17
Zwei Wochen später, an einem kalten, nebligen Freitagmorgen, saß ich auf einer alten Holzbank in meinem Garten, trank Kaffee und hörte zu, wie mir Bridget Moran von einem fetten kleinen Jungen und einer Maus erzählte.
In den letzten zehn Tagen oder so hatte ich Bridget häufig getroffen, hauptsächlich weil sie sich zu guter Letzt von Dave getrennt hatte und nicht so gern allein war, und auch wenn ich sie oft mit ihrem Hund Walter reden hörte, wusste ich, dass sie ab und zu mal unter Menschen musste. Natürlich gefiel mir die Vorstellung, dass es vielleicht ein kleines bisschen mehr als nur das sein könnte, aber falls nicht, war es auch egal. Wenn ich für Bridget einfach bloß ein geeigneter Zuhörer war und alles, was wir je miteinander teilen würden, ein gelegentlicher gemeinsamer Kaffee wäre … dann war das für mich völlig okay.
Nach der Befragung auf dem Polizeirevier – und nach drei oder vier Tagen lähmender Depression, während der ich nur im Bett liegen und warten konnte, dass mich der schwarze Ort wieder verließ –, tat ich, was Mick Bishop von mir verlangt hatte: Ich kehrte zurück in mein beschissenes kleines Büro und machte weiter meinen beschissenen kleinen Job. Bis auf einen Anruf bei Cal hatte ich zu niemandem Kontakt aufgenommen, der irgendwie mit dem Fall Anna Gerrish zu tun hatte, einschließlich Helen und Graham Gerrish. Ich hatte ihnen nicht mal eine Rechnung geschickt. Ich nahm einfach mein altes Leben wieder auf, machte meine Arbeit … Versicherungsfälle überprüfen, geplatzten Krediten nachgehen, Hersteller von raubkopierten DVDs aufspüren …
Der Fall Anna Gerrish war für mich erledigt: Ich hatte getan, wofür ich angeheuert worden war; ich hatte Anna gefunden. Es war nicht meine Aufgabe, herauszufinden, wer sie ermordet hatte. Es war nicht meine Aufgabe, weitere Fragen zu stellen. Wer hatte in der Nacht den Nissan gefahren? Wer war Charles Raymond Kemper? Hatte Kemper Anna umgebracht? Hatte Bishop Anna umgebracht? Und wenn nicht, was versuchte er zu verheimlichen? Und wenn doch …?
Nein, es war nicht meine Aufgabe.
Im Moment war ich gerade damit beschäftigt, das vermeintliche Schleudertrauma einer 48-jährigen Frau nach einem kleineren Verkehrsunfall zu überprüfen. Dafür wurde ich bezahlt. Und sobald Bridget mit ihrer Geschichte über den fetten kleinen Jungen und die Maus fertig war und ich vielleicht noch ein, zwei Becher Kaffee getrunken hatte … würde ich mich genau um diesen Fall kümmern.
»Kannst du dir vorstellen, was für eine Art Kind ich meine?«, fragte Bridget.
Sie saß neben mir, eingemummelt in einen alten weiten Pullover und gefütterte Stiefel, die kurzen blonden Haare unter einer roten Wollmütze versteckt, und trank ihren Kaffee mit beiden Händen um den Becher gelegt, so wie ein Kind Orangensaft aus einem Glas trinkt.
»Entschuldigung«, sagte ich und lächelte sie an. »Ich war einen Moment ganz weit weg. Wer war noch mal dieses fette Kind?«
Genau in dem Moment kam Walter durch die Hintertür nach draußen. Einen Moment blieb er auf dem Absatz stehen und schnupperte die Luft, dann schüttelte er den Kopf und zockelte durch den Garten. Bridget beobachtete mit stiller Zuneigung, wie er einen Busch fand, sein Bein hob, in der Erde scharrte und dann wieder ins Haus zurücktrabte.
»Ihm ist zu kalt.«
»Du solltest ihm einen Mantel kaufen.«
»Er hat einen Mantel.«
Ein Nebelschleier hing in der Luft, durchsetzt von einem bitteren Nesselgeruch. Kleine Vögel flatterten von Mauer zu Mauer und irgendwo in der Ferne hörte ich das Klingeln eines Eiswagens, das nicht in die Jahreszeit passte.
Ich fühlte mich ganz okay.
