16
»Rusty ist verschwunden!«, rief Marlene und fuchtelte wild mit den Händen herum.
»Beruhige dich, Mom«, sagte Joe beschwichtigend.
Sie warf ihm einen bösen Blick zu. »Nein, ich beruhige mich nicht. Ich habe es satt, dass meine Söhne mir dauernd erzählen, ich solle mich beruhigen.«
»Was soll das heißen, sie ist verschwunden?«, fragte Nathan.
Marlene betrachtete verzweifelt die drei ihrer Söhne, die in ihrem Wohnzimmer herumlungerten. Keiner von ihnen machte den Eindruck, als würde es ihm auch nur im Geringsten etwas ausmachen, dass Rusty davongelaufen war. Seit Rusty von Rachels Heimkehr erfahren hatte, war sie sehr still gewesen, aber Marlene hatte nicht damit gerechnet, dass sie verschwinden würde, noch dazu an dem Tag, an dem Rachel zurückerwartet wurde.
»Manchmal frage ich mich, ob der gesamte gesunde Menschenverstand schon verteilt war, bevor ihr beide an der Reihe wart«, murmelte sie.
Nathan zuckte zusammen. »Autsch, Mom. Das war jetzt aber nicht nett.«
Donovan musste lachen. Doch bevor er eine schlagfertige Antwort geben konnte, brachte Marlene ihn mit einem vorwurfsvollen Stirnrunzeln zum Schweigen.
»Ihr werdet euch sofort allesamt auf die Suche nach ihr machen. Ich habe dafür keine Zeit. Rachel muss jeden Moment ankommen, und ausgerechnet jetzt ist Rusty verschwunden.«
»Hast du dir schon mal überlegt, dass sie vielleicht gar nicht gefunden werden will?«, fragte Donovan vorsichtig. »Du kannst sie nicht zwingen zu bleiben, Mom. Sie ist ein schwieriges Kind. Du kannst nicht jeden retten.«
»Es ist mir egal, ob sie gefunden werden will oder nicht – wobei ich nicht eine Sekunde lang glaube, dass sie allein da draußen rumlaufen will. Schafft sie mir wieder nach Hause. Ich habe keine Ahnung, was los ist, aber bevor ich nicht aus ihrem eigenen Mund höre, dass sie wegwill, behandeln wir sie wie ein Familienmitglied, das in Schwierigkeiten steckt. Würdet ihr seelenruhig hier sitzen und mit mir diskutieren, wenn ich euch sagen würde, dass einer eurer Brüder verschwunden ist? Als ihr erfahren habt, dass Rachel in Schwierigkeiten steckt, habt ihr schließlich auch keine Zeit verloren.«
Nathan warf ihr einen finsteren Blick zu und stand auf. »Einen Moment mal, Mom. Du kannst dieses Kind doch nicht mit Rachel vergleichen. Die Kleine nutzt dich und Dad doch bloß aus.«
Marlene starrte ihn wütend an. »Ihr macht euch jetzt sofort auf die Suche nach ihr, alle drei. Und wagt ja nicht, ohne sie zurückzukommen. Ich hole euren Dad, und wir nehmen den Pick-up. Wenn ihr sie gefunden habt, ruft ihr mich auf der Stelle an, verstanden?«
Seufzend verdrehte Joe die Augen.
»Ein bisschen mehr Respekt, junger Mann«, fuhr Marlene ihn an.
»Ja, Ma’am«, erwiderte er gehorsam.
Sie sahen alle drei nicht begeistert aus, standen aber brav auf und gingen zur Haustür.
Nathan stieg in seinen Pick-up und warf seinen Brüdern, die ebenfalls in ihre Autos stiegen, einen resignierten Blick zu. Wenn Mom sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, gab es kein Entrinnen. Sie würde das gesamte Stewart County auf den Kopf stellen, um Rusty zu finden.
Nathan fuhr rückwärts aus der Auffahrt und lenkte den Wagen dann Richtung Westen. Er würde die Landstraße entlang des Sees absuchen, während sich seine Brüder in Dover umsahen.
