27

Zitternd legte Rachel den Hörer auf und drehte sich zu Ethan um. Hoffentlich sah sie nicht so schlecht aus, wie sie sich fühlte. Ihr Magen rebellierte, und sie war überaus dankbar, dass sie das Frühstück hatte ausfallen lassen.

»Sie hat gleich einen Termin frei«, sagte sie.

Ethan trat zu ihr und schloss sie in die Arme. Sie klammerte sich an ihn, ihren Anker und das Einzige, das ihr derzeit in ihrem Leben nicht sinnlos vorkam.

»Soll ich mitkommen?«

Sie zögerte, weil sie sich genau das so sehr wünschte wie sonst nichts auf der Welt. Sie hatte einen Heidenbammel und wollte das nicht allein durchstehen müssen. Aber schlimmer noch als die Angst, Ethan nicht bei sich zu haben, war die Furcht, er würde herausfinden, warum sie sich nun doch entschlossen hatte, eine Therapeutin aufzusuchen. Wie könnte sie in seiner Gegenwart von den schrecklichen Dingen erzählen, die sie nachts träumte, wo er sich doch so wunderbar verhielt?

»Nein, das muss ich allein hinter mich bringen.«

Ihre Lippen zitterten so sehr, dass sie die Worte kaum aussprechen konnte. Sie war kurz davor, sich zu übergeben. Der Gedanke, vor einem fremden Menschen ihr Innerstes nach außen zu kehren, versetzte sie in Angst und Schrecken.

Er beugte sich zu ihr und küsste sie, erst zärtlich, dann immer intensiver. Seine Zunge erforschte ihren Mund. Als er sie wieder freigab, rangen beide nach Luft. Ihre Lippen waren geschwollen und kribbelten.

Er zog ein Handy aus der Tasche und legte es neben sie auf die Anrichte.

»Das ist für dich. Ich habe meine Nummer und die von meinen Brüdern und meinen Eltern einprogrammiert. Außerdem die Nummer von Sean, vom Sheriff und von sämtlichen Deputys. Von allen, die mir eingefallen sind und die du irgendwann mal brauchen könntest. Wenn du deine Meinung noch änderst, ruf mich an. Dann komme ich, so schnell ich kann.«

Lächelnd legte sie ihm die Arme um die Taille und zog ihn an sich. Sie war froh, dass er trotz ihrer schlimmen Albträume so liebevoll zu ihr war. Die Schrecken der Nacht waren bei Tageslicht verblasst. Jetzt kam sie sich dumm und ungerecht vor.

Sie erschrak, als plötzlich das Telefon klingelte. Sie bekamen nur selten Anrufe, was ihrer Meinung nach daran lag, dass Ethans Familie sich bewusst zurückhielt. Zögernd hob sie ab. Dies war schließlich auch ihr Haus. Sie lächelte sogar, als sie den Hörer ans Ohr hielt. Ihr Haus. Ihr Telefon.

»Hallo?«

Es war kurz still, dann hörte sie Sams Stimme. »Tag, Rachel, wie geht’s dir denn?«

Er klang nett wie immer, und als ihr einfiel, wie kurz angebunden und ungehobelt er mit seinen Brüdern normalerweise umsprang, musste sie grinsen. »Hallo Sam, mir geht’s gut.«

»Das höre ich gern. Ist Ethan in der Nähe? Ich müsste ihn kurz mal sprechen.«

»Klar. Er steht neben mir.«

Sie reichte ihrem Mann den Hörer.

Er gab ihr noch schnell einen Kuss, dann nahm er ihn ihr ab. »Hallo?«

Rachel ging ein paar Meter weg, damit er sich ungestört unterhalten konnte, aber selbst auf die Entfernung spürte sie den Zorn, den er plötzlich versprühte.

»Wie bitte? Willst du mich verscheißern?«

Sie zuckte zusammen. Ethans Gesicht war wutverzerrt.

»Du musst mich abholen. Rachel braucht den Pick-up, weil ich noch nicht dazu gekommen bin, ihr einen neuen Wagen zu kaufen.«

Während er sprach, schaute er zu ihr und versuchte, ein etwas freundlicheres Gesicht aufzusetzen.

»Genau, in einer halben Stunde bin ich so weit. Fahr ja nicht ohne mich rüber.«

Er hängte ein und ballte eine Hand zur Faust. Er sah aus, als hätte er am liebsten irgendetwas an die Wand geschmissen, begnügte sich dann aber damit, ein paarmal tief Luft zu holen.

»Ethan?«, fragte sie besorgt.

Langsam beruhigte er sich wieder und lächelte sie sogar an, wenn auch ein wenig gezwungen.

