19
Im Sommer 1991 arbeitete ich für ein paar Monate als Handlanger am Krematorium in Hey’s Weir. Die meiste Zeit verbrachte ich mit Rasenmähen oder dem Verbrennen alter Kränze oder ich grub Blumenbeete um … im Grunde genommen tat ich alles, was man mir sagte. Es machte mir nichts aus. Es war eine angenehme, gedankenlose Beschäftigung, die mich zwar körperlich anstrengte, aber nicht geistig, und außerdem arbeitete ich die meiste Zeit für mich allein. Und abgesehen davon war mir – wie ich zu Bridget gesagt hatte – egal, was ich tat, solange ich wusste, dass ich am Ende des Tages mit Stacy zusammen sein würde.
Gelegentlich, wenn es im Krematorium mehr zu tun gab als üblich, wurde ich gebeten, im Verbrennungsraum auszuhelfen. Mit den eigentlichen Verbrennungsabläufen hatte ich nichts zu tun – meistens schob ich nur Särge herum oder siebte die Asche –, aber während der Arbeit dort lernte ich einen Mann kennen, den alle Dougie the Burner nannten. Dougie war ein faszinierender Mensch: Ende zwanzig, Anfang dreißig, mit einer widerborstigen schwarzen Strubbelmähne, funkelnden dunklen Augen, schmuddeliger Haut und einem schiefen Grinsen. Er hatte einen leichten Buckel und humpelte beim Gehen. Und er trug immer den gleichen schäbigen blauen Overall. Er rauchte Pfeifentabak in selbst gedrehten Zigaretten und mittags aß er eine ganze Zwiebel – roh.
Obwohl es manches an ihm gab, was mich ein bisschen verunsicherte – etwa, dass er aussah wie der Serienmörder Frank West, nur eben mit Buckel –, mochte ich auch vieles an Dougie. Zum Beispiel seine Art, nie wütend zu werden, sich niemals Sorgen zu machen, nie etwas ernst zu nehmen. Er humpelte durchs Leben und tat alles, was auf ihn zukam, mit sorgloser Freude – Leichen verbrennen, Asche sieben, Zwiebeln essen … er war völlig zufrieden mit seinem Schicksal.
In jenem Jahr fiel mir an einem warmen Freitagabend, gerade als die Sonne unterzugehen begann, plötzlich ein, dass ich vor Stunden meine Jacke im Krematorium vergessen hatte. In der Jacke steckte meine Brieftasche und Stacy und ich wollten am nächsten Morgen früh losfahren, um das Wochenende in Wales zu verbringen. Und aus irgendeinem Grund, an den ich mich nicht mehr erinnere, entschloss ich mich, die Jacke nicht am Morgen zu holen, sondern noch am Abend beim Krematorium vorbeizufahren.
Deshalb schnappte ich mir die Schlüssel von der Arbeit, stieg in mein Auto und fuhr hinaus. Es muss gegen zehn gewesen sein, als ich ankam, und zunächst wirkte der ganze Ort so still und verlassen, wie ich es erwartet hatte. Doch als ich aus dem Auto stieg und über den Parkplatz auf die Seitentür des Hauptgebäudes zuging, um im Belegschaftsraum meine Jacke zu holen, wurde mir ein tiefes Grollen bewusst, das mir sehr vertraut war – das gedämpfte Tosen des Ofens. Ich hatte immer angenommen, dass der Ofen nachts ausgeschaltet würde, deshalb war ich ein bisschen überrascht, ihn laufen zu hören, aber ich dachte nicht groß drüber nach. Ich ging einfach davon aus, dass meine Vermutung offensichtlich falsch gewesen war. Und auch während ich auf die Seitentür zuging und sah, dass Dougies Wagen hinter dem Gebäude stand und daneben ein dunkelblauer Lieferwagen, den ich noch nie zuvor gesehen hatte, machte ich mir keine großen Gedanken. Wahrscheinlich hatte Dougie noch spät zu tun, vielleicht musste er den Ofen überprüfen oder sonst irgendwas und der Lieferwagen gehörte einem Freund, der ihm wohl half …
Ich schloss die Seitentür auf und ging hinein. Im Belegschaftsraum war es dunkel, die Lichter waren ausgeschaltet, aber die Tür zum angrenzenden Verbrennungsraum stand offen und durch den Eingang sah ich einen flackernden Schein hellorangefarbener Flammen. Ich sah auch Dougie – er stand neben dem Ofen, wischte sich die Hände an einem Lumpen ab und schaute zu mir rüber. Er grinste nicht. Und dann traten zwei Männer von der anderen Seite des Raums in den Türrahmen. Einer von ihnen war mittleren Alters, gedrungen, mit kurzem weißem Haar, der andere wirkte jünger und hatte einen dunkleren Teint, vielleicht ein Türke oder Grieche.
Als der Jüngere in seine Tasche griff, trat Dougie vor und fasste nach seiner Hand.
»Alles in Ordnung«, hörte ich ihn sagen. »Ich kenn ihn.« Dougie drehte sich zu mir um. »Hi, John«, rief er und grinste jetzt. »Was machst du hier?«
Was machst du hier?, dachte ich.
