18

Als ich ins Haus kam, stand Bishop vor meiner Wohnungstür und versuchte Walter zu ignorieren, der am Fuß der Treppe saß und ihn leise anknurrte.

»Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, dass ich schon ins Haus reingekommen bin, John«, sagte Bishop und warf einen Blick auf Bridget, die mir durch den Flur folgte. »Ist ein bisschen kalt da draußen.«

Walter bellte ihn an.

Bishop starrte zornig auf Bridget. »Ist das Ihrer?«

»Tut mir leid«, sagte sie, nahm Walter am Halsband und führte ihn die Treppe hoch. »Komm schon, Walter, lass uns gehen.« Sie warf mir einen Blick über die Schulter zu und fragte stumm, ob alles in Ordnung sei.

Ich nickte. Sie nickte zurück und ging weiter nach oben.

Bishop sah ihnen hinterher, wartete, bis sie verschwunden waren, dann wandte er sich mit dem Anflug eines Grinsens wieder zu mir um. »Ich störe Sie doch nicht gerade bei irgendwas?«

»Was wollen Sie?«, fragte ich.

Das Grinsen verschwand. »Ich muss mit Ihnen reden, John. Und ich möchte es nicht auf dem Flur tun, wenn das für Sie okay ist.«

Ich öffnete die Tür, ließ ihn herein und ohne ein Wort marschierte er einfach ins Wohnzimmer, baute sich am Fenster auf und spähte, die Hände in den Hosentaschen, hinaus auf die Straße. Ich folgte ihm ins Zimmer, setzte mich aufs Sofa und zündete mir eine Zigarette an. Eine Weile sagte er nichts, sondern stand bloß mit dem Rücken zu mir da, was wahrscheinlich einschüchternd, beleidigend oder geringschätzig wirken sollte … aber mir war egal, was es in mir auslöste. Ich rauchte nur meine Zigarette und wartete, dass er etwas sagte.

Schließlich, nach einem lässigen Nackenstrecken und einem Fangen-wir-lieber-an-Seufzen, gab er nach und beendete sein Schweigen.

»Und?«, fragte er, sich vom Fenster abwendend. »Wer ist das Mädchen?«

»Bridget Moran«, antwortete ich. »Sie ist meine Mieterin.«

»Dann gehört das Haus also Ihnen?«

Ich nickte.

Er sah mich einen Moment an und wiegte wissend den Kopf, dann zog er die Krawatte zurecht und marschierte zu einem klapprigen Regal, das sich über die volle Breite einer Mauernische neben der Doppeltür erstreckt. Das Regal steht mit allem möglichen Kleinkram voll: Glasbechern, einem bemalten Holzlöffel, einem gerahmten Foto von Stacy, einer Mundharmonika, einem Krebs zum Aufziehen, einem ausgestopften Vogel, einem Kerzenständer … Bishop nahm den aufziehbaren Krebs hoch, wischte den Staub weg und drehte das Teil auf den Rücken, um den Mechanismus zu untersuchen. Das Gehäuse wirkte unpassend in seinen Händen, wie eine Christbaumkugel in den Händen eines Riesen. Er stieß gegen die Krebsfüße, drückte mit seinem Daumen eine gebrochene Schere auf, dann stellte er das Spielzeug zurück ins Regal und sah sich verächtlich im Zimmer um.

»Ist sie Ihre einzige Mieterin?«, fragte er beiläufig.

»Wie bitte?«

»Miss Moran … ob sie Ihre einzige Mieterin ist?«

»Ja.«

Er grinste mich an. »Wie hoch ist die Miete?«

Ich antwortete nicht, sah ihn nur an.

