5

Rachel. Ihr Name war Rachel. Jetzt hatte sie den Beweis dafür. Der seltsame Mann, der urplötzlich in ihrer Hütte aufgetaucht war, hatte sie Rachel genannt, und ihr Schutzengel, den sie schon für ein reines Hirngespinst gehalten hatte, war gekommen, um sie zu retten. Endlich.

Nur dass sie nicht das Gefühl hatte, gerettet zu sein. Sie hatte eine Heidenangst. Wo sie auch hinschaute, nichts als Dschungel. Sie hatte sich hoffnungslos verlaufen und war mutterseelenallein.

Allein. Aber nicht mehr in Gefangenschaft.

Als diese Erkenntnis in ihr Bewusstsein vordrang, empfand sie eine unbändige Freude. Sie war frei.

Sie fiel auf die Knie und wäre in Tränen ausgebrochen, hätte ihr Magen nicht rebelliert. Sie musste sich mit den Händen auf dem feuchten Boden abstützen, so sehr quälte sie der Brechreiz. Sie würgte und würgte, bekam aber nur Bauchkrämpfe.

Auf einmal hörte sie etwas rascheln. Schlagartig wurde sie still und hielt den Atem an. Kamen sie, um sie zurückzuholen? Die Versuchung war groß, einfach hier liegen zu bleiben und auf sie zu warten. Zumindest würde sie dann ihre Medikamente bekommen, die die grässlichen Schmerzen vertreiben würde.

Tränen der Wut brannten ihr in den Augen. Nein, sie würde nicht dorthin zurückgehen. Lieber würde sie sterben. Ethan war bei dem Versuch, sie zu retten, erschossen worden. Bei dem Gedanken drehte sich erneut ihr Magen um.

Sie musste weg von hier. Die Vorstellung, tiefer in den Dschungel vorzudringen, wo zahllose Tiere auf Beute lauerten, ängstigte sie zu Tode. Aber hierzubleiben ängstigte sie noch viel mehr.

Sie zwang sich aufzustehen. Sie machte einen Schritt. Noch einen. Der Boden unter ihren bloßen Füßen fühlte sich warm und lebendig an. Langsam wurde sie schneller und schneller, bis sie schließlich rannte.

Schmerz. Angst. Sie wusste nicht, was die Oberhand gewinnen würde. Beides überwältigte sie gleichermaßen. Rachel blieb stehen, um sich auszuruhen. Sie lehnte sich gegen einen Baum. Eine weitere Welle der Übelkeit überrollte ihren Körper.

Ihre Nerven fühlten sich an, als würden sie aus allen Rohren feuern. Ein endloses Schmerzstakkato schoss durch ihre Adern. Ihre Haut juckte überall, und nur mit größter Mühe gelang es ihr, sich zu beherrschen und nicht wie wild draufloszukratzen.

Sie atmete durch die Nase. Ihre Nasenflügel bebten vor Anstrengung. Rings um sie herum war nichts als das undurchdringliche Dickicht des Dschungels. Panik ergriff sie. Ihre Hilflosigkeit trieb ihr Tränen in die Augen. Sie hatte keine Ahnung, wo sie hinlaufen und wie sie am Leben bleiben sollte.

Trotz der drückenden Schwüle war ihr kalt. Sie fror von innen heraus. Ein Geräusch hinter ihr schreckte sie auf. Sie wirbelte herum, unsicher, wohin sie flüchten sollte. Aus welcher Richtung war sie überhaupt gekommen?

Vor Müdigkeit wurden ihre Augenlider schwer, doch sie blinzelte kurz und zwang sich weiterzugehen. Morast und Gott weiß was zerrten an ihren Zehen. Als etwas Glitschiges über ihren Knöchel glitt, riss sie hastig den Fuß hoch.

Sie hechtete in ein dichtes Gewirr aus Pflanzen. Dabei verspürte sie ein plötzliches Stechen in ihrer Schulter, und der Schmerz raste wie Feuer durch ihre protestierenden Muskeln. Hatte sie sich die Schulter ausgekugelt? Keuchend blieb sie liegen, während der Schmerz durch ihren Körper tobte.

