14

Sam blieb verblüfft stehen, als er seine jüngeren Brüder neben seiner Mom auf der Couch sitzen sah. »Nathan? Joe? Was macht ihr denn hier? Ist irgendwas passiert?«

»Das wollten wir dich gerade fragen«, erwiderte Nathan und stand auf. Auch Joe erhob sich, und die beiden starrten ihre älteren Brüder argwöhnisch an.

»Donovan«, sagte Joe mit einem Nicken in dessen Richtung.

»Was ist hier los?«, rief Frank. »Ihr steht rum wie ein Haufen Fremder, und eure Mutter steht Todesängste aus.«

Donovan grinste von einem Ohr zum anderen, ging auf Nathan zu, packte ihn, und schon lagen sie gemeinsam auf dem Boden. Nathan lachte laut auf.

»Verdammt noch mal! Donovan, geh runter von mir!«

Joe schnappte sich Donovan und zog ihn hoch. Vorher hatte Donovan das Überraschungsmoment auf seiner Seite gehabt, aber da er der Kleinste der Kelly-Brüder war, hatte er jetzt keine Chance mehr.

Sam hatte endlich seinen Schock überwunden, Nathan und Joe zu Hause anzutreffen, und herrschte nun seine Brüder an, sie sollten endlich die Klappe halten.

Nathan und Joe sahen überrascht hoch. Seine Mom und sein Dad blickten ihn besorgt an.

Sam umarmte seine jüngeren Brüder. »Mann, ist das klasse, dass ihr wieder da seid.«

»Wo sind Ethan und Garrett?«, fragte Joe, nachdem er sich aus der Umarmung gelöst hatte.

Mit einem Schlag wurde Sam klar, was sie alle gedacht haben mussten, als er und Donovan ins Haus gestürmt waren so wie sie aussahen, und ohne die anderen beiden Brüder.

Donovan und er tauschten einen Blick.

»Raus mit der Sprache«, befahl Marlene.

Sam hob besänftigend die Hände. »Es geht ihnen gut, Mom, Ehrenwort.«

»Wie wäre es, wenn du uns erzählst, was los ist, mein Junge?«, sagte Frank.

»Setzt euch erst mal alle hin«, ergriff Donovan das Wort. »Ethan und Garrett geht es gut, aber wir müssen euch was erzählen.«

»Gute Nachrichten, Mom«, fügte Sam eilig hinzu, als er sah, wie sehr Marlene sich verkrampfte.

Alle setzten sich, und statt besorgt wirkten sie jetzt eher verwirrt. Erst in dem Moment entdeckte Sam das Mädchen, das zusammengekauert in einem Sessel neben Franks Lehnstuhl hockte. Er zog eine Augenbraue hoch und warf seinem Dad einen fragenden Blick zu.

»Das erklären wir euch später«, winkte Frank ungeduldig ab. »Jetzt sagt uns schon, was los ist, bevor eure Mutter vor Neugier platzt.«

Sam fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Es war nicht so einfach zu erklären, was passiert war. Entweder redete er endlos um den heißen Brei herum, oder er kam direkt zur Sache.

»Rachel lebt«, platzte Donovan heraus, bevor Sam den Mund aufmachen konnte.

Schweigen. Keiner rührte sich. Keiner sagte etwas. Das Gesicht ihrer Mom war wie versteinert. Ihr Dad schaute, als hätte er sich verhört, und Nathan und Joe funkelten Donovan wütend an.

Nathan sprang auf. »Was soll der Blödsinn, Donovan?«

»Nathan, setz dich«, befahl Sam.

Sam hatte das so autoritär gesagt, dass Nathan erstaunt die Augen aufriss.

»Sam, was soll das bedeuten?«, fragte seine Mom mit zitternder Stimme.

»Wehe, ihr habt keinen guten Grund, eurer Mutter so etwas anzutun«, knurrte Frank.

Sam setzte sich seufzend auf die Stufen, die ins Wohnzimmer hinunterführten. »Am 16. bekam Ethan von irgendjemandem Unterlagen zugespielt, die besagten, dass Rachel noch am Leben wäre.«

»Und wegen so was kommt ihr hierher und macht unserer Mutter falsche Hoffnungen?«, fuhr Frank ihn an.

