27
Von einem Detektiv im Ruhestand, der immer noch stundenweise für Leon Mercer arbeitete, hatte ich gelernt, wie man Schlösser knackt. Es war allerdings nicht von großem Nutzen in einer Welt, die sich vorwiegend mit Versicherungsbetrug und der Überprüfung von Unternehmen beschäftigt, was ein Glück für mich war, denn ich hatte kein besonderes Händchen dafür. Nicht dass ich ein völliger Versager war, aber ich wusste, dass ich am Sicherheitsschloss von Ray Bishops Haustür wahrscheinlich scheitern würde, deshalb ging ich lieber durch ein rostiges altes Tor neben dem Haus nach hinten. Es gab keinen richtigen Garten, nur einen betonierten Hof mit einer hohen Mauer ringsherum, wo sich Mülleimer, Abfalltüten, Metallschrott, Autotüren, Autositze, Radkappen und kaputte Liegestühle sammelten … lauter Mist. Die Mauer war hoch genug, um mich vor den Nachbarfenstern im Erdgeschoss abzuschirmen, trotzdem blieb ich einen Moment stehen und vergewisserte mich, dass mich auch von den oberen Fenstern aus niemand beobachtete, dann ging ich zu einer Tür mit Glasscheibe an der Rückseite des Hauses und untersuchte das Schloss. Es war ein altmodisches, klappriges Steckschloss, sodass ich mir ziemlich sicher war, damit fertig zu werden. Ich musterte den ganzen Müll am Boden auf der Suche nach etwas, womit sich das Schloss knacken ließ, und entdeckte beinahe im selben Moment eine Tüte mit kaputtem Werkzeug. Ich ging hin, zog einen kleinen Schraubenzieher ohne Griff heraus und binnen weniger Minuten hatte ich die Tür geöffnet und trat in eine kleine Küche.
Ich schloss hinter mir die Tür, holte die Taschenlampe hervor und sah mich um. Die Küche war extrem klein und eng, weder übermäßig sauber noch extrem dreckig. Es gab eine verschmutzte Keramikspüle mit einem verzogenen Abtropfgestell aus Holz, alte Schränke, einen rostfleckigen Wasserboiler, einen Resopaltisch, auf dem lauter leere KFC-Schachteln rumlagen. Für einen Moment blieb ich stehen und horchte in die Stille, dann ging ich einen schmalen Flur entlang hinüber ins Wohnzimmer. Die Vorhänge waren zugezogen, die Lichter aus. Als ich den Taschenlampenstrahl umherschwenkte, zeigte sich mir ein Raum, der niemandem gehörte. Es war ein aus dem Versandhaus möbliertes Zimmer: langweilige Bilder an der Wand, dünner Teppich auf dem Boden, ein billiges Zweisitzer-Sofa und ein dazu passender billiger Sessel. Esstisch und Regale aus beschichteten Spanplatten und die Accessoires stammten direkt aus dem Katalog: Lampe, Vase, Uhr, eine Figur aus Porzellan, die ein rehäugiges Kind darstellte. An der Wand stand eine billige Musikanlage und auf dem Fußboden ein Breitbildfernseher.
Es gab hier nichts von Ray Bishop.
Es war nicht mehr als die Vortäuschung eines Raums.
Ich verließ das Zimmer und ging nach oben.
Auf halbem Weg hinauf hing ein Samuraischwert an der Treppenhauswand. Zuerst dachte ich, es wäre irgendein Dekorationsstück aus einem Versandkatalog, doch als ich stehen blieb und mir das Schwert genauer ansah, begriff ich, dass es absolut echt war. Die Klinge – sechzig Zentimeter Stahl, leicht gebogen und rasiermesserscharf – wies sogar Gebrauchsspuren auf. Hier und da hatte sie ein paar Kerben, die beschädigten Stellen waren leicht angerostet und einige Teile der Klinge von dunkelbraunen Flecken verfärbt. Ich stand einen Augenblick davor, starrte das Schwert an und versuchte, die schwelende Angst in der Leistengegend zu ignorieren … dann ging ich weiter die Treppe hinauf.
Oben gab es einen kleinen Flur, ein Badezimmer, einen leeren Abstellraum und ein überraschend großes Schlafzimmer. Und als ich die Tür öffnete und eintrat, wusste ich, dass dies das Zimmer war, in dem Ray Bishop tatsächlich lebte. Hier oben … das war sein Zuhause. Ich brauchte es nicht mal zu sehen, ich spürte es, fühlte es – die brutale Vitalität, die mir die Luft nahm.