»Egal«, sagte er und schniefte wieder. »Der Grund, weshalb ich hier bin … nun ja, es geht um den Fall Anna Gerrish.« Er unterbrach sich einen Moment, steckte die Hände in die Taschen und sah mich an. »Sie wissen doch, dass die Leiche identifiziert ist, oder?«

Ich nickte. »Stand letzte Woche in der Zeitung.«

»Die DNA-Befunde haben bestätigt, dass es sich um Anna Gerrish handelt. Die Kriminaltechniker suchen noch nach Beweismaterial vom Tatort, aber weil die Leiche so lange da draußen gelegen hat und die meiste Zeit halb unter Wasser war, ist es schwierig, zu endgültigen Ergebnissen zu kommen. Wir wissen, dass sie erstochen wurde, und wir sind uns fast sicher, dass sie an dem Parkplatz oder ganz in der Nähe umgebracht wurde. Aber wir können nicht sagen, ob sie vergewaltigt wurde, und bislang sind wir auch nicht in der Lage, den exakten Todeszeitpunkt zu bestimmen. Und es ist auch sehr unwahrscheinlich, dass es uns noch gelingt. Doch wir gehen davon aus, dass sie noch am Tag ihres Verschwindens getötet wurde.«

Ich nickte wieder und hielt den Blick auf Bishop fixiert, während mein Kopf voller Fragen war, die ich ihm gern gestellt hätte, aber nicht stellen konnte: Haben Sie das Filmmaterial aus den Überwachungskameras gesehen? Haben Sie den Wagen oder den Fahrer identifiziert? Haben Sie mit Genna Raven oder mit Tasha gesprochen? Wissen Sie, wie viel ich weiß? Wissen Sie, dass ich weiß, dass Sie etwas mit der Sache zu tun haben?

»Wieso erzählen Sie mir das alles?«, fragte ich, während ich meine Zigarette ausdrückte und eine neue anzündete. »Sie haben mir doch selbst gesagt, dass mich der Fall nichts mehr angeht. Dass es jetzt eine Ermittlung der Polizei ist. Dass ich nicht die Polizei bin und in keiner Weise, keiner verfluchten Form involviert bin.«

»Ich weiß, was ich Ihnen gesagt habe«, antwortete Bishop frostig. »Aber die Dinge ändern sich, John. Die Dinge haben sich geändert.«

»Welche Dinge?«

Er machte eine Pause, ehe er antwortete, schaute kurz von mir weg, und ich fragte mich, ob dies der Moment war, den ich die letzten zwei Wochen mehr oder weniger erwartet hatte – der Moment, in dem er seinen Trumpf ausspielen und versuchen würde, mich in den Tod von Anna Gerrish zu verwickeln. Ich hoffte nicht, aber ich hatte genug Zeit gehabt, mich darauf einzustellen, deshalb war ich nicht allzu besorgt. Ich fühlte mich bereit.

Ich hätte mich nicht stärker täuschen können.

Bishop holte Luft und sprach dann ruhig weiter. »Unter Annas Fingernägeln wurden eine Reihe von menschlichen Haaren gefunden«, sagte er. »Und an einigen dieser Haare waren noch die Wurzeln, was bedeutet, dass die Gerichtsmedizin aus den Zellen DNA-Proben gewinnen konnte. Natürlich können wir nicht mit absoluter Sicherheit sagen, dass die Haare von Annas Mörder stammen …« Er zuckte leicht mit den Schultern. »Aber sie sind doch ein einigermaßen stichhaltiger Beweis, um ihn zu überführen.«

»Haben Sie die DNA abgeglichen?«, fragte ich mit plötzlich trockenem Mund.

Bishop nickte. »Die Gerichtsmedizin hat das Ergebnis heute Morgen bestätigt.«

Er sah mich an.

»Das DNA-Profil der Haare, die unter Anna Gerrishs Fingernägeln gefunden wurden, stimmt zu hundert Prozent mit dem DNA-Profil von Anton Viner überein.«

»Viner?«, flüsterte ich.