»Dad, hör ihm zu«, sagte Donovan.

»Er ist mit den Fotos zu uns gekommen. Fotos von Rachel.«

»Oh, Sam, wie konnte man ihm das bloß antun?« Marlene war den Tränen nahe. »Uns allen?«

Sam sah seine Mutter durchdringend an. »Mom, sie lebt. Ich habe sie gesehen, sie in den Armen gehalten. Donovan ebenfalls. Ethan ist gerade bei ihr, und Garrett auch.«

Marlene schnappte nach Luft. Frank wurde kreidebleich. Nathan und Joe starrten ihn mit offenem Mund an.

»Aber wie?«, brachte Marlene schließlich heraus. »Meine Güte, Sam, wo war sie denn das ganze letzte Jahr? Ist sie davongelaufen? Hat sie ihn verlassen?«

Sam holte tief Luft. Er wusste, was er seiner Familie jetzt mitteilen musste, würde nicht ganz einfach zu verkraften sein. »Die Mission, zu der wir aufgebrochen sind wir alle , diente ihrer Befreiung. Sie wurde das letzte Jahr in Südamerika gefangen gehalten.«

»Oh mein Gott!«

Auf einmal redeten alle durcheinander, zweifelten Sams Worte an, gaben erstaunte Ausrufe von sich oder verlangten weitere Informationen. Nathan und Joe waren aufgestanden, während Marlene das Gesicht in den Händen verbarg. Frank hielt die Stuhllehnen so fest umklammert, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Nur das junge Mädchen betrachtete den Aufruhr mit völligem Desinteresse.

»Was soll das heißen: gefangen gehalten?«, fragte Nathan. »Verdammt noch mal, was ist da los, Sam?«

Ausnahmsweise drohte seine Mutter ihm nicht an, ihm den Mund mit Seife auszuwaschen, aber vermutlich hatte sie Nathans Fluchen auch gar nicht mitbekommen, so sehr stand sie unter Schock.

»Geht es ihr gut, Sam?«, fragte Marlene schließlich.

»Im Moment nicht, aber das wird wieder«, entgegnete Donovan beschwichtigend. »Es wird allerdings eine Weile dauern.«

»Sie ist ziemlich angeschlagen«, fügte Sam grimmig hinzu. »Deshalb sind wir schon mal hergeflogen, um euch Bescheid zu sagen. Dann hat sich alles vielleicht schon wieder ein bisschen beruhigt, bis Ethan mit ihr nach Hause kommt.«

»Beruhigt?«, erwiderte Marlene. »Beruhigt? Wie soll ich mich denn beruhigen? Du erzählst mir, dass die Frau, die für mich wie eine Tochter war, die Tochter meines Herzens, noch am Leben ist, nachdem wir ein Jahr lang um sie getrauert haben, und da soll ich ruhig bleiben? Wann kommt sie nach Hause, Sam, und wie schlecht geht es ihr?«

»Trotzdem, Mom, wir müssen die Ruhe bewahren. Jede Aufregung wäre zu viel für sie. Sie ist sie ist auf Entzug. Man hat sie während der Gefangenschaft unter Drogen gesetzt. Wir wissen noch nicht, was genau sie alles durchgemacht hat. Sie steht kurz vor einem Zusammenbruch, daher dürfen wir sie auf keinen Fall überfordern, wenn sie nach Hause kommt.«

»Und da ist noch etwas, das ihr wissen solltet«, fügte Donovan hinzu.

Alle Blicke richteten sich auf ihn.