Ich schloss die Tür hinter mir und leuchtete mit meiner Minitaschenlampe umher. Die Wände waren schwarz, die Farbe offenbar ohne jede Sorgfalt aufgetragen. Es schien, als ob jemand im Zimmer herumgerannt wäre und so lange Farbe auf die Wände geklatscht hätte, bis sie mehr schwarz als weiß waren. Das Fenster mit Blick zur Straße war mit einem einteiligen schweren schwarzen Vorhang zugehängt. Es gab kein Bett, nur eine Decke auf dem Fußboden. Die Decke war umgeben von einem Chaos herumliegender Dinge: Spritzen, Ampullen, Taschentücher, ein Löffel, ein Milchkarton, Kekse, Brot, Joghurt, Käse, Nüsse …
»Heilige Scheiße«, flüsterte ich, trat vorsichtig an dem Chaos vorbei und leuchtete weiter mit der Taschenlampe umher. Ringsum von Wand zu Wand verliefen Regale, auf denen sich alle möglichen seltsamen Dinge sammelten: Seile und Drähte, Ketten, kleine Holzschachteln, Blechkästen, Plastikboxen, Pappkartons, Körbe, Dosen, Aktenablagen, Papierstapel, Pornomagazine, Zeitungen, Bücher, Fotos, DVDs, Messer, Gürtel, Äxte, Riemen, Röhrchen, Pillenschachteln, kleine Glasfläschchen …
Es war wie die Albtraumversion eines Herrenladens.
Während ich in dem Zimmer herumging und alles anschaute, schlug mein Herz so heftig, dass mir die Luft in der Kehle stockte und das Adrenalin durch meine Blutbahnen schoss. Mein Körper flehte mich an, wieder zu gehen – geh, geh jetzt, verschwinde, RAUS!
Aber ich konnte noch nicht gehen.
Ich musste mich weiter umschauen.
Ich wusste nicht, wonach ich eigentlich suchte … ich schaute nur.
Es war nicht schön. Die Porno-DVDs und Zeitschriften waren voll von stumpf blickenden Menschen, die abstoßende, ekelerregende Dinge taten … unnatürliche Dinge, Dinge, die nichts mit Sex zu tun hatten, nur mit Gewalt. In der einen Ecke des Zimmers stand ein kleiner Tisch, der mit einer kakifarbenen Decke verhängt war, darunter standen ein Bildschirm, ein Scanner und ein Drucker. Die Umrandung des Monitors war schwarz gestrichen. Ich ertrug es nicht, noch näher heranzugehen. Stattdessen betrachtete ich wieder die Regale, sah Zangen, Klammern, Puppen, Masken, Proteinpulver, Schlagstöcke, Hinrichtungsfotos, eine schwarze, ledergebundene Bibel … und mitten unter all diesem Wahnsinn stieß ich auf ein Schwarz-Weiß-Foto in einem billigen Papprahmen. Soweit ich es sehen konnte, war es das einzige gerahmte Foto im ganzen Zimmer. Es zeigte zwei Jungen, die vor einem großen grauen Haus standen. Beide hatten dunkle Haare, beide lächelten nicht, beide trugen einen Pullover mit V-Ausschnitt. Ich nahm das Foto in die Hand und betrachtete es von Nahem. Auf einem Granitblock über der Eingangstür zu dem Haus konnte ich ganz schwach die eingravierten Worte PIN HALL erkennen. Ich schaute wieder auf die beiden Jungen und war mir ziemlich sicher, dass ich Mick und Ray Bishop vor mir hatte. Mick war etwas größer als Ray, und auch wenn er nur ein Jahr älter war als sein Bruder – ungefähr fünfzehn, als das Foto aufgenommen wurde –, konnte man deutlich erkennen, dass er der Dominantere war. Er stand vor seinem Bruder, den Körper angespannt, und starrte mit festem Blick in die Kamera … Es wirkte beinahe so, als wollte er Ray vor den unsichtbaren Augen der Zukunft, vor den Augen hinter der Kamera, den Augen von Menschen wie mir schützen.
Als ich danach Ray näher betrachtete, merkte ich, dass der Blick des Vierzehnjährigen fast dem Ausdruck entsprach, den ich an diesem Abend gesehen hatte, als Mick hinter dem Pub mit seinem Bruder wegen irgendwas geschimpft hatte. Die gleiche Verachtung, die gleiche Leere, das gleiche Fehlen jeglicher Emotion …
Es war beängstigend.