»Es ist geprüft und gegengeprüft worden.«

»Das ist unmöglich

 

Er gehört mir …

Um circa 1.45 Uhr halte ich mitten in einer schäbigen grauen Sozialbausiedlung im Osten der Stadt am hinteren Ende der School Lane, stelle den Wagen ab und schalte den Motor aus. Die Straße ist menschenleer. Ich kurbele das Fenster hoch, steige aus, schließe den Wagen ab. Irgendwo in der Nähe, vielleicht am anderen Ende der Straße, läuft eine Party. Ich höre die Musik, die stampfenden Bässe. Rufe und Gelächter zerreißen die Nacht. Ich gehe den Bordstein entlang, schwanke leicht, zähle die Hausnummern, bis ich die Nummer 27 erreiche. Das Haus sieht wie alle anderen in der Straße aus: eine betongraue Reihenhaushälfte mit Gardinen vor den Fenstern und einem winzigen, vernachlässigten Vorgarten. Ein warmer Wind weht in der Nacht, als ich vor dem Gartentor stehe, zu den dunklen Fenstern hinaufblicke, an nichts denke …

Es gibt nichts zu überlegen, nichts zu bedenken.

Die Pistole meines Vaters wiegt schwer in meiner Tasche, als ich das Tor öffne und den Weg entlanggehe. Bis auf die fernen Partygeräusche gibt es nirgends ein Zeichen von Leben – kein Zupfen von Vorhängen, keine bellenden Hunde –, da ist nur die leere Nacht und die leere Straße und das leere Ziel in meiner Seele. Ich trete auf die Haustür zu und klingle.

Ich bin so verdammt am Ende, wie ein Mensch nur sein kann.

Eine Weile geschieht nichts, aber ich bin zu betrunken und zu entschlossen, um mich zu fragen, ob Viner zu Hause ist. Er ist hier. Es war immer klar, dass er hier sein würde. Ich weiß es mehr, als ich je etwas gewusst habe. Ich klingle erneut und diesmal geht fast im selben Moment oben ein Licht an. Ich schiebe meine Hand in die Tasche und ziehe Handschuhe raus. Als das Fenster über mir aufgeht, streife ich die Handschuhe über, nehme die Pistole aus der Tasche und stelle mich näher an die Tür.

»Wer ist da?«, ruft eine Stimme von oben. »Hallo? Wer ist da?«

Er kann mich nicht sehen. Über der Tür ist ein Vordach, gerade breit genug, um mich zu verdecken. Ich klingle wieder.

»Verdammte Scheiße noch mal«, sagt die Stimme von oben. »Hey … ich bin hier … HEY! Verdammt, wer –?«

Ich klingle von Neuem und diesmal lasse ich den Finger drauf. Die Stimme am Fenster flucht und knurrt noch ein bisschen, dann höre ich, wie es zugeschlagen wird, und ich weiß, er kommt runter.

Ich lasse die Klingel los.

Durch das marmorierte Glas auf beiden Seiten neben der Tür sehe ich, wie das Licht oben im Flur angeht. Ich höre das gedämpfte Stampfen wütender Schritte die Treppe runterkommen und dann geht das Licht unten an. Das gemusterte Glas verzerrt die Gestalt, die auf die Tür zugeht, und einen Moment lang sehe ich ein Monster, eine schwarze Bestie mit übergroßem Kopf, doch dann reißt das missgestaltete Monster die Tür auf und ist nichts als ein Mann. Ein Mann mittleren Alters, mit langen, strähnigen Haaren, einem schlaffen Gesicht, fahler Haut. Seine Augen sind klein. Er trägt ein fleckiges blaues T-Shirt und eine Nylon-Jogginghose. Um den Kopf ist unfachgemäß ein schmuddelig weißer Verband gewickelt.

»Verdammte Scheiße«, legt er los und seine Tieraugen starren mich wütend an.

Ich hebe die Pistole und richte sie auf seinen Kopf.

Er reißt die Augen auf.

Ich trete näher an ihn heran, halte ihm den Lauf der Pistole zwischen die Augen. »Wenn du noch ein Wort sagst«, erkläre ich ihm, »bring ich dich um. Nick mit dem Kopf, wenn du mich verstanden hast.«

Zitternd nickt er.