»Sie kann sich an vieles aus ihrem Leben nicht mehr erinnern.«

»Wie bitte?« Marlene schnappte nach Luft. Tränen liefen ihr die Wangen hinunter. »Mein Baby kann sich nicht mehr an uns erinnern?«

»An Ethan schon, und an Garrett ebenfalls«, entgegnete Sam. »Aber alles andere ist größtenteils weg. Ich jage ihr fürchterliche Angst ein, und Donovan könnte für sie genauso gut ein völliger Fremder sein.«

»Meine Güte.« Franks Stimme zitterte. »Das arme Kind.« Wütend und mit zusammengekniffenen Augen starrte er Sam an. »Warum? Warum hat man ihr das angetan?«

»Ich weiß es nicht, Dad. Aber ich habe vor, es herauszufinden.«

»Heilige Scheiße«, flüsterte Joe. »Das ist ja echt heftig.« Dann sah er Sam an und fragte: »Ein Drogenkartell?«

Sam nickte.

Nathan fluchte. »Wie zum Teufel konnte das passieren? Hat sie da drüben irgendwas gesehen, was sie nicht hätte sehen sollen? Und wenn ja, wozu der ganze Aufwand? Wieso hat man sie nicht gleich umgebracht?«

»Nathan!«, flüsterte seine Mutter schockiert.

»Seine Fragen sind berechtigt«, sagte Frank. »Er meint ja nicht, sie hätten sie umbringen sollen. Aber es ist doch wirklich verdammt seltsam, dass man uns einen Ring geschickt und behauptet hat, sie sei bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen, obwohl sie offensichtlich nie in die Maschine eingestiegen ist.«

»Seid ihr sicher, dass es sich um Rachel handelt?«, fragte Joe.

Donovan und Sam nickten.

»Gott sei Dank«, brachte Marlene mühsam heraus. »Gott sei Dank. Das ist ein Wunder. Sie lebt.« Ihre Augen leuchteten auf, als sie allmählich begriff, dass Rachel wahrhaftig noch am Leben war. »Was für ein wundervolles Geschenk! Ethan muss außer sich sein vor Freude.«

Donovan seufzte. »Das wird für beide nicht einfach werden. Sie werden unsere Hilfe brauchen. Aber das Wichtigste ist, dass wir ihnen nicht zu sehr auf die Pelle rücken und sie selbst ihren Weg zurück in die Normalität finden lassen.«

»Wann kommen sie zurück?«, wollte Marlene wissen. »Ich muss rübergehen und das Haus putzen und alles für sie vorbereiten. Einkaufen muss ich auch. Sie wird was Neues zum Anziehen brauchen.«

Sam hob abwehrend die Hand. »Eins nach dem anderen, Mom«, versuchte er sie zu beschwichtigen. »Es wird noch eine Weile dauern. Sie ist noch in Behandlung, und die Ärztin meinte, sie brauche noch ein paar Tage, bis sie die Reise antreten kann. Was Neues zum Anziehen braucht sie, da hast du recht. Sie ist ziemlich abgemagert. Wenn sie nach Hause kommt und ihr nichts mehr passt, könnte sie das vielleicht aus der Bahn werfen, insofern wäre es schon gut, wenn du ihr was kaufen würdest.«

Marlenes Gesicht hellte sich auf. »Rusty und ich können für sie einkaufen gehen, nicht wahr, Rusty?«

Marlene drehte sich zu dem Sessel, in dem das Mädchen eben noch gesessen hatte, aber Rusty war verschwunden. Marlene blinzelte verblüfft. Niemand hatte gesehen, wie Rusty das Zimmer verlassen hatte.

»Wer ist diese Rusty?«, fragte Donovan.

»Ein Mädchen, das eine Zeit lang bei uns wohnen wird«, erwiderte Marlene fast schon streitlustig.

Sam wechselte einen gequälten Blick mit seinen Brüdern. Die Verteidigungshaltung ihrer Mom konnte nur eins bedeuten: Sie hatte mal wieder einen Streuner aufgenommen. Nur dass dieser diesmal der menschlichen Gattung angehörte.

»Mom «, setzte Joe an.

»Du brauchst mir gar nicht mit ›Mom‹ zu kommen, junger Mann«, schnitt sie ihm das Wort ab. »Rusty ist unser Gast, und ihr werdet sie wie ein Familienmitglied behandeln, ist das klar?« Dann wurden ihre Gesichtszüge weicher. »Jungs, sie braucht uns. Das arme Ding. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, was dieses Mädchen durchgemacht hat.«

Sam seufzte frustriert auf. Dass seine weichherzige Mutter einen rebellischen Teenager in ihrem Haus aufgenommen hatte, war das Letzte, was sie jetzt brauchen konnten.