»Na gut«, sagte Bridget. »Hörst du mir denn jetzt zu?«
»Ich bin ganz Ohr.«
»Okay, also … Mittwochmorgen kam dieser fette Junge in den Laden, um eine Maus zu kaufen …«
Bridget war Mitbesitzerin einer Tierhandlung in der Stadt. Es war nur ein kleiner Laden, nichts Tolles – es gab keine Chinchillas, keine Schlangen oder Eidechsen, nur Fische, Vögel, Mäuse, Kaninchen …
»… aber ich hab mich geweigert, ihm eine zu verkaufen.«
»Du hast dich geweigert, ihm eine Maus zu verkaufen?«
»Ja.«
»Wieso?«
Sie zuckte die Schultern. »Ich mochte ihn nicht. Er war so ein fieser fetter Junge mit kleinen Schweinsaugen, weißt du, so einer, der alles kriegt, was er will. Wenn ich ihm eine Maus verkauft hätte, wär sie in einer Woche tot. Also hab ich gesagt, er könne keine haben.«
»Wie hat er reagiert?«
»Der kleine Scheißer ist raus und hat seinen Dad geholt. Am Nachmittag standen die beiden im Laden – fettes Kind, fetter Dad.« Sie lächelte. »Der Fettsack von Vater sagte, wenn ich seinem Sohn keine Maus verkaufte, würde er mich verklagen.«
»Was hast du gemacht?«
»Ihm gesagt, er soll sich an meinen Anwalt wenden.«
Ich zündete eine Zigarette an. »Irgendwo steckt doch wahrscheinlich noch der Witz.«
»Wahrscheinlich.«
Sie hob ihren Becher zum Mund und pustete leicht in den Dampf.
Ich fragte: »Wieso bist du eigentlich heute nicht im Laden?«
Sie lächelte. »Ich mach blau, genau wie du.«
»Ich mach nicht blau … nur eine Pause. Muss gleich wieder los.«
»Na, gut … ist mein freier Nachmittag. Sarah ist heute da.«
»Wer ist noch mal Sarah?«
»Meine Partnerin.«
»Ach so, ja … ich erinnere mich, du hast mir von ihr erzählt.«
Bridget sah mich an. »Ja, hab ich, oder?«
»Was?«
»Ich hab dir von Sarah erzählt.«
»Sag ich ja.«
»Ich weiß …«
Sie sah mich immer noch an und in ihrem Blick schien eine Frage zu lauern. Und es kam mir so vor, als ob ich wissen müsste, wie die Frage lautete, aber ich wusste es nicht.
»Was ist?«, fragte ich. »Was hast du?«
Sie lächelte. »Wie lange kennen wir uns jetzt, John?«
»Keine Ahnung … zehn Jahre vielleicht?«
»Fast dreizehn, um es genau zu sagen. Dreizehn Jahre. Und in der ganzen Zeit … na ja, ich weiß, wir sind keine richtig engen Freunde oder so, aber wir haben doch schon viel miteinander geredet, oder?«
»Ja …«
»Und ich habe dir eine ganze Menge von mir erzählt – wie ich Sarah kennengelernt habe, wie wir zu dem Laden gekommen sind, was ich gern mache, was ich als Kind gern gemacht habe … so was eben. Ich meine, du weißt doch viel über mich, oder?«
»Ja …«
»Aber ich weiß immer noch so gut wie nichts über dich. Ich weiß, dass das Haus vorher deiner Mutter gehört hat und dass deine Frau umgebracht wurde … und ich weiß, was du von Beruf bist, aber das ist auch alles.« Sie trank aus ihrem Becher und sah mich über den Rand hinweg an. »Es macht dir doch nichts aus, oder?«
»Was macht mir nichts aus?«
Sie zuckte die Schultern. »Dass ich … du weißt schon …«
»Nein«, sagte ich. »Es macht mir nichts aus.«
»Sicher?«
»Ja.«
Sie lächelte. »Du kannst ruhig sagen, wenn ich die Klappe halten soll.«
Ich sah sie an und mein Herz schlug heftig wegen einer Erwartung, von der ich nicht wusste, ob sie mir recht war. »Was willst du denn von mir wissen?«, fragte ich.
»Egal, einfach … was du mir erzählen magst.«
»Zum Beispiel?«
»Erzähl mir von deiner Frau.«
»Stacy?«
»Ja … Stacy.« Bridget lächelte. »Erzähl mir, wie du sie kennengelernt hast.«
Wahrscheinlich war es das Lächeln, das den Ausschlag gab. Bridgets Lächeln. Wenn sie gezögert hätte, mich nach Stacy zu fragen, oder wenn da nur eine Spur von Trauer und Mitleid in ihrer Stimme gewesen wäre, hätte ich wahrscheinlich eine Ausrede erfunden und das Thema gewechselt. Aber so, wie sie fragte, als ob die Erinnerung an Stacy etwas sei, das gefeiert und nicht betrauert, vermieden oder auf leisen Sohlen umgangen werden müsse … irgendwie machte das den entscheidenden Unterschied. Und als ich anfing, Bridget vom Sommer 1990 zu erzählen, wurde mir klar, dass ich zum ersten Mal seit dem Tag, als Stacy ermordet wurde, mit jemand anderem als mir selbst über sie sprach.