Ich stellte das Foto wieder zurück aufs Regal und schaute mich weiter um. Es gab jede Menge Bücher: Spinoza, Voltaire, Unamuno, Das Wolfsmädchen, Skinned, Leviathan, Wie wir sterben, Die Physik der Welterkenntnis, Todeskult, Die Vielfalt religiöser Erfahrung, Vom Wesen physikalischer Gesetze, Infinity and the Mind, Drei Schritte zur Hölle. Merkwürdige kleine Gegenstände lagen herum: bemalte Totenschädel, winzige Skelette, verstörende Skulpturen. Es gab Dinge in Gläsern: tote Insekten, eingelegte Mäuse, Embryos, Orakelknochen … alle möglichen unberührbaren und unbekannten Dinge. Sie strahlten eine Stille, eine Art verstaubtes Schweigen aus, was mich an Ausstellungsstücke in einem Provinzmuseum erinnerte … doch das hier war ein Museum, das niemand besuchen sollte, das Museum einer verdorbenen Seele. Diese Ausstellungsstücke waren nicht für die Augen anderer Menschen bestimmt.
Nach einer Stunde, wie es mir schien, obwohl es in Wirklichkeit wohl nicht mehr als zwanzig Minuten waren, stieß ich auf eine kleine Holztruhe, die ganz hinten in einem Kleiderschrank versteckt war. Zuerst wusste ich nicht recht, warum sie mich anzog, wieso ich auf sie so anders reagierte als auf alle übrigen Dinge im Zimmer … Doch nachdem ich mich vor dem Schrank niedergebückt und eine Weile darüber nachgedacht hatte, wurde mir plötzlich bewusst, dass die Holztruhe – im Unterschied zu allem andern – nicht offen ausgestellt war.
Sie war versteckt.
Vor Blicken verborgen.
Ich überlegte einen Moment, was das wohl zu bedeuten hatte … dann fasste ich in den Schrank, hob die Truhe heraus und öffnete sie.
Auf den ersten Blick schien sie nichts weiter zu enthalten als eine planlose Sammlung beliebiger Gegenstände … unbedeutenden Kram: einen Schuh, ein Haarband, eine kaputte Armbanduhr, eine rosa Strickjacke, ein paar Ringe, Armbänder, ein Portemonnaie …
Und eine Halskette …
Einen silbernen Halbmond an einer Silberkette.
Anna Gerrishs Kette.
Ich weiß nicht, wie lange ich am Boden dieses abstoßenden Zimmers hockte und in die Truhe voll grausamer Souvenirs starrte. Dieser Mann – Ray Bishop, Charles Raymond Kemper, Joel R. Pickton … wie immer er sich auch nennen mochte – dieser Mann hatte Anna Gerrish ermordet. Er hatte sie in seinen Wagen gelockt, überwältigt, erstochen, getötet, ihre Leiche am Straßenrand entsorgt … und er hatte ihre Kette mitgenommen. Als Souvenir. Zur Erinnerung an das, was er getan hatte.
Als ich in die Truhe starrte, wollte ich, dass ich mich irrte. Ich wollte nicht glauben, dass all dieser unbedeutende Kram in Wahrheit gar kein unbedeutender Kram war, sondern der Besitz von Menschen, von Mädchen, Frauen … die wahrscheinlich alle tot waren.
Umgebracht.
Ermordet.
»Scheiße«, hörte ich mich sagen.
Es waren so viele …
Wusste Mick Bishop davon? Ich überlegte. Wusste er, dass sein Bruder ein Serienmörder war? Oder war er sich nur darüber im Klaren, dass Ray Anna Gerrish ermordet hatte? Ich zog einen Stift aus meiner Tasche und hob damit vorsichtig die Kette aus der Truhe. Sie war ein Beweisstück, das war mir klar. Sie bewies, dass Ray Bishop Anna Gerrish ermordet hatte. Aber was konnte ich mit diesem Beweis anfangen? Wem konnte ich die Kette anvertrauen?
Ich stellte mir diese Fragen noch immer, als ich plötzlich hörte, wie ein Wagen vor dem Haus hielt.