Sie musste weiter, damit sie sie nicht entdeckten.

Die feuchten Blätter strichen ihr über die Wangen und hinterließen eine kühle Spur auf der Haut. Sie presste den verletzten Arm an die Brust, tastete sich mit der anderen Hand vor und kroch weiter, bis sie komplett vom Unterholz verschluckt wurde.

Ihre Knie trafen auf mehrere knorrige Baumwurzeln. Rasch robbte sie zum Stamm, um sich an seiner Rinde zu wärmen und ihren rasenden Herzschlag zu beruhigen.

Still. Sie musste still sein. Ihr Atmen klang in ihren Ohren wie Gebrüll, selbst inmitten der Kakofonie des Dschungels.

Vorsichtig zog sie die Beine an und klemmte den verletzten Arm zwischen Brust und Knie ein. Sie verhielt sich so still wie nur möglich. Ihre Muskeln zuckten, ihre Haut juckte. Sie kämpfte gegen den Drang, sich zu kratzen und die Millionen Dinge wegzufegen, die über ihren Körper krabbelten. Sie sah an sich hinab, auch wenn ihr klar war, dass sie nichts finden würde, aber ihr Körper weigerte sich zu glauben, was der Verstand ihm sagte.

Aus den Augenwinkeln heraus sah sie eine Bewegung. Sie erstarrte. Langsam drehte sie den Kopf nach links, hielt Ausschau. Dann entdeckte sie ihn.

Ihr stockte der Atem. Das war der Mann, der mit Ethan gekommen war. Sam. Er war groß, wirkte böse und hatte ein Gewehr. Er blickte sich um, sein Gesichtsausdruck war finster und konzentriert.

Oh Gott, oh Gott. Was sollte sie bloß tun? Er jagte ihr eine solche Angst ein. Sie kannte ihn nicht. Sie traute ihm nicht. Allerdings kannte er ihren Namen. Würde er sie jetzt, da Ethan tot war, wieder in die Hütte bringen? Würde er ihr helfen oder sie einfach nur loswerden wollen?

Dann sah sie rechts von sich etwas aufblitzen. Erst glaubte sie, sie hätte sich getäuscht, doch dann entdeckte sie die Männer, die sich durch das Dickicht schoben. Sie waren kaum auszumachen. In ihrer Tarnkleidung verschmolzen sie fast völlig mit ihrer Umgebung.

Wie groß ihre Angst vor Sam auch sein mochte, von diesen Männern hatte sie Schlimmeres zu erwarten. Sie kannte ihre Gesichter gut, weil sie sie tagtäglich gesehen hatte. Eine halbe Ewigkeit lang. Galle stieg in ihr hoch, und sie zitterte so sehr, dass ihre Zähne laut klapperten.

Sie musste alles auf eine Karte setzen. Da Ethan tot war, war diesem Sam möglicherweise egal, was mit ihr geschah. Aber bisher hatte er ihr nichts getan, was sie von ihren Entführern nicht behaupten konnte.

Ihre verzweifelte Furcht lähmte sie schier, dennoch stand sie mit wackligen Knien auf. Sie musste ihn warnen Hatte Sam die Bedrohung erkannt?

»Sam, hinter dir!«

Blitzschnell warf er sich zu Boden, da waren auch schon Gewehrschüsse zu hören. Einer der Männer fiel um. Wilde Befriedigung überkam sie. Dann wieder Schüsse. Diesmal von hinten.

Sie legte sich flach hin und schlang sich die Arme um den Kopf. Im Geist schrie sie unaufhörlich. Um sich irgendwie zu schützen, während um sie herum ein regelrechter Krieg ausbrach, rollte sie sich ganz klein zusammen. Sie wollte nach Möglichkeit unsichtbar werden.

Doch schon bald wurde ihr klar, wie dumm das war. Sie musste hier weg. Ihr Versteck hatte sie schon verraten. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie kamen, um sie zu holen.

Der Schrecken verlieh ihr neue Kraft. Sie stützte sich auf und robbte los. Direkt über ihrem Kopf schlug eine Kugel in einen Baum. Sie zuckte zusammen und legte sich schnell wieder flach auf den Bauch.