»Tritt zurück ins Haus«, fordere ich ihn auf.

Er geht zurück in den Flur, die Augen ängstlich auf die Waffe gerichtet. Ich schiebe ihn weiter ins Haus und schließe hinter mir die Tür.

»Dreh dich um«, sage ich zu ihm.

»Was –?«, beginnt er zu sagen.

Ich bewege nur kurz das Handgelenk und donnere ihm den Pistolenlauf gegen den Schädel. Es ist kein harter Schlag, aber fest genug, dass er schmerzt.

»Dreh dich um«, wiederhole ich.

Er dreht sich um.

Ich lege die Waffe hinten an seinen Schädel.

»Wie heißt du?«, frage ich. »Wenn du mich anlügst, drücke ich ab.«

»Viner …«, murmelt er. »Anton Viner.«

»Ist sonst noch jemand im Haus?«

»Nein.«

Während ich die Waffe weiter an seinen Schädel halte, greife ich höher und reiße an dem Verband um seinen Kopf. Er löst sich fast von selbst. Links, ungefähr sieben Zentimeter über dem Ohr, hat er eine frisch verschorfte Wunde. Sie sieht schartig und entzündet aus. Die bräunliche Blutkruste ist umrandet von rosafarbenem neuem Fleisch … und es besteht kein Zweifel, dass die Wunde von einem Biss verursacht wurde. Ich erkenne die Abdrücke von Zähnen, die Form eines Mundes … die Form von Stacys Mund.

Einen Moment wird alles schwarz in meinem Kopf … und ich bin nichts. Ein Flecken Nichts, der in einer Leere schwimmt. Meine Beine knicken ein … ich falle, schwimme, ertrinke.

Nein.

Ich öffne die Augen, fange mich wieder.

Ich wische eine Träne aus dem Auge.

Und als ich spreche, gehört meine Stimme nicht mir. Es ist die Stimme eines Mannes ohne Leben, ohne Gefühle. Eine Stimme des Todes.

»Setz dich«, sagt sie.

Viner zögert einen Moment, dann lässt er sich schwerfällig zu Boden sinken. Ich stehe über ihm, schaue auf ihn nieder … nieder … nieder …

»Hör zu, Anton Viner«, sagt die tote Stimme. »Und gib nicht den kleinsten verdammten Mucks von dir, ehe ich dir erlaube zu sprechen. Nick mit dem Kopf, wenn du verstanden hast.«

Er nickt.

Ich wische eine weitere Träne aus dem Gesicht und fahre fort. »Vor zwei Wochen wurde eine Frau im Schlafzimmer ihres eigenen Hauses vergewaltigt und umgebracht. Vor einer Woche hat ein anonymer Geschäftsmann 50.000 Pfund Belohnung für den Hinweis ausgesetzt, der zur Festnahme des Täters führt. Deshalb bin ich hier, Anton Viner. Weil ich glaube, dass du der Mörder bist, und ich die 50.000 Pfund will.« Ich unterbreche mich einen Moment, hasse mich dafür, was ich hier tue, aber ich weiß, ich muss es tun, um mir restlose Genugtuung zu verschaffen. »Das einzige Problem ist …«, rede ich weiter, »dass ich es so nicht tun darf. Ich darf nicht in dein Haus eindringen und dir eine Waffe an den Kopf halten, und wenn es die Polizei rausfände, säße ich fett in der Scheiße. Vor allem, wenn sich herausstellen würde, dass du gar nicht der Mörder bist. Damit würde ich mir jede Menge Probleme einhandeln. Deshalb brauche ich von dir einen Beweis, dass du sie umgebracht hast, verstanden? Denn dann kann ich dich einfach einbuchten lassen und mein Geld kassieren, und niemand braucht zu wissen, dass ich bei dir eingedrungen bin und dir eine Waffe an den Kopf gehalten habe. Und selbst wenn du bei der Polizei aussagst, dass ich genau das getan habe, werden sie auf deine Behauptung scheißen. Aber wenn du nicht der Mörder bist, wenn du mir nicht beweisen kannst, dass du sie umgebracht hast … nun ja, dann hätte ich wie gesagt ein Problem, was ich mit dir machen soll. Und ich fürchte, wenn es so wäre, bliebe mir nur übrig, dir in den Kopf zu schießen. Hast du verstanden, was ich dir gesagt habe? Los, sprich.«