»Ich hatte gerade mein erstes Jahr an der Uni beendet«, erklärte ich Bridget, »und war den Sommer über zurück nach Hause gefahren.«
»Was hast du studiert?«, fragte sie.
»Philosophie.«
»Wieso das?«
Ich sah sie an. »Keine Ahnung … ich dachte wahrscheinlich, es wär interessant.«
»Und, war es interessant?«
Ich zuckte die Schultern. »Es war okay. Ich meine, ehrlich gesagt wusste ich damals nicht so richtig, was ich vorhatte. Ich wusste nicht, was ich sein wollte, was ich mit meinem Leben anfangen sollte … Mein Vater hoffte, dass ich vielleicht zur Polizei gehen würde, wenn ich meinen Abschluss hätte.«
»Zur Polizei?«
»Na ja, er war Polizeibeamter.«
»Echt?«
Ich nickte. »Genau wie sein Vater … es war so eine Art Familientradition.«
»Und was hält dein Dad davon, dass du Privatdetektiv geworden bist?«
»Er ist schon tot.«
»Oh … tut mir leid.«
Ich nickte wieder. »Na, wie auch immer … es war im Sommer 1990, an einem Freitagabend, und ich hatte gerade im Double Locks einen Drink bestellt … Weißt du, welches Lokal ich meine?«
»Ja, unten am Fluss … ist ein netter Pub.«
»Genau, ich saß also da, ein bisschen betrunken …«
»Warst du allein?«
»Ja.«
»Wieso? Ich meine, hattest du keine Freunde, keine Freundin oder so?«
Ich zuckte die Schultern. »Damals hatte ich keine Freundin, nein. Ich hatte Freunde … also, ich meine, ich kannte Leute. Aber ich … keine Ahnung. Ich war einfach gern allein, das ist alles.«
Bridget lächelte. »Na gut. Du warst also allein, ein bisschen betrunken, du hattest einen Drink bestellt … und dann?«
»Sah ich Stacy. Sie war mit einer Gruppe von Leuten da, später stellte sich raus, dass es Lehrer von der Schule waren, an der sie gerade angefangen hatte … wahrscheinlich so ein Freitagabend, wo die Lehrer zusammen einen draufmachten oder so was.«
»Oder eine Feier zum Schuljahresende?«
»Ja … irgendwas in der Art. Es waren ungefähr ein Dutzend – Männer und Frauen, jung und alt – und alle schienen sich ziemlich zu amüsieren. Stacy stand mit einem älteren Mann an der Bar, als ich sie das erste Mal sah. Er war Ende zwanzig, Anfang dreißig und ich dachte, er wär mit ihr zusammen, verstehst du …? So nah, wie er neben ihr stand, ihren Arm, ihre Schulter berührte und ihr ins Ohr flüsterte … ich dachte, sie wären ein Paar. Aber ich konnte trotzdem meinen Blick nicht von Stacy lösen.«
»Wie sah sie aus?«
»Umwerfend … ich meine, einfach wunder-, wunderschön. Nicht auf so eine schicke, glamouröse Weise, sie war einfach … keine Ahnung. Sie hatte irgendwas. Ihre Augen, ihr Gesicht … alles. Sie war das schönste Wesen, das ich je gesehen hatte.«
»Beschreib sie.«
»Was?«
»Ich will wissen, wie sie aussah. Du verstehst schon, war sie groß, klein, blond …?«
»Blond, ja. Kurze blonde Haare, blaue Augen, blasse Haut … sie war nicht groß.« Ich sah Bridget an. »Ungefähr so wie du …«
Meine Stimme verlor sich und ich senkte den Blick, als ich merkte, dass meine Beschreibung von Stacy genauso gut auf Bridget gepasst hätte, und aus irgendeinem Grund war mir das peinlich.