Als keine weiteren Kugeln den Boden um sie herum aufwühlten, setzte sie sich wieder in Bewegung und schickte bei jedem Zentimeter Bodengewinn ein Stoßgebet zum Himmel. Das Gewehrfeuer verstummte, doch das beruhigte sie nicht. Im Gegenteil. Eine heftige Panik befiel sie. Jetzt, da die Männer nicht mehr abgelenkt waren, würden sie erst recht hinter ihr her sein.

Sie kroch schneller. Jeder Atemzug bereitete ihr Schmerzen in der Brust. Schweiß lief über ihr Gesicht. Oder waren es Tränen?

Sie robbte direkt in die Leiche hinein. Sie war zu erschrocken, um zu schreien oder auch nur zu kapieren, dass der Mann tot war. Alles war voller Blut. Das Gewehr hielt er noch immer fest umklammert.

Sie kannte diesen Mann. Sie hasste ihn und empfand keinerlei Mitleid. Mit größerer Kraft, als sie sich selbst zugetraut hätte, entwand sie ihm das Gewehr und robbte weiter.

Die Männer würden sie nicht dorthin zurückbringen. Sie würde sie umbringen. Ausnahmslos.

Als sie sich weit genug von der Leiche entfernt hatte, verschnaufte sie erst einmal. Sie hatte Seitenstechen, die Schulter brannte, durch den Tränenschleier konnte sie kaum noch etwas erkennen. Ihr steckte ein Schluchzer in der Kehle, aber sie schluckte ihn sofort hinunter. Aus Angst, sich zu verraten, senkte sie den Kopf und legte das Gesicht in die freie Hand. Sie musste sich kurz ausruhen. Nur ganz kurz.

Mehrere Minuten vergingen, oder waren es Sekunden? Ihr kam es vor wie eine Ewigkeit. Plötzlich hörte sie ihren Namen. Ein ganz leises Flüstern, das der Wind zu ihr trug. Rachel.

Sie schrak zusammen, sah aber nicht hoch. Sie riefen sie nie bei ihrem Namen.

»Rachel.«

Sehr nahe diesmal.

Sie hob den Kopf, packte das Gewehr, rollte sich zur Seite und schwang den Lauf in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Ein merkwürdiger Mann starrte sie mit ausdruckslosem Gesicht an. Seine stahlblauen Augen gaben nicht preis, was er dachte. Er schien die Ruhe in Person zu sein und keineswegs beunruhigt, dass sie mit einer Waffe auf ihn zielte.

Sie versuchte, von ihm wegzurutschen, verfing sich jedoch in den Schlingpflanzen. Sie stieß das Gewehr vor, achtete aber darauf, dass sie mit dem Finger am Abzug blieb.

Hinter dem Mann tauchte ein weiterer Mann auf. Sam. Wortlos stellte er sich zwischen sie und den anderen.

»Verschwinde, Steele«, murmelte er.

Beruhigend streckte er ihr eine Hand hin, in der anderen baumelte sein Gewehr, aber er machte keinerlei Anstalten, es auf sie zu richten. »Rachel, hör mir zu. Ich tue dir nichts. Ich schwöre es. Leg die Waffe weg und komm mit. Ich bringe dich zu Ethan.«

Schlagartig traten ihr Tränen in die Augen. Sie hatte einen Kloß im Hals, und so oft sie auch schluckte, sie brachte ihn nicht hinunter.

Sie konnte ihm nicht trauen. Er log sie an. Ethan war tot. Sie hatte das Blut gesehen und wie er zu Boden gegangen war, kurz nachdem er ihr zugerufen hatte, sie solle losrennen. Sie ignorierte die Schmerzen, um auf die Beine zu kommen. Unsicher stand sie da. Sam entspannte sich und hielt immer noch die Hand ausgestreckt, aber statt zu ihm zu gehen, wich sie zurück, den Blick fest auf ihn und den anderen Mann gerichtet, der direkt neben ihm stand.

Zitternd hob sie das Gewehr, zielte auf einen Punkt zwischen den beiden und hoffte, dass sie fortgehen würden. Sam kniff kurz die Augen zusammen und machte dann einen Schritt auf sie zu.