»Ja … ja …«, murmelt er. »Ja.«

»Gut. Also, hab ich den richtigen Mann gefunden oder muss ich dich umbringen?« Ich beuge mich vor und halte ihm die Pistole ganz oben an den Kopf. »Du hast drei Sekunden für eine Antwort. Eins … zwei …«

»Ja«, schluchzt er und die Schultern heben sich. »Scheiße … bitte bring mich nicht um … ja, verdammt, ja … ich war’s, ich hab ihr –«

Ich drücke ihm den Pistolenlauf gegen den Schädel. »Das glaub ich dir nicht.«

»Bitte! Es stimmt … ich kann es beweisen.«

»Wie?«

»Die Sachen … ihre Kleider. Ich hab sie noch …«

»Wo?«

»Oben …«

»Steh auf«, sage ich und trete ihm brutal ins Kreuz.

Er kommt unbeholfen auf die Beine. »Bitte tu’s nicht …«

»Halt den Mund. Zeig mir einfach ihre Sachen.«

Ich folge ihm die Treppe hinauf und schaue zu, wie er den Kleiderschrank im oberen Flur öffnet. Während er sich hineinbeugt, löse ich nicht eine Sekunde den Blick von ihm, sondern halte die Waffe die ganze Zeit weiter an seinen Kopf, für den Fall, dass er was vorhat. Aber er ist zu fertig, um auch nur auf den Gedanken zu kommen, irgendwas zu versuchen. Schluchzend, zitternd und nach Luft röchelnd fummelt er im Schrank rum, zieht eine Einkaufstüte heraus, und noch ehe ich hinschaue, weiß ich, was ich sehen werde.

»Da«, sagt er, während er die Tüte öffnet und mir zeigt, was drin ist. »Schau … hier sind sie.«

Natürlich sind es ihre … sind es Stacys Sachen. Alle zusammengeknautscht und bräunlich von Blut. Es sind die Sachen, die sie an dem Tag getragen hat – ein ärmelloses blassrosa Top, eine weiße Bluse, Jeans, ihre Unterwäsche. Aufgeschlitzt, zerrissen, blutverschmiert … zerfetzt.

Wut steigt in mir hoch und ich ramme die Pistole in Viners Kopf, stoße ihn zu Boden und eine Art Tierlaut dringt aus mir, ein Laut, der Blut und Knochen, Schmerz und Verzweiflung verlangt, und das Einzige, was ich tun will, ist ihn auf der Stelle töten …

Auf der Stelle …

Mein Arm spannt sich, der Finger legt sich auf den Abzug …

Und ich höre auf.

Nicht jetzt.

Ich trete ihm in die Rippen … ein Mal, zwei Mal … und noch mal … ich trete so fest zu, dass die Rippen hörbar knacken und sein Körper über den Boden rutscht. Viner stöhnt.

»Steh auf«, sage ich.

»Ich kann nicht –«

Ich trete ihn wieder. Er zwingt sich auf die Knie, stöhnt, schluchzt, hält sich die Brust und ich will gerade wieder zutreten, als er die Zähne zusammenbeißt, sich streckt und endlich auf die Füße kommt.

»Leg die Tüte wieder dahin zurück, wo du sie herhast«, erkläre ich.

Er tut, was ich gesagt habe.

Ich treibe ihn mit dem Pistolenlauf am Kopf die Treppe runter.

Treibe ihn vor mir her aus dem Haus und die Straße entlang – inzwischen ist mir völlig egal, ob jemand in der Nähe ist. Als wir zu meinem Wagen kommen, reiche ich ihm meine Handschuhe, fordere ihn auf, sie anzuziehen. Er zieht sie an. Ich sage, er soll sich ans Lenkrad setzen. Er steigt ein. Ich setze mich auf den Beifahrersitz und sage ihm, er soll fahren.