»Ist schon gut, Kleines. Rusty hat sich einen blöden Scherz erlaubt. Sam will ihr die Hölle heißmachen. Es wird Zeit, dass Mom endlich zur Vernunft kommt. Das Mädchen macht nichts als Ärger, aber diesmal ist sie eindeutig zu weit gegangen.«

Unglücklich runzelte Rachel die Stirn. »Das ist ja schade. Geht mit ihr oder Mom nicht allzu hart ins Gericht. Rusty hat eine schlimme Zeit hinter sich. Sie wirkt so verletzlich.«

Zu ihrer Überraschung lächelte Ethan, er strahlte sogar übers ganze Gesicht. Dann trat er zu ihr und legte ihr die Hände auf die Schultern.

»Meine Güte, du klingst fast so wie früher. So zartfühlend, immer auf der Seite der Benachteiligten.«

»Ich bemühe mich, Ethan. Wirklich. Ich möchte wieder die Rachel sein, die alle kennen. Ich muss mich nur wieder an sie erinnern.«

»Ich weiß, Kleines, ich weiß. Aber du solltest dich jetzt langsam auf den Weg machen. Pass auf dich auf. Und wenn dich irgendwas nervös macht oder du es dir anders überlegst, ruf mich an, und ich bin sofort da.«

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. »Wird gemacht. Fest versprochen.«

Rusty hockte auf dem Bettrand und starrte auf ihre Finger, die schon seit fünf Minuten ganz gefühllos waren. Sie hatte die Hände so fest ineinander verschränkt, dass die Knöchel weiß hervortraten.

Sogar durch die geschlossene Tür hörte sie die lauten Stimmen, die vom Wohnzimmer aus über die Treppe bis zu ihr hinaufdrangen. Sam, Garrett und Ethan waren da unten zusammen mit Nathan, Joe, Marlene und Frank. Eine richtige Familienzusammenkunft. Es fehlten lediglich Donovan und Rachel.

Rusty runzelte unglücklich die Stirn. Diesmal hatte sie sich echt in die Scheiße geritten. Und das noch nicht einmal absichtlich, aber das würde ihr ohnehin niemand glauben. Die würden sie auf die Straße setzen, weil es unverzeihlich war, die arme, bedauernswerte Rachel so aufzuregen.

Im Grunde genommen konnte sie schon anfangen zu packen, allerdings war sie hier mit leeren Händen angekommen. Was sie besaß, hatte ihr Marlene gekauft, und es kam ihr nicht richtig vor, diese Sachen mitzunehmen.

Der Klumpen in ihrem Magen wurde immer größer. Dumm, dumm, dumm. Es war nicht das erste Mal, dass sie auf ein freundliches Gesicht hereingefallen war. Wann würde sie endlich lernen, dass kein Mensch nett zu ihr war, ohne Hintergedanken zu haben? Abgesehen von Marlene. Diese Frau behandelte sie offenbar nur aus einem einzigen Grund so freundlich: Sie war eben so.

Die Brüder imponierten ihr, weil sie sich nicht verstellten. Sie konnten sie nicht leiden, sie akzeptierten sie nicht, und sie machten keinen Hehl daraus. Mit dieser Form der Offenheit konnte sie umgehen. Wenn sie ehrlich war, musste Rusty allerdings zugeben, dass sie mit ihnen ansonsten nicht viel anfangen konnte, auch wenn sie sie auf ihre verquere Art sogar bewunderte.

Sie bewunderte alle Kellys. Sie waren bedingungslos loyal zueinander, und Rusty wünschte sich dazuzugehören.

»Träum weiter«, murmelte sie. Nach dem heutigen Tag würde sie wieder auf der Straße stehen und nicht wissen, woher sie die nächste warme Mahlzeit nehmen sollte.

Als sie schwere Schritte auf der Treppe hörte, zuckte sie zusammen und verschränkte die Finger noch fester ineinander, damit niemand sah, wie sehr ihre Hände zitterten.

Kein Klopfen. Zweifellos hatte sie jedes Privileg verloren, das sie sich in diesem Haus erworben haben mochte. Die Tür wurde aufgestoßen. Nathan trat ins Zimmer und sah sie ernst an. Zumindest funkelte ihr aus seinen Augen kein abgrundtiefer Hass entgegen. Aber den würde sie zu spüren kriegen, sobald sie Rachels kleiner Schutzbrigade gegenübertreten musste.

»Du sollst zu Mom runterkommen, Rusty.«

Sie warf ihm einen giftigen Blick zu. »Du meinst wohl, deine Brüder wollen mich zur Schnecke machen, oder?«

Nathan lehnte sich an den Türrahmen und musterte sie mit diesem verstörend bohrenden Blick, der ihr deutlich zeigte, dass er mehr sah, als er sollte. »Glaubst du nicht, dass sie dazu allen Grund haben?«

Sie wollte schon mit einem schlauen Spruch kontern, ließ es dann aber bleiben. Sie hatte keine Rechtfertigung, und das war ihnen beiden klar. Mit einem resignierten Seufzer stand sie auf. Sie wollte es hinter sich bringen.