»Nein«, rief sie mit erstickter Stimme und zielte jetzt auf ihn.

Er hob eine Hand und trat vorsichtig wieder zurück.

»Rachel«, sagte er besänftigend. »Liebes, ich will dir helfen. Es wird Zeit, dass du nach Hause zurückkehrst. Zu den Menschen, die dich lieben. Zu deiner Familie.«

Das Herz setzte einen Schlag aus. Familie? Sie konnte sich an keine Familie erinnern. Erinnern konnte sie sich nur an Ethan, sonst an nichts, und auch an ihn nur undeutlich. Wann hatte sie alles vergessen? Nur endlose Schmerzen und die Angst waren ihr im Gedächtnis geblieben. Außerdem die Benommenheit nach den Injektionen und das kribbelnde Verlangen, wenn sie zu lang auf die nächste Dosis warten musste.

Ganz kurz zögerte sie, der Gedanken an eine Familie war allzu verlockend. An ein Zuhause. An Menschen, die sie mochten. Doch dann fiel es ihr wieder ein. Ethan war tot. Er war alles gewesen, was sie hatte. Alles, was sie noch wusste. Hätte es noch andere gegeben, würde sie sich bestimmt an sie erinnern. Oder hatte sie ihre Familie vergessen?

Du kannst dich doch kaum erinnern, wer du bist!

Der Gedanke schlängelte sich durch ihre Gehirnwindungen, verhöhnte sie und erinnerte sie daran, wie sehr sie an ihrer geistigen Verfassung zweifelte.

Aus dem Augenwinkel bemerkte sie wieder eine Bewegung. Sie schaute in die Richtung und sah einen weiteren Mann auf Sam und Steele zuschleichen. Er blickte außerordentlich finster drein, war größer und wirkte noch bedrohlicher als Sam. Eigentlich hätte er sie in Angst und Schrecken versetzen müssen, aber er hatte etwas Vertrautes an sich, etwas merkwürdig Tröstendes.

Verlor sie den Verstand?

Neben Sam blieb er stehen. In ihrem Kopf wirbelten Bilder wild durcheinander.

»Was zum Teufel ist los, Sam?«, fragte er leise knurrend. »Wir haben keine Zeit, hier lange herumzutrödeln. Wenn wir sie haben, dann lass uns verschwinden.«

»Sag das ihr«, murmelte Sam, den Blick unverwandt auf ihre Waffe gerichtet. »Wenn du mich fragst, will sie nicht mitkommen.«

Wie Blitze am finsteren Nachthimmel schossen ihr Bilder durch den Kopf. Erinnerungen? Der Mann neben Sam, nur dass er lächelte, beinahe zärtlich. Wasser. Ein Bootssteg. Er hob sie hoch und warf sie in den See. Lachend stand er am Ufer, als sie prustend wieder auftauchte, und sie lachte mit. Glücklich. Sie war glücklich gewesen.

Noch eine Erinnerung. Intensiv und so schön. Eine Kirche. Sie schreitet den Mittelgang hinab. Ethan wartet und dieser Mann vor ihr er hatte sie geleitet. Ihre Hand fest auf seinem Arm. Er flüsterte ihr zu, sie brauche sich keine Gedanken zu machen, sie sei die schönste Braut auf der ganzen Welt und sein Bruder sei der glücklichste Mann auf Erden.

Garrett. Ethans Bruder.

»Garrett?«, fragte sie leise.

Der finstere Blick verschwand schlagartig, und etwas wie Freude blitzte kurz in seinen Augen auf.

»Ja, Rachel. Ich bin es, Garrett.«

Instinktiv flüchtete sie sich an seine Seite, achtete allerdings darauf, dass er zwischen ihr und den beiden anderen Männern stand. Vor Überraschung erstarrte er, legte dann aber einen Arm um sie. Sie drückte sich eng an ihn und warf Sam einen skeptischen Blick zu.

»Gib mir die Waffe, Kleines«, sagte Garrett sanft und entwand sie ihr vorsichtig.

