13
Nach einer langen, schlaflosen Nacht wurde ich schließlich am nächsten Morgen um neun Uhr aus meiner Zelle entlassen. Der Haftprüfungsbeamte, der mich rausließ, war nicht derselbe, der mich eingebuchtet hatte, und anders als sein Vorgänger schien er nicht in das abgekartete Spiel involviert zu sein.
»Was ist los mit ihm?«, fragte er mich und schaute zu dem Riesenbastard hinüber, der sich wieder die Eingeweide aus dem Leib hustete. Das hatte er fast die ganze Nacht über gemacht – husten, würgen und Brocken von wer weiß was ausspucken. Aber davon abgesehen – und von den zwei Malen, als ich ertragen musste, wie er aus dem Bett kroch, um ausgiebig, laut und stinkend zu pinkeln – hatte er keine Probleme mehr gemacht.
»Ich weiß nicht, was mit ihm los ist«, sagte ich und warf einen Blick auf den immer noch hustenden Riesenbastard. »Hat wahrscheinlich Asthma oder so was.«
Ich kam mit einer Verwarnung für das Aufsuchen des Straßenstrichs davon und würde mich wegen Trunkenheit am Steuer später vor Gericht verantworten müssen.
»Wo steht mein Wagen?«, fragte ich den Haftprüfungsbeamten, als er mir einen großen braunen Umschlag mit meinen Sachen aushändigte.
Er zuckte die Schultern. »Da, wo Sie ihn stehen gelassen haben.«
»Irgendeine Chance, dass mich jemand hinfährt?«
Er lachte.
Während ich den Umschlag leerte und die Sachen wieder in meine Taschen stopfte, reichte mir der Haftprüfungsbeamte ein Formblatt.
»Schauen Sie, ob alles da ist«, sagte er. »Und dann unterschreiben Sie da unten.«
Es war alles da – Handy, Schlüssel, Foto, Feuerzeug … alles außer der Zigarettenschachtel, die mir Tasha gegeben hatte.
Ich sah den Haftprüfungsbeamten an. »Es fehlt eine Schachtel Marlboro.«
Er sah auf dem Formblatt nach. »Zigaretten sind hier nicht aufgeführt.«
»Sicher?«
Er schaute noch einmal das Blatt an. »Tut mir leid … ein Feuerzeug ist gelistet, aber keine Zigaretten.« Er sah mich an. »Sind Sie ganz sicher, dass Sie sie nicht aufgeraucht und die Packung weggeworfen haben?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich hatte sie noch, als ich gestern Nacht hergebracht wurde, und ich erinnere mich genau, dass der Haftprüfungsbeamte sie mir abgenommen hat.«
»Schon«, sagte er lächelnd, »aber letzte Nacht waren Sie betrunken, nicht? Wir vergessen alle Dinge, die passiert sind, und erinnern uns an Sachen, die nicht passiert sind, wenn wir zu viel Alkohol intus haben, stimmt’s?«
Ich sah ihn an – ein harmloser, leidenschaftsloser Mann – und wusste, dass er nichts mit dem zu tun hatte, was immer hier lief. Für ihn ging es einfach um eine fehlende Schachtel Zigaretten. Aber was Bishop betraf … nun ja, da musste ich wohl davon ausgehen, dass er irgendwann in der Nacht, nachdem ich eingelocht worden war, meine Sachen durchgeschaut hatte auf der Suche nach etwas, das interessant sein könnte. Dabei war er auf das Kennzeichen des Nissan Almera gestoßen, das Tasha hinten auf der Zigarettenschachtel notiert hatte … und die Nummer musste ihm etwas gesagt haben. Und das hieß, es musste eine Verbindung zwischen Bishop und dem Nissan geben, was wiederum bedeutete, dass es auch eine Verbindung zwischen Bishop und Anna Gerrish gab. Wieso sonst sollte Bishop das Risiko eingehen, die Schachtel zu behalten und zu hoffen, dass ich mich nicht an die Nummer erinnern konnte? Denn eines musste ihm klar sein: Sobald ich begriff, was er getan hatte, würde ich auch wissen, warum er es getan hatte.