Ich erstarrte für einen Moment und horchte genau. Ich hörte den Motor ausgehen … danach ein paar Sekunden lang nichts … und schließlich, wie eine Tür aufging und jemand ausstieg. Ich wusste, Ray Bishop konnte es eigentlich nicht sein, sonst hätte Cal mich doch gewarnt, aber trotzdem …
Ich musste mich vergewissern.
Ich ließ die Kette in meine Tasche gleiten, stand eilig auf, lief zum Fenster hinüber und zog die Kante des schweren schwarzen Vorhangs zur Seite. Ein, zwei Sekunden lang versuchte ich mir einzureden, dass der Wagen, der draußen stand, kein weißer Toyota Yaris und der Mann, der unter mir den Weg aufs Haus zuging, nicht Ray Bishop war … doch ich wusste, ich vergeudete bloß Zeit.
»Scheiße«, sagte ich wieder, als ich hörte, wie er seinen Schlüssel ins Haustürschloss steckte.
Der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schoss, war: Verdammt, was macht Cal denn, dass er Ray Bishop nach Hause fahren lässt, ohne mich zu warnen? Doch als ich hörte, wie die Haustür aufsprang, begriff ich, dass es dringendere Dinge zu überlegen gab. Ray Bishop war unten. Ray Bishop tötete Menschen. Und jeden Moment würde er raufkommen.
Ich hörte, wie die Tür zuschlug.
Ich überlegte kurz, ob es irgendeine Chance gab, vernünftig mit ihm zu reden. Ich stellte mir vor, wie er unten im Flur stand, absolut still, und die Gegenwart eines Fremden in seinem Haus wahrnahm.
Nein, er war kein Mann, mit dem man vernünftig reden konnte.
Ich hörte einen vorsichtigen Schritt auf der Treppe.
Er tötete Menschen.
Wieder ein Schritt, jetzt entschiedener …
Ich zog den schweren schwarzen Vorhang zurück und riss an dem Fenster, versuchte es zu öffnen. Doch es rührte sich nicht. Der Rahmen war mit Farbe zugekleistert. Ich wartete einen Moment, horchte wieder. Ray kam jetzt die Treppe rauf. Er bewegte sich ziemlich langsam, aber ich wusste, dass mir nur Sekunden blieben, um zu verschwinden. Ich huschte hinüber zu einem der Regale, schnappte mir ein Messer mit Elfenbeinknauf, dann jagte ich wieder zurück. Ich riss den Vorhang zur Seite, hackte die Klinge zwischen Fenster und Rahmen, versuchte die uralte Farbe zu durchstechen, doch sie war zu dick, zu hart … es war, wie in Superleim zu stechen.
»Scheiße«, zischte ich und geriet in Panik.
Draußen auf dem Flur hörte ich Bishop.
Ich ließ das Messer fallen, sah mich um und entdeckte auf dem Regal rechts von mir ein großes Glasgefäß. Es war ein Fünfliterglas, randvoll mit irgendeiner weißlich grauen Asche, und ich ging gerade darauf zu und nahm es hoch, als die Schlafzimmertür aufflog, und da war Ray Bishop, er stand in der Tür mit dem Samuraischwert in der Hand.
Er lächelte.
Ich sah ihn kaum an, ging bloß hinüber zum Fenster, stieß das Gefäß durch die Scheibe, und während der ohrenbetäubende Lärm noch durchs Zimmer hallte, kroch ich blitzschnell durch das geborstene Glas. Als ich hörte, wie Bishop mir nachstürzte, ließ ich mich am Fenster hinunter, hielt mich mit den Händen am Sims fest, schwang dabei den Körper nach links und reckte die Füße einem Regenrohr entgegen, an das ich mich vage erinnerte und von dem ich hoffte, dass es tatsächlich da war. Doch meine Füße ertasteten nichts. Kein Regenrohr, keinen Halt, nur die schiere Backsteinwand. Und ich hatte keine Zeit mehr. Ray Bishop war jetzt am Fenster, streckte den Kopf raus, das Schwert in der Hand, und seine Augen starrten eiskalt in meine.
»Hallo, John«, sagte er, immer noch lächelnd.
Ich erwiderte nur kurz seinen Blick, dann schloss ich die Augen, wappnete mich und ließ das Fensterbrett los.