Er fuhr etwas schneller als nötig, weil er bald wieder zu Hause sein wollte, um zu hören, ob Ethan und Rachel gut angekommen waren. Außerdem wollte er unbedingt wissen, was Garrett zu berichten hatte. Aber das ging nicht, solange er wegen einer Schnapsidee seiner Mutter einen sinnlosen Auftrag erledigen musste.
Das war vermutlich nicht ganz fair, aber sein Ärger ließ keinen Platz für wohlgesinnte Gedanken. Seine Mutter hatte ein außergewöhnlich weiches Herz. Sie war viel zu gutmütig. Und wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte nichts und niemand sie davon abbringen.
Eine halbe Stunde lang bog er immer wieder in gewundene Nebenstraßen ein, dann fuhr er die 232 wieder zurück und weiter in südlicher Richtung. Er hatte gerade den Leatherwood Creek überquert, als er hinter einer Kurve eine einsame Gestalt entdeckte, die am Straßenrand entlanglief. Rusty.
Er bremste und ließ das Fenster auf der Beifahrerseite hinuntergleiten. Als er neben ihr zum Stehen kam, sah sie ihn misstrauisch an. Dann wurde ihr klar, wer er war, und ihr ganzer Körper versteifte sich.
»Gibt es irgendeinen speziellen Grund, warum du hier mutterseelenallein den Highway entlangspazierst, während meine Mutter vor lauter Sorge bald den Verstand verliert?«, fuhr er sie an.
Rusty starrte stur geradeaus und ging einfach weiter. »Ich bin ihr ja sowieso egal«, murmelte sie.
»Ach wirklich? Deshalb hat sie dich vermutlich auch aufgenommen, dir Essen und Kleidung und ein Zuhause gegeben und uns alle schier in den Wahnsinn getrieben mit der Forderung, dich ja zu akzeptieren und bloß kein böses Wort zu dir zu sagen. Und deshalb hat sie uns auch alle losgejagt, um dich zu suchen, obwohl wir uns jetzt lieber auf Rachels Heimkehr vorbereiten würden.«
Rusty blieb abrupt stehen und verzog das Gesicht. »Rachel! Ich kann den Namen echt nicht mehr hören. Rachel ist so großartig. Die Tochter meines Herzens. Alle lieben Rachel. Marlene braucht mich nicht mehr, jetzt, wo ihre richtige Tochter wieder da ist.«
Trotz seiner Wut wurde Nathan etwas nachgiebiger, während er das Mädchen betrachtete. Rusty litt, und sie gab sich alle Mühe, ihn nicht spüren zu lassen, wie sehr sie litt.
»Steig ein«, sagte er.
Sie schüttelte den Kopf.
»Na los, wir fahren ein bisschen spazieren. Wenn du noch nicht nach Hause willst, fahren wir eben einfach durch die Gegend.«
Sie zögerte. Ihre Lippen zitterten. Nathan beugte sich zur Seite und öffnete die Beifahrertür. Rusty stieß einen tiefen Seufzer aus und stieg ein.
»Schnall dich an«, sagte er geduldig.
Sie setzte ein mürrisches Gesicht auf, folgte aber gehorsam seiner Anweisung.
Nathan fuhr weiter den Highway entlang, damit sie wusste, dass er noch nicht mit ihr nach Hause fuhr.
»So, würdest du mir jetzt bitte erklären, wieso du glaubst, dass die Rückkehr eines so wundervollen Menschen wie Rachel irgendetwas an den Gefühlen meiner Mutter für dich ändern könnte?«
»Ich bin doch ein Niemand«, erwiderte sie missmutig. »Ich habe deiner Mom nur leidgetan. Sie war traurig wegen Rachel und hat wohl gedacht, ich könnte sie ersetzen.«
»Hat sie dir das gesagt?«
Rusty zögerte. »Äh … nein.«
»Vielleicht hast du es zufällig gehört?«
Wieder schüttelte sie den Kopf. Sie blickte ihn verdrießlich an, weil sie schon ahnte, wohin das führte.
»Oder vielleicht hat meine Mutter dir irgendwie den Eindruck vermittelt, sie würde es nicht außerordentlich ernst meinen, sondern gern junge Mädchen rumschubsen, die in Schwierigkeiten stecken?«
»Du weißt genau, dass sie das nicht getan hat«, murmelte Rusty.