»Alles in Ordnung?«, fragte mich der Haftprüfungsbeamte.
»Äh, ja …«, antwortete ich. »Alles okay.«
»Wenn Sie wollen, dass ich das mit den Zigaretten kläre, kann ich natürlich versuchen, einen der Beamten anzurufen, die gestern mit Ihnen zu tun hatten.«
»Nein, ist schon in Ordnung, danke. Machen Sie sich keine Mühe deswegen.«
Als ich das Polizeirevier verließ, hatte es aufgehört zu regnen und ein leicht violetter Oktoberhimmel hing tief über den morgendlichen Straßen. Die Luft hatte etwas seltsam Helles an sich, einen unwirklichen Hauch, der gleichzeitig alles klärte und dämpfte. Es erinnerte mich an das Gefühl, das man hat, wenn man aus einem Kino in das späte Nachmittagslicht hinaustritt und plötzlich wieder mit der faden Leuchtkraft der realen Welt konfrontiert wird. Den Bildern, den Gerüchen, den Geräuschen …
Alles war zu real.
Es war Freitagmorgen. Ich war verdreckt und müde, stank aus dem Mund, die Haut juckte, ich hatte Kopfschmerzen. Und ich besaß nicht einmal Zigaretten.
Ich machte mich auf den Weg in die Stadt.
Ich kam gerade aus einem Zeitungsladen auf der Eastgate Hill und riss das Zellophan von einer Schachtel Marlboro, als ich hörte, wie jemand meinen Namen rief. »John! Hier drüben!« Und als ich hochschaute, sah ich, wie Mick Bishop sich über den Beifahrersitz eines blauen Vectra beugte, der am Straßenrand stand. Er stieß die Tür auf und winkte, ich solle einsteigen. Eine Sekunde lang dachte ich drüber nach, merkte, dass ich kaum eine Wahl hatte, ging über die Straße und stieg ein.
»Okay?«, fragte Bishop, als ich die Tür schloss.
»Ja …«
Er lächelte mich an. »Sie brauchen doch sicher eine Mitfahrgelegenheit, um wieder zu Ihrem Auto zu kommen.«
»Danke.«
»London Road?«
Ich nickte.
Er sah mich einen Moment an, auf eine verschlagene Weise belustigt, dann setzte er aus der Parklücke und fuhr los.
»Stört es Sie, wenn ich rauche?«
»Muss das sein?«
»Ja.«
»Okay, aber machen Sie das Fenster auf.«
Ich drehte die Scheibe runter, zündete eine Zigarette an und seufzte hörbar, als ich den Rauch ausstieß.
»Harte Nacht gehabt?«
Ich sah ihn an.
»Hab’s gerade erfahren«, sagte er und lächelte wieder. »Sie sollten es wirklich besser wissen, John. Ich meine, wie wollen Sie weiterarbeiten, wenn Sie ein Jahr lang keinen Führerschein haben? Sie können ja schlecht die bösen Jungs im Bus verfolgen, oder?«
»Sie haben es gerade erfahren?«, fragte ich.
Er nickte. »Vor zwanzig Minuten … ich schau zu Beginn der Tagesschicht immer das Haftprotokoll durch, einfach um zu sehen, was passiert ist, wissen Sie? Und da sitze ich heute Morgen und schau es mir an und was sehe ich?« Er warf mir einen Blick zu. »John Craine, für eine Nacht inhaftiert wegen Alkohol am Steuer und illegalem Besuch des Straßenstrichs.«
Ich hatte bereits gemerkt, dass er noch dieselben Sachen trug, die er gestern angehabt hatte – den dunkelblauen Blazer, das hellblaue Hemd und die burgunderrote Krawatte, die von einer feinen Goldkette festgehalten wurde –, und er kam mir nicht vor wie ein Mann, der zwei Tage hintereinander dieselben Klamotten trug. Und als ich das mit der Feststellung zusammenbrachte, dass er sich auch nicht rasiert hatte, seit ich ihn zum letzten Mal gesehen hatte, wusste ich, dass er log. Er war nicht gerade erst zur Arbeit gekommen. Er war die ganze Nacht über auf dem Revier gewesen.