Ich erinnere mich nicht daran, wie ich gefallen bin. Ich weiß nur noch, wie ich die Fensterbank losließ, dann – fast im selben Moment – der erschütternde Schlag, als ich am Boden aufkam. Ein starker Schmerz schoss mir durchs rechte Bein, und als ich mich abrollte und schwer atmend auf die Füße kam, stieg der Schmerz hoch in den Magen, dass mir schlecht wurde und ich glaubte, ohnmächtig zu werden. Ich zitterte, zuckte, schwitzte in der kalten Nachtluft … am liebsten hätte ich mich wieder zurück auf die Erde gelegt, mich zusammengerollt und geweint.
Doch das Gesicht war vom Fenster verschwunden.
Bishop war auf dem Weg nach unten.
Ich musste weiter.
Ich zwang mich, aufzustehen, zwang mich, einen Schritt zu tun … und der Schmerz zerriss mich wieder. Doch mein Bein hielt durch. Es tat höllisch weh, aber der Schmerz würde mich nicht umbringen. Der Einzige, der mich umbringen würde, war der Mann, der jetzt gerade die Haustür öffnete und mit seinem Samuaraischwert in der Hand hinter mir herkam.
Ich atmete einmal tief durch, riss mich zusammen und rannte los.
Über den Weg, durch das Gartentor, die Straße entlang …
Ich schaute nicht zurück, ob Bishop mir folgte. Das war gar nicht nötig – ich konnte ihn hören. Er rannte, nicht besonders schnell, nicht mit großer Kraft, aber ich war schließlich auch nicht der Schnellste. Ich lief weiter, ohne zu wissen, wohin, einfach nur weiter. Über die Straße, um die Ecke in eine andere Straße und dann – bevor Bishop die Ecke erreichte – sprang ich schwerfällig über die niedrige Hecke eines Bungalows, lief um das Haus und suchte Deckung im Garten. Als ich kurz stehen blieb, um Luft zu holen, hörte ich Bishops Schritte in die Straße einbiegen. Ich verhielt mich still, versuchte, so leise wie möglich zu atmen, und horchte. Einen Moment lang verstummten die Schritte – und ich stellte mir vor, wie Bishop stehen blieb, die Straße entlangsah und sich fragte, wohin ich verschwunden war … dann hörte ich, wie er weiterlief. Über den Gehweg, auf den Bungalow zu, mit immer lauteren Schritten … und dann, endlich, hörte ich, wie sie vorbeiliefen und die Straße hinunter verschwanden. Ich horchte noch eine Weile, falls er umkehrte, doch nach ein, zwei Minuten war ich mir sicher, dass er nicht mehr da war.
Aber ich konnte nicht abschätzen, wann er zurückkommen würde.
Ich sah mich um, schaute, wo ich mich eigentlich befand. Im schwachen Mondlicht erkannte ich, dass es ein ziemlich großer Garten war, das meiste Rasenfläche, mit niedlichen Holzzäunen zu beiden Seiten. Der Rasen wurde von einem betonierten Weg geteilt, der hinunter zu einem weiteren Zaun am Ende des Grundstücks führte, mit einem Tor in der Mitte. Ich wusste nicht, was auf der anderen Seite war, aber es war ein Tor – irgendwohin musste es führen. Und irgendwohin war genau das, was ich brauchte.
Ich hetzte den Weg entlang – halb rennend, halb humpelnd –, hoffte, keine Geräusche zu machen, und horchte die ganze Zeit auf Ray Bishop … doch ich hörte nichts. Ich ließ die Frage nicht zu, wo er jetzt sein könnte oder was er wohl machte. Ich hielt nur den Blick auf den Weg gerichtet und konzentrierte mich darauf, das Tor zu erreichen. Als ich ankam und zu meiner Erleichterung feststellte, dass es nicht abgeschlossen war, schmerzte mein Bein so sehr, dass ich furchtbar gern einen Augenblick stehen geblieben wäre … nur einen kleinen Moment, um Atem zu holen, nachzudenken … aber ich wusste, ich durfte es nicht.
Jetzt war nicht die Zeit zum Nachdenken.
Ich musste nur weiterlaufen.
Ich öffnete das Tor und trat hinaus auf einen schmalen Lehmpfad. Zu beiden Seiten lagen eingezäunte Gärten, und auch wenn ich kaum mehr als zehn Meter in jede Richtung sehen konnte, nahm ich an, dass ich, wenn ich nach rechts lief, zurück auf die Long Road käme, und wenn ich die andere Richtung nähme …
Ich hatte keine Ahnung, wo ich landen würde, wenn ich die andere Richtung einschlug. Das Einzige, was ich wusste, war, dass ich nicht zurück zur Long Road wollte.