»Und hast du sie angemacht?«, fragte Bridget lächelnd. »Oder hast du den ganzen Abend nur geguckt?«
»Angemacht?«
Sie lachte. »Du weißt, was ich meine.«
»Ehrlich gesagt«, antwortete ich, »wenn Stacy nicht gewesen wär, hätte ich sie wahrscheinlich wirklich den ganzen Abend nur angeguckt.«
»Dann hat sie also den ersten Schritt gemacht?«
»Ja … Ich hatte sie ungefähr eine halbe Stunde beobachtet, als ich plötzlich merkte, dass sie vom Tresen direkt zu mir rüberstarrte. Ich hab natürlich gleich weggeschaut, du weißt schon … wahrscheinlich mit meinen Zigaretten rumgefummelt, mit dem Bierdeckel oder irgendwas, und hab versucht, so zu tun, als hätte ich nicht die ganze Zeit zu ihr hingestarrt, was natürlich nicht klappte. Aber dann hörte ich auf einmal jemanden sagen: ›Hättest du Lust, mir einen Drink auszugeben?‹ Und als ich aufsah, stand sie da, direkt vor mir, mit einem unwiderstehlichen Lächeln im Gesicht.«
»Und was hast du geantwortet?«
»Ich sagte: ›Wie bitte?‹«
»Sehr cool.«
»Ich weiß. Aber es schien sie nicht zu stören, sie warf nur den Kopf zurück, schaute mich an und wiederholte: ›Hättest du Lust, mir einen Drink auszugeben?‹. Und diesmal antwortete ich: ›Ja, klar, sehr gern.‹ Dann stand ich auf, fing an, in der Hosentasche nach Geld zu suchen, aber alles, was ich dabeihatte, war ein Pfund … eine mickrige Pfundmünze.«
Bridget lachte.
»Daraufhin sagte Stacy zu mir: ›Wie wär’s, wenn du dir ein bisschen Geld leihst?‹ Und das war’s so ziemlich.«
»Das war’s?«
»Na ja, es stellte sich heraus, dass sie nicht mit dem Mann am Tresen zusammen war, er war bloß ein Lehrer von ihrer Schule, der seit dem Tag, als sie dort anfing, hinter ihr her war … er gefiel ihr nicht mal.«
»Aber du gefielst ihr.«
»Also, wir verbrachten den Rest des Abends zusammen und dann das ganze Wochenende und von da an waren wir mehr oder weniger die ganze Zeit zusammen. Es war … ich weiß nicht. Anscheinend brauchte ich nichts anderes mehr … ich wollte nur noch mit Stacy zusammen sein, die ganze Zeit. Alles andere war egal.«
»Du hast sie geliebt.«
»Ja … ja, das hab ich. Ich hab nicht mal dran gedacht, wieder zur Uni zu gehen, ich hab das alles einfach vergessen und bin bei Stacy eingezogen, und während sie weiter in der Schule unterrichtete, nahm ich irgendwelche albernen Jobs an, die gerade zu kriegen waren, um ein bisschen Extrageld in die Kasse zu bringen. Ich hab auf dem Bau gearbeitet. Ich war Briefträger, ich hab in einem Callcenter gesessen … eine Weile hatte ich sogar einen Job im Krematorium.«
»Sehr schick«, sagte Bridget und hob die Augenbrauen.
»Na ja … es war mir egal, was ich tat. Solange ich bei Stacy sein konnte.«
»Nur das zählte.«
Ich lächelte. »Ja.«
»Und wie ging’s weiter?«, fragte Bridget. »Ihr habt geheiratet …?«
»Ja, und achtzehn Monate später stellten wir dann fest, dass Stacy schwanger war –«
Ich unterbrach mich, weil es an der Tür klingelte. Als Walter oben zu bellen begann, sah ich Bridget an. »Erwartest du jemanden?«
»Könnte Melanie sein«, antwortete sie. »Eine Freundin von mir. Sie meinte, sie würde vielleicht vorbeikommen.« Bridget sah mich an und ich spürte ihre Hand auf meinem Knie. »Ich kann ihr auch sagen, sie soll ein andermal kommen, wenn du willst.«
»Nein«, antwortete ich. »Schon gut … ich muss sowieso wieder arbeiten.«
»Sicher?«
»Ja …«
»Vielleicht können wir heute Abend weiterreden?«
»Ja, das wär schön.«
Es klingelte wieder.
Bridget lächelte und stand auf. »Ich mach ihr mal besser auf. Dann bis später, ja?«
Ich nickte und sah ihr hinterher, wie sie zurück ins Haus ging und Walter zurief, er solle still sein. Ich zündete eine Zigarette an, saß in dem Nebelschleier und versuchte herauszufinden, wie ich mich fühlte. Ich war leicht verwirrt darüber, dass es okay gewesen war, Bridget von Stacy zu erzählen, aber ich fühlte mich wirklich ganz okay, also war es wohl in Ordnung gewesen. Ich hatte schließlich nur mit ihr geredet. Es war ja kein Verrat oder so. Wir redeten bloß …
»Ja, ich weiß, Stace«, murmelte ich. »Das sagen sie alle, nicht? Wir haben bloß geredet, verdammt …«
Schon gut, kein Problem. Ich mag sie.
»John?«, hörte ich Bridget sagen.
Ich schaute hoch und sah, wie Bridget in der Tür zum Garten stand.
»Da ist jemand, der dich sprechen will«, rief sie. »Er sagt, sein Name ist Bishop.«