»Na dann, auf zum Erschießungskommando«, murmelte sie.

Nathan wies sie nicht zurecht, sondern starrte sie nur schweigend an. Ihr wäre es lieber gewesen, er hätte sie ordentlich zusammengestaucht und ihr die Leviten gelesen.

Plötzlich wurde ihr ganz flau im Magen. Stocksteif marschierte sie die Treppe hinunter, jeder Schritt kostete sie Überwindung. Alle waren im Wohnzimmer versammelt. Na toll.

Sie stapfte die Stufen herunter, ohne jemandem ins Gesicht zu schauen. Trotzdem konnte sie die durchdringenden Blicke spüren, den Hass, den die Brüder ausstrahlten. Schlimmer noch, sie spürte auch Marlenes tiefe Enttäuschung.

Sie linste kurz zu Frank hinüber. Er wirkte nicht wütend, sondern nur traurig, und ihr wurde das Herz schwer.

Rusty ging achtlos an den Stühlen in der Nähe der anderen vorbei und hockte sich auf den Kaminvorsprung. Sie konnte hören, dass die Brüder schon Luft holten für ihre Tirade, wie missraten sie doch sei.

»Hört mal«, platzte sie heraus. »Das war keine Absicht. Ich weiß, dass ihr mich jetzt alle hasst. Ich verstehe das. Ich habe Scheiße gebaut.«

»Pass auf, was du sagst, junge Dame«, bemerkte Marlene auf ihre schnippisch mütterliche Art, die Rusty so mochte. Vielleicht deshalb, weil ihre Mutter nie so mit ihr gesprochen hatte wie eine richtige Mutter eben.

»Ich will nur wissen, wieso du das getan hast«, sagte Ethan.

Rusty blickte hoch und wünschte sofort, sie hätte es nicht getan. Ethan stand zwischen Sam und Garrett, und alle drei wirkten so Furcht einflößend, dass ihr ganz schummrig wurde. Sie waren sauer. Und das völlig zu Recht. Der Kloß in ihrem Hals wuchs und wuchs. Wütend versuchte sie, ihn hinunterzuschlucken. Die würden sie nicht zum Weinen bringen. Das hatte noch niemand geschafft, weder ihre durchgeknallte Mutter noch deren bescheuerter Mann, der sich selbst zu Rustys Stiefvater ernannt hatte. Die konnten alle geradewegs zur Hölle fahren.

Überraschenderweise kam ihr Nathan zu Hilfe.

»Schluss mit den Verhörmethoden«, sagte er zu seinen Brüdern. »Sie soll erst mal erzählen, was passiert ist. Ihr habt euren Urteilsspruch ja bereits gefällt.« Dann wandte er sich an Rusty. »Also los, lass hören.«

Etwas in seiner Miene weckte in ihr den Wunsch, alles zu erklären. Kurz zuvor war sie noch entschlossen gewesen, ihnen zu sagen, sie sollten sich alle zum Teufel scheren. Dann wäre sie zu ihrem alten Leben auf der Straße zurückgekehrt. Jetzt plötzlich war sie wild entschlossen, um ihren Platz in dieser Familie zu kämpfen. Sie hätte schwören können, dass sie in Nathans Augen etwas sah, das ihr zuvor noch nie entgegengebracht worden war Vertrauen.

Sie richtete den Blick auf Marlene und Frank. Marlene sah unendlich traurig aus. Offenbar hatte sie sogar geweint. Frank er wirkte einfach nur enttäuscht. Rusty hätte sich lieber einen Eispickel ins Auge gerammt, als ihm solchen Kummer zu bereiten.

Schließlich sah sie wieder zu Ethan, Sam und Garrett, und endlich wurde ihr klar, warum sie die Brüder so sehr hasste. Sie waren über jedes vernünftige Maß hinaus sauer auf sie, weil sie etwas getan hatte, das Rachel verletzte. Rachel, Rachel, Rachel. Rusty hasste Rachel nicht, aber sie beneidete sie dermaßen, dass dieser Neid wie Gift in ihrem Körper wirkte. Sie wollte auch jemanden haben, der ihr ähnlich starke Gefühle entgegenbrachte. Sie wollte Brüder haben eine Familie , die sie liebten und sie vor allem Übel dieser Welt beschützten. So, wie sie es für Rachel taten. Rachel, die durch die Hölle gegangen war und Rustys ätzende Feindseligkeit nicht verdient hatte.

»Ich wollte zu euch gehören«, stammelte sie stockend.