Ich lief in die andere Richtung.
Etwa eine Viertelstunde später, nachdem ich mich durch ein Wirrwarr kleiner Wege geschlängelt hatte, landete ich schließlich in irgendeiner Seitenstraße, die auf einen viel befahrenen Kreisverkehr am Nordende der Stadt führte, ganz in der Nähe des alten Bahnhofs. Die Long Road, schätzte ich, lag etwa zwei Kilometer weiter östlich und dort, hoffte ich, war auch Ray Bishop.
Ich ging hinüber zur Bushaltestelle, setzte mich auf eine Bank und zündete eine Zigarette an.
Ich schaute, wie spät es war.
Neun Uhr.
Der Abend war kalt, mein Bein taub …
Ich zog das Handy heraus und rief Cal an.
Es ging niemand dran, es kam keine Mailboxansage, nichts. Das Handy klingelte bloß. Ich versuchte es auf einer der anderen Nummern und dann auf noch einer, aber das Ergebnis war immer gleich – keine Antwort. Und als ich seine »besondere« Nummer anrief, die für das Handy, das absolut anonym war und sich nicht zurückverfolgen ließ, aber auch dort niemand dranging, begann ich mir ernsthaft Sorgen zu machen. Cal ging doch immer an sein Handy, egal wo er war oder was er tat. Und wenn man ihn nicht auf der einen Nummer erreichte, dann immer auf einer der andern.
Immer.
Ohne Ausnahme.
Unfähig, an irgendwas anderes zu denken, rief ich noch mal alle Nummern durch. Ich erwartete nicht wirklich, dass irgendwas passieren würde, deshalb nahm ich an, ich hätte einen Fehler gemacht und mich verwählt, als bei der zweiten Nummer fast sofort jemand abhob und eine unbekannte Frauenstimme fragte: »Hallo?«
»Entschuldigung«, sagte ich. »Ich glaube, ich hab mich verwählt.«
»Legen Sie bitte nicht auf«, sagte die Stimme eilig. »Mein Name ist Lisa Webster, ich bin Sanitäterin, ich muss wissen, wem das Handy gehört.«
»Was?«
»Ich bin Sanitäterin«, wiederholte sie, jetzt etwas ruhiger sprechend. »Ich muss den Namen der Person wissen, die Sie angerufen haben.«
»Was ist los?«, fragte ich immer noch verwirrt. »Ist Cal was passiert? Ist er okay?«
»Wer ist Cal?«
»Cal Franks –«
»Ein junger Mann, Ende zwanzig?«
»Ja, was ist passiert?«
»Fährt Cal einen schwarzen Mondeo?«
»Ja.«
»Könnten Sie mir bitte sagen, wer Sie sind?«
»John Craine.«
»John Craine?«
»Ja, ich bin Cals Onkel …« Ich atmete durch. »Würden Sie mir bitte erklären, was ihm passiert ist?«
»Wo sind Sie, John?«
»Warum wollen Sie das –?«
»Sind Sie in Hey?«
»Ja.«
»Gut, passen Sie auf. Ein Mann Ende zwanzig wurde heute Abend überfallen. Er wurde ins Hey General Hospital gebracht, doch bisher konnten wir noch nicht klären, um wen es sich handelt. Er hatte nichts in den Taschen, was uns Auskunft über seine Person hätte geben können, aber das hier ist sein Handy – eines von dreien, die er bei sich hatte. Er wurde neben einem schwarzen Ford Mondeo aufgefunden, deshalb ist es gut möglich, dass es sich um Ihren Neffen handelt.«
»Er wurde überfallen?«
»Ja, tut mir leid, wie es aussieht, wurde er ziemlich übel zusammengeschlagen. Wir haben seinen Zustand auf dem Weg ins Krankenhaus stabilisieren können. Jetzt ist er gerade im OP, aber ich fürchte, mehr kann ich Ihnen im Moment nicht sagen. Wenn Sie vielleicht zum Hey General kommen und seine Identität bestätigen könnten –«
»Hatte er einen Hut auf?«
»In der Nähe wurde ein Hut gefunden, ja.«
»Ein Filzhut?«
»Ja.«
»Ich komme, so schnell ich kann.«
Ich rief vier Taxiunternehmen an, bis ich begriff, dass ich an einem Samstagabend unmöglich sofort einen Wagen bekommen würde, und ich wollte schon gerade Imogen anrufen und fragen, ob sie mich zum Krankenhaus fahren könnte, als mein Kopf plötzlich zu dem Moment zurückblendete, in dem ich an Ray Bishops Fensterbrett hing und er mit eiskaltem Blick zu mir heruntersah und sagte: »Hallo, John.«
Er wusste, wer ich war.