Als der Riemen über ihre Schulter streifte, zuckte sie zusammen. Ihre Atmung beschleunigte sich. Sam runzelte die Stirn und ging auf sie zu. Sie wich hastig zurück, stolperte über das Unterholz und landete schmerzhaft auf dem Rücken.

Sofort beugte sich Garrett zu ihr hinunter und tastete ihren Arm ab. Sam kniff die Augen zusammen und hielt sich zurück.

»Bist du verletzt, Rachel? Wo hast du Schmerzen?«

»Meine Schulter. Ich kann den Arm nicht bewegen. Es tut zu weh.«

»Wahrscheinlich ausgekugelt«, sagte Sam mit grimmiger Miene. »Der Arm steht im falschen Winkel ab, und sie hält ihn merkwürdig.«

Als Sam sich wieder auf sie zu wagte, rutschte sie erneut von ihm weg. Fluchend blieb er stehen.

»Sie kann sich nicht mehr an dich erinnern«, sagte Garrett.

»Ja, ist mir auch schon aufgefallen«, brummte Sam. »Dass sie sich an dich erinnert, wundert mich allerdings nicht. Wenigstens etwas.«

»Er hat gelogen«, wisperte Rachel.

Garrett runzelte die Stirn. »Wer hat gelogen?«

»Sam.«

Überrascht zuckte er mit den Kopf nach hinten. »Ich?«

Garrett strich Rachel das Haar aus dem Gesicht. »Weswegen hat er dich angelogen, Kleines?«

Tränen traten ihr in die Augen. Sie biss sich auf die Unterlippe, um vor Verzweiflung nicht laut aufzustöhnen. »Er hat gesagt, er würde mich zu Ethan bringen, aber Ethan ist tot.«

Erschrocken rissen Garrett und Sam die Augen auf. Sam atmete geräuschvoll aus und kauerte sich dann neben sie. Ihr Zurückweichen ignorierte er.

»Warum in aller Welt glaubst du, dass Ethan tot ist?«

»Ich habe gesehen, wie er gefallen ist. Er wurde erschossen. Er hat mir gesagt, ich solle davonlaufen, dann ging er zu Boden. Ich habe es gesehen.«

Sam lächelte. »Er ist nicht tot, Rachel. Um diesen störrischen Esel umzubringen, ist schon sehr viel mehr nötig. Das war nur ein Kratzer. Geblutet hat er wie ein angestochenes Schwein, aber ihm fehlt nichts. Ich schwöre es dir.«

Ihr Blick flog zu Garrett, von dem sie Bestätigung erhoffte. Hoffnung keimte in ihrer Brust. Garrett nickte kurz.

»Ihm fehlt nichts?«, fragte sie unsicher. »Wo ist er?«

»Ich bringe dich zu ihm«, sagte Sam. »Aber wir müssen uns beeilen.«

Wieder ergriff die Angst von ihr Besitz. Sie begann zu zittern. »Lass nicht zu, dass sie mich wieder in die Hütte bringen. Bitte.«

Garretts Gesicht verfinsterte sich und zeigte einen Ausdruck so roher Gewalt, dass sie erschauderte. Der Mann hinter Sam trat vor. Einen Moment lang durchbohrte er sie mit seinem kalten Blick, dann kniete er sich neben sie. Er kam ihr nicht zu nahe, sondern hockte einfach nur da und starrte sie an.

»Sie kennen mich nicht, Rachel«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Sie haben keinen Grund, mir zu glauben. Aber eins kann ich Ihnen garantieren. Ich werde nicht zulassen, dass diese Schweine Sie wieder mitnehmen. Ich werde dafür sorgen, dass Sie und Ethan nach Hause kommen. Haben Sie mich verstanden?«

In seiner Stimme lag eine knallharte Selbstsicherheit. Ein unerschütterliches Selbstvertrauen, das sie trotz ihrer Ängste beruhigte.

»Jetzt kann’s gleich wehtun«, sagte Garrett, schob ihr einen Arm unter die Knie, legte den anderen um ihren Rücken und hob sie vorsichtig hoch, um nicht an ihre verletzte Schulter zu stoßen.