Marlene stand auf und klatschte in die Hände. Die Brüder sahen sich an und stöhnten. Kein Wunder, dass sie alle zum Militär gegangen waren. Ihre Mutter konnte jedem Ausbilder das Wasser reichen, der sie je gedrillt hatte.

»Wir haben viel zu tun, aber wenig Zeit«, sagte sie streng und nagelte Nathan und Joe mit ihrem Blick fest. »Ihr beide geht rüber und bringt Ethans Garten in Ordnung. Frank und ich nehmen das Haus in Angriff. Anschließend kaufe ich Lebensmittel ein und alles, was Rachel sonst noch braucht.«

»Und Donovan und ich?«, fragte Sam ergeben.

Sie schaute ihn liebevoll an und zog ihn von den Stufen hoch. Dann nahm sie ihn in die Arme und drückte ihn fest an sich. »Du und Donovan, ihr geht nach Hause und duscht, und dann schlaft ihr erst mal vierundzwanzig Stunden durch. Ihr beide seht schrecklich aus.«

Sam erwiderte ihre Umarmung und erlaubte sich nun endlich auch, ein bisschen Gefühl zu zeigen. Seine Familie hatte im letzten Jahr so einiges an Tiefschlägen einstecken müssen, und die nächsten Wochen und Monate würden auch nicht gerade einfach werden. Aber wenigstens würden sie zum ersten Mal seit langer Zeit wieder alle zusammen sein.

»So gern ich genau das tun würde, aber Donovan und ich haben eine Menge zu erledigen. Unsere Mission ist noch nicht beendet, und wir haben Verletzte, um die wir uns kümmern müssen.«

»Können wir dir irgendwie helfen, Sam?«, fragte Nathan.

Die Hilfe seines jüngeren Bruders käme ihm durchaus gelegen, aber er würde sie seiner Mom nicht gleich an ihrem ersten Tag zu Hause wegnehmen.

Als ob Marlene genau wüsste, was er dachte, schnaubte sie und trat einen Schritt zurück. »Nimm sie ruhig mit, wenn du sie brauchst. Je eher du das Geschäftliche erledigt hast, desto eher habe ich meine Familie wieder unter einem Dach.«

»Nett, wie ihr so über uns verfügt«, sagte Joe grinsend. »Fühlt sich genauso an wie bei der Armee.«

»Also, wenn euer Hilfsangebot ernst gemeint ist, dann könnten Donovan und ich euch durchaus brauchen. Garrett schickt alle drei Stunden einen Bericht, und Rio ist zurück ins Einsatzgebiet geflogen. Cole und Dolphin sind in Fort Campbell, aber die werden mich bestimmt spätestens in vierundzwanzig Stunden nerven, dass ich sie da schleunigst rausholen soll. Steele, Renshaw und Baker wollen unbedingt wieder eingesetzt werden, und ich neige dazu, sie Rio hinterherzuschicken, weil der völlig allein operiert.«

»Nathan und ich «

»Vergiss es«, fuhr Donovan ihm dazwischen. »Ihr zwei Wahnsinnigen gehört nicht mal zu KGI. Ihr gehört zu Uncle Sam, und der sieht es gar nicht gern, wenn seine Soldaten in fremden Ländern auf eigene Faust in den Krieg ziehen.«

»Am besten kommt ihr mit rüber und übernehmt eine Zeit lang die Kommunikation, während Donovan und ich uns ein paar Stunden aufs Ohr hauen. Ich kann mich kaum noch erinnern, wann ich das letzte Mal die Augen zugemacht habe.«

»Morgen zum Mittagessen seid ihr alle wieder hier«, sagte Marlene energisch.

»Brathähnchen?«, fragte Donovan hoffnungsvoll.

Marlene tätschelte ihm die Wange und nahm ihn dann genauso fest in die Arme, wie sie es zuvor mit Sam gemacht hatte. »Was immer du willst. Aber jetzt geht ihr erst mal nach Hause und schlaft euch aus.«