»Sie sehen müde aus«, sagte ich.
Er schniefte. »Ist ein anstrengender Job.«
Mehr sagte er nicht, sondern konzentrierte sich schweigend darauf, den Wagen durch den Verkehr stadteinwärts zu lenken. Es war eine gute Gelegenheit für mich, über ein paar Fragen nachzudenken. Was hatte Bishop vor? Was wollte er von mir? Was würde ich als Nächstes tun? Aber ich war einfach zu ausgelaugt, um Antworten zu finden. Also rauchte ich nur, schaute aus dem Fenster und beobachtete, wie die Welt an mir vorbeizog – das nervöse Durcheinander auf der High Street, Leute, die schon früh am Morgen zum Einkaufen gingen, wimmelnd wie Insekten … Taxifahrer, Angestellte, alte Ehepaare … Leute, Menschen … alle irgendwohin unterwegs, voller Vertrauen ihre Bedürfnisse befriedigend … eine ewige Bewegung aus Blut, Fleisch und Knochen …
Das Geschäft des Lebens.
Das Geschäft des Todes. 23. August 1993. Montagmorgen, neun Uhr. Zehn Tage nach Stacys Ermordung. Ein weiterer drückend heißer Tag und ich sitze mit Detective Inspector Mark Delaney in einem Büro des Polizeireviers am Eastway. Ich bin verkatert, mir ist schlecht, meine verschwitzte Haut riecht säuerlich nach abgestandenem Alkohol. DI Delaney bringt mich auf den neuesten Stand der Untersuchungen in Bezug auf den Mord an Stacy.
»Ich fürchte, das wird nicht leicht werden, John«, sagt er und blättert ein paar Seiten in einem Stapel durch. »Ich kann die Einzelheiten überspringen, wenn Ihnen das lieber ist.«
»Nein«, sage ich zu ihm. »Ich muss wissen, was passiert ist.«
Er sieht von dem Stapel auf. »Sicher?«
»Ja.«
Er hält einen Moment meinem Blick stand und in seinen warmen braunen Augen liegt echte Besorgnis, dann nickt er mit dem Kopf und schaut wieder auf den Stapel. »Okay. Nun, wie Sie wissen, wurde die Autopsie letzte Woche vorgenommen und wir haben jetzt ein paar weitere vorläufige Ergebnisse aus der Gerichtsmedizin.« Er unterbricht sich kurz, holt leise Luft, um seine Stimme in den Griff zu kriegen, dann redet er weiter. »Der Bericht der Pathologie kommt zu dem Schluss, dass die unmittelbare Todesursache zwar Erwürgen war, dass Ihre Frau aber auch zahlreiche Stichwunden erlitten hat, von denen einige ebenfalls tödlich gewesen wären.«
»Wie viele?«
Delaney schaut zu mir auf. »Wie bitte?«
»Wie viele Stichwunden?«
Er schaut wieder nach unten. »Siebzehn … alle mit derselben Waffe ausgeführt – einem langen Messer mit breiter Klinge.«
»Haben Sie es schon gefunden?«
»Fingerabdrücke werden noch –«
»Ob Sie es schon gefunden haben?«
Er sieht mich an. »Nein.«
»Hat er sie vergewaltigt, ehe er sie erstach?«
»Wir glauben, dass die Stichwunden während der Vergewaltigung zugefügt wurden.«
»Und danach hat er sie erwürgt?«
»Ja.«
»John?«
Ich rieb mir die Augen und drehte mich zu Bishop um. »Entschuldigung, was haben Sie gesagt?«
»Geschäftlich oder zum Vergnügen?«
»Was?«
Er seufzte. »London Road … letzte Nacht. Waren Sie geschäftlich da oder zum Vergnügen?«
»Nur um ein bisschen rumzufragen«, antwortete ich.
