los. Währenddessen hörte ich, wie jemand vierhundert Sesterzen bot. Einer bot fünfhundert. Basilus verlor nun endgültig die Nerven. Er tobte und brüllte herum und zerrte an seinen Fesseln. Er sei mindestens zweitausend Sesterzen wert. Jemand schrie, da sei ja ein griechischer Dichter noch billiger zu haben. Plötzlich wurde es ruhig, und gleich darauf brach schallendes Gelächter aus. Ich hörte die Stimme des einen Buben, ohne jedoch seine Worte zu verstehen. Dann sah ich, wie sie unter dem Gelächter der Händler und Gaffer auf das Holzpodest stiegen.

»Lacht nicht so blöd!« schrie der eine Bub wütend, jetzt konnte ich ihn bis hierher verstehen. »Unser Herr ist ein vornehmer Druide. Er sitzt drüben im Gasthaus und hat uns beauftragt, den Kelten zu kaufen.«

Basilus schien verwirrt. Irgendwie waren alle verwirrt. Der Legionär schien zu überlegen. Einige riefen, er solle sich beeilen. Unten an der Treppen standen Hunderte von Legionären mit ihren Sklaven Schlange. Während der Morgen den professionellen Sklavenhändlern gehörte, die die Gefangenen kohortenweise aufkauften, gehörte der Nachmittag den Einzelkämpfern.

»Nimm es oder laß es sein!« schrie der Junge, der nie um eine Erklärung verlegen war, den Legionär an. Ich sah, wie der Römer das Geld in die Hand nahm und sorgfältig prüfte.

»Wie wollt ihr allein mit diesem Kerl fertig werden?«

Einige lachten wieder.

»Er soll der erste Offizier der druidischen Leibwache werden«, fabulierte der andere Bub. Ich weiß nicht, woher sie diesen Unsinn hatten. Druiden und Offiziere und Leibwachen, da war den Jungs einiges durcheinandergeraten. Aber Basilus reckte mit stolzgeschwellter Brust den Kopf in die Höhe. Das schien ihm zu gefallen.

»Also, wo ist dieser vornehme Druide?« fragte Basilus stolz, als die beiden Jungen vor mir stehenblieben. Die Buben grinsten. Basilus zerrte wieder an seinen Fesseln, die ihm die Arme auf den Rücken schnürten. »Bin ich etwa euer Sklave?« schrie er. »Woher habt ihr das Geld?«

»Es ist mein Geld, Basilus«, sagte ich müde und senkte beschämt den Kopf. Ich sah nicht, wie Basilus sich nach mir umdrehte und langsam vor mir in die Hocke ging.

»Korisios?« fragte er ungläubig.

»Hmm«, murmelte ich und reichte dem einen Jungen mein Messer, damit er Basilus die Fesseln aufschnitt. »Ich hab dir doch gesagt, daß wir uns eines Tages wiedersehen!«

Basilus' Fesseln fielen zu Boden. Er bewegte die Schulterblätter und ruderte mit den Armen. »Aber du hast mir verschwiegen, daß ich dann dein Sklave sein würde«, lächelte er zaghaft. Er setzte sich zu mir in den Schlamm und nahm mich sanft in den Arm. Er war tief bewegt. Ich war es auch. Aber wir hatten das Weinen verlernt, wir alle, hier in Alesia.

»Vergiß es«, flüsterte ich, »du bist selbstverständlich frei und kannst tun und lassen, was du willst!«

»Das würde dir so passen«, murmelte Basilus. »Ich bin dein Sklave, bis ich mich von dir freigekauft habe! Hast du verstanden, Herr?!«

Und so wurde mein Jugendfreund Basilus in Alesia mein Sklave. Natürlich habe ich ihn nicht als solchen behandelt. Wir waren schließlich Freunde. Aber der Kerl bestand darauf, mich ›Herr‹ zu nennen. Ich verbot es ihm, wir stritten sogar, aber er bestand darauf. Basilus, mein Sklave! Als erstes brachte er mich in einen ordentlichen Gasthof hinter den Mauern Alesias. Ich schwor dem Wein ab und trank frische Ziegenmilch. Nicht, daß ich nun plötzlich hätte Druide werden wollen, nein, aber ich wollte nach Massilia. Mein Sklave drängte, machte mir Mut. Er sagte, er würde Wanda rauben und Kretos töten, wenn ich das wollte. Einige Tage später kauften wir Pferde, Lasttiere und Proviant und ritten inmitten der zahlreich nach Süden strebenden Händlerkarawanen Richtung Massilia.

Kurz vor unserer Abreise begegnete ich auf einem der Märkte Aulus Hirtius. Wir blieben stehen und musterten einander melancholisch. Schließlich trat er auf mich zu und nahm mich in die Arme. Er sagte, Cäsar wolle sich nach Bibracte zurückziehen und das siebte Buch zu Ende schreiben. Ich wünschte ihm viel Glück. Als ich mit Basilus weiterzog, rief er mir plötzlich zu: »Druide, schuldest du mir nicht noch Geld?«

Ich stutzte. Tatsächlich. Aulus Hirtius hatte mir seinerzeit Geld geliehen, damit ich mich von Kretos freikaufen konnte. Ich gab ihm die Goldmünzen, die ihm zustanden.

»Du hast Glück, Druide, sonst wärst du heute mein Sklave geworden, und ich hätte dich gezwungen, das siebte Buch zu schreiben«, lachte er.

Mit dem Fall von Alesia endete der große gallische Krieg, der keltische Befreiungskampf gegen die römischen Invasoren. Cäsar hatte dreißig Schlachten geschlagen, achthundert Dörfer und Städte erobert, eine Million Kelten abgeschlachtet und eine Million Menschen versklavt. Zum Ruhme Roms. Zum Ruhme Cäsars. Gallien war geplündert und finanziell ausgetrocknet. Der jährliche Tribut betrug bescheidene vierzig Millionen Sesterzen. Mehr war nicht möglich. Der Krieg hatte Gallien wirtschaftlich ruiniert. Cäsar hingegen war Milliardär. Er hatte soviel Gold geraubt und auf den Markt geworfen, daß der Goldpreis in Rom um dreißig Prozent fiel. Während der gallische Jahrestribut vierzig Millionen Sesterzen betrug, schickte Cäsar seinem Freund Cicero 60 Millionen, damit dieser das Bauland für das geplante Cäsarforum kaufen konnte. Cäsar beschenkte seine Freunde und Feinde, gewährte allen möglichen Leuten gigantische Darlehen und stiftete prunkvolle Tempel und Bauten. Sein keltisches Raubgold machte es möglich.