Und wenn er wusste, wer ich war – sein Bruder musste ihm von mir erzählt haben –, dann wusste er wahrscheinlich auch, wo ich wohnte. Und selbst wenn nicht, wäre es nicht allzu schwer für ihn, es herauszufinden …
Ich rief Bridget auf dem Handy an.
»Hey, John«, sagte sie. »Ich hab gerade an dich gedacht.«
»Wo bist du?«, fragte ich.
»Zu Hause … wieso? Ist alles in Ordnung mit dir? Du klingst ein bisschen –«
»Hör zu, Bridget, es ist sehr wichtig. Ich will, dass du das Haus so schnell wie möglich verlässt. Ich hab jetzt keine Zeit, es dir zu erklären, aber bitte … vertrau mir einfach. Du musst sofort das Haus verlassen. Hast du verstanden?«
Sie zögerte nur einen Moment. »Okay … wenn du es sagst. Wo soll ich hin?«
»Ich bin am alten Bahnhof, beim Kreisverkehr. Weißt du, wo ich meine?«
»Ja …«
»Hol mich so schnell wie möglich dort ab. Ich erklär dir dann alles.«
»Ist gut …«
»Und ruf mich an, sobald du aus dem Haus bist und im Wagen sitzt, ja?«
»Mach ich.«
»Dann … los.«
Zwei Minuten später rief sie mich an.
»Bist du im Wagen?«, fragte ich.
»Ja.«
»Hast du jemanden gesehen, als du aus dem Haus gekommen bist?«
»Nein …«
»Alles in Ordnung?«
»Nicht wirklich. Scheiße, John, das ist alles so verdammt unheimlich.«
»Ja, tut mir leid … aber im Moment müsste eigentlich alles okay sein. Fahr einfach los, bleib wegen niemandem stehen, und wenn du zum Kreisverkehr kommst, fahr zwei-, dreimal rum, bevor du stehen bleibst und mich einsteigen lässt. In Ordnung?«
»Ich soll einfach im Kreisverkehr rumfahren?«
»Ja … ich warte auf dich.«
Ich entfernte mich von der Bushaltestelle, stellte mich auf die Südseite des Kreisverkehrs, sorgte dafür, dass mich Bridget sah, wenn sie kam, und nach etwa fünf Minuten erkannte ich einen weißen Escort Kombi mit der seitlichen Aufschrift HEY PETS, der auf mich zukam. Bridget winkte, als sie vorbeifuhr, und ich nickte zurück, aber ich war mehr damit beschäftigt, die Straße hinter ihr im Auge zu behalten. Ich hielt nach vertrauten Wagen Ausschau – einem silbergrauen Renault, einem grünen Nissan Almera, einem weißen Toyota Yaris, Mick Bishops Honda Prelude – oder bekannten Gesichtern in unbekannten Fahrzeugen und auch nach solchen, die sich ganz einfach merkwürdig verhielten … die Bridget im Kreisverkehr folgten, ohne Grund abbremsten, plötzlich stehen blieben –, doch bis Bridget wieder an mir vorbeikam und ihre zweite Runde im Kreisverkehr fuhr, war mir nichts Ungewöhnliches aufgefallen.
Das nächste Mal, als sie vorbeikam, hob ich die Hand und gab ihr ein Zeichen, sie bremste und hielt an der Seite an. Als sie sich herüberbeugte und die Beifahrertür öffnete, sah ich, dass Walter hinten im Kombi war und aufrecht in seinem Weidenkorb saß. Ich stieg schnell ein, schloss die Tür und Bridget fuhr weiter.
»Wohin?«, fragte sie.
»Zum Krankenhaus.«
Sie sah mich an. »Was ist los, John?«
Während wir durch die Stadt zum Krankenhaus fuhren, erklärte ich Bridget alles. Sie unterbrach mich nicht, solange ich sprach, sondern fuhr nur, hielt den Blick auf die Straße gerichtet, und hörte zu. Es gab viel zu erzählen, viel zu erklären, und als ich fertig war, hatten wir das Krankenhaus fast erreicht.