Eine Träne rollte ihre Wange hinunter. Schnell wischte sie sie mit dem Handrücken weg, entsetzt von der Vorstellung, jemand könnte sie wie ein Baby weinen sehen.

Sam blinzelte ein paarmal und ließ die Arme sinken, die er vor der Brust verschränkt hatte.

»Könntest du uns das erklären? Wie willst du denn zu uns gehören, wenn du Rachel ans Messer lieferst und dich in aller Öffentlichkeit über KGI auslässt?«

»Ich habe nicht gewusst, dass er ein Journalist ist«, verteidigte sie sich. Sie war nur noch ein Häufchen Elend. »Er war auf der Party, deshalb habe ich angenommen, dass ihr ihn kennt und ihm traut. Er war nett und lustig und scheinbar echt interessiert an dem, was ich zu sagen hatte. Er wollte ein Familienmitglied sprechen, und es war so ein schönes Gefühl, wenigstens eine Minute lang so zu tun, als wäre ich eins.«

»Ach, mein kleiner Liebling«, sagte Marlene leise.

»Aber weshalb hast du all diese Dinge über Rachel erzählt?«, fragte Ethan weiter. »Hast du denn keine Ahnung, welche Folgen es für meine Frau hat, wenn sie den Artikel zu Gesicht bekommt? Sie ist heute früh zu einer Therapeutin gefahren, Rusty. Und zwar deshalb, weil sie kurz vor einem Zusammenbruch steht. Sie hat Albträume. Sie hat Angst, den Verstand zu verlieren, und ihre Familie sollte in erster Linie dazu da sein, ihr Rückhalt zu geben. Wieso hast du versucht, das alles kaputt zu machen?«

Rusty ließ den Kopf hängen und gab sich keine Mühe mehr, die bitteren Tränen zu verbergen, die ihr auf die Hände tropften.

»Ich habe doch nichts gegen sie. Ich wollte ihr nicht wehtun. Das schwöre ich. Es ist einfach aus mir herausgesprudelt. Ich war eifersüchtig, weil ihr alle dauernd um sie herumscharwenzelt. Ich hatte Angst, dass Marlene jetzt, wo sie wieder da ist, nichts mehr von mir wissen will, und dass ich bloß ein schlechter Ersatz war.«

»Rusty!«

Franks schroffer Einwurf veranlasste Rusty, in seine Richtung zu schauen. Auch die Augen der Brüder richteten sich auf Frank. Ganz offenkundig respektierten sie ihren Vater. Sie liebten ihn, und er hatte hier eindeutig das Sagen.

»Komm her«, befahl er und beugte sich in seinem Lehnstuhl vor.

Mit wackligen Knien erhob sich Rusty vom Kaminvorsprung und machte ein paar Schritte auf ihn zu. Oh Gott, wenn er sie hier vor allen zusammenstauchte, das würde sie nicht überleben. Sie brachte es nicht über sich, ihm ins Gesicht zu schauen, konnte die Missbilligung in seinen Augen nicht ertragen.

Doch er nahm ihre Hand in seine sehr viel größere, die voller Falten und vom Alter deutlich gezeichnet war. Als er sie tröstend drückte, blickte sie ihn verblüfft an.

»Du warst nie nur ein Ersatz für Rachel. Marlene hat entschieden, dass du in den Kelly-Clan aufgenommen wirst. Das bedeutet, du gehörst zu unserer Familie. Auf Gedeih und Verderb. Nun, das muss nicht allen gefallen. Das kann ich dir nicht ersparen. Bei uns musst du dir deine Sporen verdienen. Respekt und Privilegien bekommt man nicht zum Nulltarif. Man muss Einsatz dafür zeigen.«

Ihr klappte der Unterkiefer herunter. Sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Seine Bereitschaft, sie zu akzeptieren und ihr zu verzeihen, überwältigte sie. Das hatte sie gar nicht verdient, auch wenn sie es sich wünschte. Oh Gott, und wie sehr sie sich das wünschte!

Hinter ihr wollte jemand verhalten protestieren, aber ein warnender Blick von Frank reichte, um schlagartig für Ruhe zu sorgen.

»Du schuldest Rachel eine Entschuldigung«, fuhr er fort. »Du schuldest auch meinen Jungs eine Entschuldigung, weil du Informationen über ihre Firma preisgegeben hast.«

»Ja, Sir.«

Zufrieden nickte er. Dann wich jede Strenge aus seinem Gesicht, und er lächelte sie ermutigend an.

»Das wird nicht dein letzter Fehler gewesen sein. Aber sieh zu, dass das nicht zur Gewohnheit wird. Hier bei uns ist es üblich, dass wir zu unseren Fehlern stehen. Wir drücken uns nicht vor der Verantwortung. Hast du verstanden?«

»Ja, Sir«, wiederholte sie, diesmal schon mit festerer Stimme.