»Wegen Anna Gerrish?«
»Ja.«
»Haben Sie Antworten bekommen?«
»Nicht wirklich.«
»Was soll das heißen – nicht wirklich? Entweder haben Sie Antworten bekommen oder nicht.«
Ich sah keine Veranlassung, ihm zu antworten, also zuckte ich nur mit den Schultern.
Bishop gefiel das nicht. »Erinnern Sie sich noch, wie ich Ihnen gesagt habe, Sie sollen mich auf dem Laufenden halten, was Sie vorhaben?«, sagte er mit einer abfälligen Schärfe in der Stimme.
»Ja, ich erinnere mich.«
»Und, welchen Teil von dem Satz haben Sie nicht verstanden? So verdammt schwer ist er ja nicht.«
»Ich war die ganze Nacht in einer Zelle eingesperrt. Wie hätte ich Ihnen da –?«
»Da hatten Sie doch längst mit den Mädchen gesprochen«, fauchte er. »Ich will wissen, was Sie machen, bevor Sie verflucht noch mal loslegen, nicht hinterher.«
»Ich wusste nicht, dass ich mit ihnen reden würde«, protestierte ich. »Ich war gestern Abend nur gerade in der Gegend …« Als ich das sagte, merkte ich, dass wir inzwischen an der London Road waren. »Ich meine, ich hatte nicht vor, hierherzukommen. Ich bin bloß –«
»Zufällig durchgefahren?«, höhnte Bishop.
Ich beobachtete ihn, während er abbremste und am Straßenrand anhielt, und fragte mich, was er wohl sagen würde, wenn ich ihn fragte, wieso er nicht mit den Mädchen hier unten über Anna geredet hatte. Was versuchst du zu verheimlichen, Bishop?, stellte ich mir vor, ihn zu fragen. Was weißt du über Anna? Was weißt du, das niemand anderes wissen soll? Verdammte Scheiße, was treibst du für ein Spiel?«
»Okay, hören Sie zu«, sagte er streng. »Von jetzt an tun Sie nichts, ohne es vorher mit mir abzusprechen, ist das klar? Ich will wissen, mit wem Sie reden, warum Sie mit jemandem reden und was Sie von den Leuten erfahren.«
Ich schüttelte den Kopf. »Sie haben kein Recht –«
»Hör zu, Wichser«, zischte er, beugte sich zu mir rüber und starrte mir in die Augen. »Das hier geht nur dich und mich an, sonst niemanden. Verstanden? Nur dich und mich. Und was du noch wissen sollst: Ich kann verdammt noch mal machen, was ich will.« Er hob die Hand und zeigte mit dem Finger auf mich. »Und du«, sagte er, den steifen Finger in meine Brust stoßend. »Du kannst einen Scheiß dagegen tun.« Er lächelte mich kalt an. »Du glaubst, letzte Nacht war beschissen? Ich sag dir, wenn du mich noch ein Mal verarschst, sorg ich dafür, dass du den Rest deines verdammten Lebens mit den übelsten Arschlöchern in eine Zelle kommst, die du dir vorstellen kannst. Die reißen dir das Gesicht auf und pissen ins Loch. Die ficken dich, bis du ohnmächtig wirst, einer nach dem andern. Und danach machen sie es noch mal und noch mal und noch mal. Und am Ende wirst du flehen, dass dir einer von ihnen deine beschissene Kehle durchschneidet.« Er lächelte wieder. »Siehst du das vor dir?«
»Ja«, sagte ich. »Ich seh es vor mir.«
»Gut.« Er tätschelte mir die Schulter. »Und jetzt verpiss dich aus meinem Wagen.«