»Wird Cal wieder gesund?«, fragte Bridget.
»Ich weiß es nicht … die Sanitäterin konnte mir nicht viel sagen, nur dass er übel zusammengeschlagen wurde.«
»Was glaubst du, wer das war?«
»Irgendwelche Leute von Mick Bishop wahrscheinlich. Er muss jemanden gehabt haben, der uns gefolgt ist. Oder vielleicht war es auch Ray Bishop … keine Ahnung.«
»Und du glaubst wirklich, Ray Bishop wird nach dir suchen?«
Ich nickte. »Ich weiß, was er getan hat, was er tut. Ich weiß, was er ist. Und ihm muss klar sein, dass ich es nicht für mich behalten werde. Was bedeutet, wenn er nichts gegen mich unternimmt oder jemanden findet, der es für ihn tut, ist er im Arsch. Deshalb, ja, ich bin ziemlich sicher, dass er nach mir suchen wird.«
»Und du kannst nicht die Polizei anrufen?«
»Ich vertraue der Polizei nicht. Mick Bishop hat zu viele Leute in der Hand. Egal wen ich anrufe, und wenn es nur die Notfallnummer ist, immer ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Sache bei Bishop landet … Und wenn er mich findet, bringt er mich um. Ganz einfach.«
»Glaubst du wirklich, er würde so weit gehen?«
»Was soll er sonst tun? Ich weiß, dass sein Bruder ein Serienmörder ist, und ich weiß, dass er ihn zumindest in einem Fall gedeckt hat. Es gibt nur eine Möglichkeit für Bishop, seine Haut zu retten – er muss dafür sorgen, dass ich schweige.«
»Und was hast du vor?«
»Keine Ahnung …«
Wir fuhren jetzt auf das Krankenhaus zu, und als Bridget an der Abzweigung bremste, las ich ein Hinweisschild, das erklärte, wo sich die einzelnen Abteilungen befanden.
»Weißt du, wo er jetzt ist?«, fragte Bridget.
Ich schüttelte den Kopf. »In der Unfallchirugie wahrscheinlich. Ich frag lieber am Empfang.«
Sie fuhr geradeaus weiter aufs Hauptgebäude des Krankenhauses zu und wir fanden auf dem Parkplatz nahe beim Eingang eine Lücke.
»Ist wahrscheinlich am besten, wenn du hier wartest«, erklärte ich ihr.
Sie sah mich an. »Wieso das?«
»Es könnte sein, dass Bishop jemanden im Krankenhaus postiert hat, um mich abzufangen, oder vielleicht ist er auch selbst da. Wenn du mit reinkommst, erwischen sie uns beide. Aber wenn du hierbleibst …« Ich sah sie an. »Niemand sonst weiß davon, Bridget. Nur du und ich …«
Sie nickte. »Was soll ich machen, wenn du nicht zurückkommst?«
»Gib mir eine Stunde«, sagte ich und kritzelte dabei eine Telefonnummer auf einen Zettel. »Wenn ich bis dahin nicht zurück bin, ruf diese Nummer an.« Ich gab ihr den Zettel. »Frag nach Leon Mercer, und wenn er nicht da ist, kannst du mit seiner Tochter reden, mit Imogen. Sie sind beide alte Freunde von mir und ich lege meine Hand für sie ins Feuer. Erzähl einfach einem von beiden genau, was passiert ist. Sie wissen dann schon, was zu tun ist.«
Sie nickte wieder. »Wieso rufst du sie dann nicht selbst an, jetzt gleich?«
»Je mehr Menschen ich mit reinziehe, desto mehr Menschen setze ich einem Risiko aus.«
»Du hast mich doch auch reingezogen.«
»Ich weiß. Tut mir leid … aber es gab keine andere Möglichkeit.«
»Du hättest mich anlügen können.«
»Ja …«
»Aber du hast es nicht getan.«
»Nein.«
Sie lächelte mich an, nickte mit dem Kopf, dann beugte sie sich zu mir rüber und küsste mich. »Sei vorsichtig, John.«
Ich sah sie einen Moment an, mehr denn je verfolgt von den Erinnerungen an Stacy, die Bridget in meinem Innern auslöste.
»Verriegel die Türen«, sagte ich. »Und ruf mich an, wenn du mich brauchst.«
Dann stieg ich aus und ging auf die Suche nach Cal.