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Wie üblich bekam Geron Castle morgens ein breites Sortiment der Lokalzeitungen aus ganz Tennessee in sein Büro geschickt. Während er die Seiten für Vermischtes überflog, trank er gewöhnlich zwei Tassen Kaffee.
Als Politiker suchte er stets nach einem Ansatzpunkt, aus dem er Vorteile ziehen konnte, außerdem betrachtete er diese Beschäftigung wichtigtuerisch als eine Art Kontaktpflege zu seinen Wählern.
Als Erstes blätterte er die Ausgaben aus den drei größten Städten des Bundesstaats – Knoxville, Nashville und Memphis – durch. Danach widmete er sich den kleineren Zeitungen und quälte sich schließlich noch durch den Kleinstadtmist. Was die Leute da so Leben nannten! Rinder, Pferde, Jagen und Fischen. Das schien ihr ganzer Lebensinhalt zu sein. Es war ein Wunder, dass die Selbstmordrate in diesem gottverlassenen Staat nicht sehr viel höher war. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass ihm diese ungebildeten Bauerntrampel zum Sitz im Senat verholfen hatten, und sie würden indirekt auch dafür verantwortlich sein, wenn er sich auf dem Sprung ins Weiße Haus endlich den Dreck aus Polk County von den Schuhen abstreifen konnte.
Er nippte gerade an seiner zweiten Tasse und dachte an seinen bevorstehenden Urlaub, als sein Blick auf einen Artikel über eine Bewohnerin von Stewart County fiel, die für tot erklärt worden war und wundersamerweise wieder aufgetaucht war, nachdem sie einen angeblichen Flugzeugabsturz im südamerikanischen Dschungel überlebt hatte.
Als er den Namen der Frau las, verschluckte er sich und verspritzte den Kaffee über seinen Schoß. Rachel Kelly.
Er sprang auf und klopfte sich rasch auf die Hose, wo die heiße Flüssigkeit zu seinen eher empfindlichen Körperteilen durchgesickert war. Er fluchte lautstark, und wenn ihn seine Mutter gehört hätte, dann hätte sie ihm bestimmt den Mund mit Seife ausgewaschen. Sie war eine strenggläubige Frau, die regelmäßig in die Kirche ging und gottloses Benehmen in keiner Weise tolerierte.
Sein halbes Leben war er ihren Geboten und ihrem Beispiel gefolgt. Die andere Hälfte war er vom Pfad der Rechtschaffenheit so weit abgerückt wie nur möglich. Stolz war er nicht auf seine Sünden, er bedauerte sie aber auch nicht. Und jetzt sah es so aus, als würde er für diese Sünden büßen müssen.
Er schob die Tasse beiseite und ignorierte den Fleck auf dem Teppich ebenso wie die Lache auf dem Schreibtisch. Dann schnappte er sich die Zeitung und las den Artikel in voller Länge.
Dies war eine Katastrophe. Dies könnte das Ende seiner Karriere bedeuten. Das Ende seiner Präsidentschaft, noch ehe sie begonnen hatte.
Wie zum Teufel war es möglich, dass diese Nutte am Leben war?
Das verdammte Drogenkartell hatte ihn beschissen. Welchen Grund sie dafür hatten, ihren Teil der Abmachung nicht einzuhalten, wusste er nicht, aber es spielte auch keine Rolle, denn damit würden sie nicht durchkommen.
Er hob den Hörer ab, tippte eine Nummer ein, legte dann aber schnell wieder auf. Er konnte nur den Kopf über seine Dummheit schütteln. Das hier war nicht der rechte Ort für einen so wichtigen Anruf. Auch sein Handy durfte er nicht benutzen.
Seine Ungeduld und seine Panik hielten sich die Waage. Er schleuderte den Stuhl nach hinten und rannte fast schon aus dem Büro, vorbei an seiner verblüfften Sekretärin, der die Sauerei auf seiner Kleidung wahrscheinlich nicht entgangen war.
Nur mühsam beruhigte er sich wieder. Unerwünschte Aufmerksamkeit zu erregen, wäre auch nicht gerade hilfreich. Er drehte sich um, rang sich ein Lächeln ab und sagte seiner Sekretärin, er gehe nach Hause, um sich umzuziehen. Ihm sei ein kleines Missgeschick passiert, nichts weiter.
Er fuhr aus der Stadt. Gott sei Dank hatte er sich nicht in Washington aufgehalten, als der Artikel erschien. Dort funktionierte die regelmäßige Zustellung der Zeitungen nicht immer einwandfrei. Nicht auszudenken, wenn er diese Ausgabe versäumt hätte.
An der ersten Tankstelle mit Münztelefon hielt er an. Nachdem er überprüft hatte, dass niemand in Hörweite war, machte er den Anruf. Seine Anweisungen waren deutlich.
Das Kartell hatte Scheiße gebaut. Er konnte keine Zeugen gebrauchen. Jeder, der ihn mit dem Drogenhandel in Verbindung bringen konnte, musste sterben.
Rachel Kelly musste wieder das Zeitliche segnen.