»Tja, dann fällt mir auch nichts mehr ein. Also los, sag es mir einfach. Wir Männer sind manchmal ein bisschen begriffsstutzig.«
Rusty starrte lange schweigend auf ihre Hände hinunter, die in ihrem Schoß lagen. »Ich habe einfach gedacht … Ich habe angenommen, dass sie mich jetzt, wo Rachel nach Hause kommt, nicht mehr will.«
Nathan streckte den Arm aus und nahm ihre Hand, ohne ihr überraschtes Zusammenzucken zu beachten. »Ich kann verstehen, wieso du das fürchtest. Aber eins kannst du mir glauben: Meine Mutter verfügt über unbegrenzte Fähigkeiten, für andere zu sorgen. Sie war viele Jahre lang Lehrerin, und sie kann dir heute noch den Namen jedes einzelnen Schülers nennen, der jemals einen Fuß in ihr Klassenzimmer gesetzt hat.« Nathan lächelte. »Stell dir mal vor, du wärest ihr jüngstes Kind – bei fünf älteren Brüdern. Wenn jemand Angst haben müsste, übersehen zu werden, dann ja wohl ich. Aber irgendwie schafft sie es immer, jedem Einzelnen von uns das Gefühl zu geben, er wäre etwas Besonderes, als wäre er der einzige Mensch auf der Welt, der ihr wichtig ist. Aber versteh mich nicht falsch. Sie lässt nicht alles mit sich machen, und wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat, ist sie wie ein Alligator mit einem Stück Frischfleisch.«
Rustys Lippen zitterten, und mit einem Ruck entzog sie ihm ihre Hand. »Ich bin es nicht gewohnt, dass jemand Interesse an mir hat.«
»Tja, vielleicht wird es Zeit, dass sich das ändert.«
»Das kann dir doch egal sein«, erwiderte sie kratzbürstig. »Du und deine Brüder, ihr mögt mich ja sowieso nicht. Euch wäre es lieber, wenn ich weg wäre.«
»Hier geht es aber nicht um mich und meine Brüder. Meiner Mutter bist du wichtig. Wir dagegen kennen dich nicht. Ob wir uns Sorgen machen, dass du unsere Mutter ausnutzt? Klar tun wir das. Und wir werden dich gut im Auge behalten, da kannst du Gift drauf nehmen. Ein falscher Schritt, und du bist geliefert. Aber solange du keinen Scheiß baust, brauchst du dir keine Sorgen zu machen.«
»Soll das heißen, du willst, dass ich mitkomme?«, fragte Rusty misstrauisch.
Nathan seufzte. »Hör auf, mir das Wort im Mund rumzudrehen, Rusty. Du musst die Verantwortung für deine Entscheidungen selbst übernehmen. Wenn du mit zurückwillst, dann sag es und hör auf, unser beider Zeit zu verschwenden. Wenn du nicht willst, auch gut, aber dann kommst du trotzdem mit und sagst das meiner Mutter ins Gesicht und schleichst dich nicht wie ein undankbarer Feigling davon.«
Schockiert starrte sie ihn an, doch dann huschte plötzlich ein Lächeln über ihr Gesicht. Schlagartig sah sie völlig anders aus. Von einer missmutigen Verliererin verwandelte sie sich auf einmal in ein lebhaftes junges Mädchen, das eigentlich sogar recht hübsch war.
»Ich mag Leute, die sagen, was Sache ist.«
Nathan lachte. »Dann müsstest du mit der Kelly-Sippe eigentlich ganz gut klarkommen. Und, was ist jetzt? Fahren wir nach Hause, oder nicht?«
Ihre Augen funkelten, und sie wirkte irgendwie … hoffnungsvoll. Fast schon aufgeregt. Dann, so plötzlich wie ihr Strahlen aufgelodert war, erlosch es auch wieder. Ängstlich sah sie ihn an.
»Bist du sicher? Ich meine, bist du sicher, dass sie mich will?«
Er betrachtete sie einen Moment lang, dankbar, dass er sich in seinem Leben noch nie unerwünscht hatte fühlen müssen. »Ja, Rusty. Da bin ich mir ganz sicher.«