»Ich hab meine Jacke vergessen«, antwortete ich und starrte auf etwas, das ich hinter Dougie am Boden entdeckt hatte. »Ich wollte sie gerade …«
Noch immer grinsend schaute Dougie über die Schulter zu dem Bündel, das meinen Blick anzog, dann drehte er sich wieder um. »Ich hoffe, du kannst ein Geheimnis für dich behalten, John.«
Das Bündel war offenbar eine Teppichrolle. Jedenfalls dachte ich das zuerst. Doch wenig später wurde mir klar, dass es nur ein Stück von einem Teppich war und darin eingerollt eine Leiche. Wie Dougie mir erklärte, handelte es sich um die Leiche eines jungen Zigeuners, der vom Vater und den Onkeln eines achtjährigen Mädchens zusammengeschlagen und erschossen worden war, weil er das Kind überfallen und vergewaltigt hatte. Die beiden Männer, die mit Dougie zusammenstanden, waren selbst keine Zigeuner, sondern angeheuerte Mittelsmänner, Leute, die »Dinge erledigten«.
Dougie schien überraschend unbekümmert, als er mir das Ganze erklärte. Er grinste sein sorgloses Grinsen und drehte sich eine schöne fette Zigarette, während er mir das alles erläuterte.
»Ist nur ein kleiner Nebenjob von mir, John«, sagte er locker. »Ein paar Überstunden, wenn du so willst. Alles wirklich ganz einfach.« Er zündete die Zigarette an. »Wenn jemand heimlich etwas loswerden will, wendet er sich an mich und ich sag ihm, wann er’s vorbeibringen soll. Wenn’s da ist, geht’s in den Brenner … und das war’s.«
»Wenn du ›etwas loswerden‹ sagst«, fragte ich ihn und blickte hinüber zu der Teppichrolle, »meinst du dann … Leichen?«
Dougie grinste. »Leichen, klar. Tote. Ich mein, ich verbrenn sie sowieso den ganzen Tag, der einzige Unterschied bei denen hier ist, dass sie keinen Gottesdienst kriegen, und ich muss hinterher nicht die Asche sieben.« Sein Grinsen wurde noch breiter. »Außerdem werde ich wesentlich besser bezahlt.«
»Echt?«
Er nickte. »Bringt mir jedes Mal einen Tausender.«
Ich sah ihn an und fragte mich plötzlich, ob er mir das Ganze nur deshalb so offen erzählte, weil er mir keine Gelegenheit geben würde, es jemals irgendwem weiterzuerzählen. Ich schaute hinüber zu dem donnernden Ofen und danach wieder zu Dougie.
Er lachte, als er begriff, was ich dachte. »Schon gut, John. Musst dir keine Sorgen machen. Solange du dein Maul hältst …« Das Grinsen wirkte jetzt nicht mehr so warm. »Ist das für dich ein Problem?«
»Nein«, sagte ich. »Kein Problem.«
»Gut. Wenn du natürlich doch was fallen lässt …« Er drehte sich um, schnippte lässig die Zigarette in den Brenner und sah zu, wie sie sofort verglühte, dann wandte er sich wieder zu mir zurück. »Aber das wirst du ja nicht, oder?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Okay«, sagte er grinsend. »Dann mach ich mal besser weiter, wenn du nichts dagegen hast. Ich will die beiden Herren nicht länger aufhalten.«
»Klar …«, murmelte ich. »Ich hol nur schnell meine Jacke.«
»Bevor du gehst«, sagte Dougie, fasste in seine Tasche und reichte mir eine Visitenkarte. »Wenn du mal etwas loswerden musst …«
»Danke«, sagte ich, während ich die Karte betrachtete.
Das Einzige, was draufstand, war sein Name, DOUGIE, und eine Telefonnummer. Ich steckte die Karte in die Tasche, holte meine Jacke und ging.
Ein paar Monate später kündigte ich beim Krematorium und nahm einen besser bezahlten Job in einem Callcenter an. Doch ich hielt mein Versprechen gegenüber Dougie und sagte zu niemandem ein Wort über sein inoffizielles Leichenverbrennungsgeschäft – ich erzählte es nicht einmal Stacy. Und aus irgendeinem Grund, den ich wohl nie ganz verstehen werde, behielt ich auch seine Visitenkarte. Niemals wäre ich auf die Idee gekommen, dass ich selbst seine Dienste brauchen würde, und auch heute fällt es mir immer noch schwer zu glauben, dass ich ihn wirklich anrief, ehe ich Anton Viner hinrichtete.
Doch genau das tat ich.
Ich rief ihn an, bevor ich in jener Nacht losfuhr.
Er wollte keine Einzelheiten wissen, nur wann ich vorhätte, das »Paket« vorbeizubringen. Und als ich ihm sagte, noch in der gleichen Nacht, vermutlich in den frühen Morgenstunden, antwortete er bloß: »In Ordnung, aber das kostet dich extra.«
Und das war’s.
Ich tötete Viner auf dem Parkplatz des Pubs. Ich wickelte seinen blutigen Kopf in eine Mülltüte und versenkte die Leiche im Kofferraum meines Wagens. Ich fuhr zum Krematorium, wo Dougie schon auf mich wartete, und zusammen schleppten wir Viner vom Auto aus in den Verbrennungsraum und schließlich in den Ofen.
Und das war’s dann wirklich.
Ich hatte Anton Viner umgebracht.
Ich hatte ihm in den Kopf geschossen und seine Leiche verbrannt.
Ich hatte sein Leben aus dieser Welt getilgt.
Und nun, siebzehn Jahre später, hatte mir DCI Bishop gerade mitgeteilt, man habe Anton Viners DNA an der Leiche von Anna Gerrish gefunden.
Geister über Geister über Geister …