Misstrauisch blickte sie zu Sam hinüber und musterte ihn aus sicherem Abstand. Er sah Ethan nicht ähnlich. Garrett schon. Vielleicht konnte sie sich deshalb an ihn erinnern. Während Ethan und Garrett groß und dunkelhaarig waren, mit gestählten Körpern und markanten Gesichtern, war Sam schlanker, aber nicht weniger muskulös. Er hatte hellbraunes Haar, aber seine Kinnpartie strahlte eine Entschlossenheit aus, die sie verunsicherte. Seine Augen waren blau wie undurchdringliches Eis, ganz ähnlich wie Steeles Augen.

Als würde er ihren prüfenden Blick spüren, schaute er hoch. Wie durch Zauberei verlor sein Blick jede Härte und wurde liebevoll. Zaghaft lächelte er sie an.

»Ich kann mich nicht an dich erinnern«, sagte sie leise. »Tut mir leid.«

Er trat auf sie zu und strich eine Haarsträhne hinter ihr Ohr. »Das macht nichts, Süße. Das wird schon. Wichtig ist jetzt nur, dass wir zu Ethan kommen und dann nach Hause fahren, wo wir dich verwöhnen und dafür sorgen können, dass es dir gut geht.«

Garrett marschierte los und trug sie vorsichtig durch das Gewirr des Dschungels. Sam bildete die Spitze und suchte mit schussbereitem Gewehr methodisch die Umgebung ab. Steele folgte zum Schluss.

»Wer sind ›alle‹?«, fragte sie Garrett leise.

»Pst, nicht jetzt«, sagte Garrett, allerdings ohne jeden tadelnden Unterton. »Wenn wir aus dem Gröbsten raus sind, reden wir.«

Sie legte den Kopf unter sein Kinn und die Wange an seine breite Brust. Kaum hatte sie sich ein wenig beruhigt, überkam es sie wieder, heftig und unbarmherzig. Sie begann zu zittern. Ihr war gleichzeitig kalt und heiß. Schweiß brach ihr aus allen Poren, und sie wurde ununterbrochen von Krämpfen geschüttelt.

Garrett nahm sie so fest in die Arme, dass der Schmerz durch ihren Arm schoss. Sie schnappte nach Luft, und sofort lockerte er den Griff wieder.

»Arznei«, keuchte sie. »Bitte, ich muss sie haben. Sonst sterbe ich.«

»Du stirbst nicht«, flüsterte Garrett ihr ins Ohr. »Ich lasse dich nicht sterben. Ich weiß, dass es wehtut, Liebes, aber du musst dagegen kämpfen. Sie dürfen nicht gewinnen. Denk an Ethan. Bald bist du wieder bei ihm.«

Tausende Insekten krochen über ihren Körper, über ihre Haut, wühlten sich unter ihre Kleidung. Sie schloss die Augen. Mehr konnte sie nicht tun, um nicht loszubrüllen, sich loszureißen und sich die Viecher von der Haut zu schrubben.

»Verdammter Mist, Sam, hast du kein Beruhigungsmittel in deiner Tasche?«, fluchte Garrett.

Er blieb stehen und änderte ihre Position in seinen Armen. Kurz darauf spürte sie einen Stich. Überrascht riss sie den Kopf hoch und starrte Garrett wortlos an.

»Schon gut, Kleines. Mach die Augen wieder zu. Es wird gleich besser. Versprochen.«

Ihr wurde schummrig. »Ethan«, flüsterte sie. »Du hast es versprochen.«

»Wenn du wieder aufwachst, ist er bei dir«, sagte Sam neben ihr. »Entspann dich, kämpf nicht dagegen an.«

Einen Moment lang wehrte sie sich noch, überwältigt vom Schmerz und von der Gier. Dann verblasste die Welt um sie herum, ihre Lider flatterten, aber sie kämpfte hartnäckig.

Eine Hand streichelte sanft ihre Wange, dann ihre Haare. Sehnsüchtig seufzend schmiegte sie sich an die Berührung, dankbar für den Trost, den sie spendete. Dann verlor ihr Körper jegliche Energie, er erschlaffte.

Ethan.