»Wohin?«, fragt er.

»Lass den Motor an und fahr.«

Zwanzig Minuten später fahren wir durch die Randgebiete eines stillen Vororts namens Hey’s Weir, fünf Kilometer östlich der Stadt. Es ist eine tote Gegend mit niedrigen nichtssagenden Häusern, Industriebrachen und – irgendwie unpassend – einem Achtzehn-Loch-Golfplatz. Hinter dem Golfplatz befindet sich der gepflegte Rasen eines Krematoriums.

»Bieg da vorn ab«, sage ich zu Viner, als wir uns einem verdunkelten Pub nähern. »Hinter dem Haus ist ein Parkplatz.«

»Wieso?«, fragt er. »Was machen wir –?«

»Ich muss mal.«

Ich bezweifle, dass er mir glaubt, aber solange er auf den Parkplatz fährt, ist mir das egal. Und natürlich fährt er. Was soll er sonst tun? Er bremst, biegt auf den Parkplatz ein und hält an.

»Steig aus«, sage ich.

»Aber ich dachte –«

»Steig aus.«

Er zögert einen Moment, dann steigt er aus dem Wagen. Ich steige auch aus. Die Nacht ist dunkel, keine Sterne, kein Mond. Es ist drei Uhr früh. Ich richte die Waffe auf Viners Kopf und treibe ihn hinüber ans Ende vom Parkplatz.

»Stehen bleiben«, sage ich.

Er bleibt stehen.

Ich schaue umher in die Leere der Nacht – kein Verkehr, keine Menschen, kein Garnichts. Es gibt hier nichts, nur mich und den Mann, der meine Frau und mein Baby ermordet hat. Und wir beide sind weniger als nichts.

Ich halte Viner die Waffe an den Kopf und drücke ab.

 

»Wieso?«, fragte Bishop.

»Was …?«

»Wieso ist das unmöglich?«

Ich sah ihn an. »Anton Viner …? Sie sagen, Anton Viner hat Anna Gerrish umgebracht?«

»Nein«, widerspricht Bishop. »Ich sage, dass Anton Viners Haare unter ihren Fingernägeln gefunden wurden. Wieso finden Sie das so schwer zu glauben?«

»Weil …«, fange ich den Satz an und versuche das Chaos in meinem Kopf zu klären. »Weil … also, ich weiß nicht, es ist einfach …«

»Er ist ein Mörder, John. Ein Vergewaltiger. Er wird nicht aufhören. Solche Leute hören nie auf.«

»Ich weiß … aber warum sollte er hierher zurückkommen?«

»Wer sagt, dass er je weg war? Nur weil wir ihn nie gefunden haben, muss er nicht unbedingt weg gewesen sein … Und selbst wenn er Hey tatsächlich verlassen hat nach der Ermordung Ihrer Frau … nun ja, das war vor siebzehn Jahren. Was soll ihn heute hindern zurückzukommen? Hier ist sein Zuhause, John. Hier ist sein Terrain. Er kennt Hey. Er fühlt sich wahrscheinlich sicher hier. Sicher genug, um wieder mit dem Töten anzufangen.«

Ich sah Bishop an. »Sind Sie sicher, dass es Viners DNA ist?«

»Absolut.«

Ich sah ihn noch eine Weile an und versuchte in seinen Augen zu lesen … Dann erhob ich mich aus dem Sofa, verschwand ins Schlafzimmer und fing an, am Bett herumzufummeln. Ich brauchte Zeit, um nachzudenken, zu verstehen … ich musste einfach irgendwas tun. Bishop folgte mir bis zu der Doppeltür, blieb dort stehen, lehnte sich gegen den Türholm und beobachtete, wie ich die Daunendecke hochhob, ausbreitete und über das Bett warf.

»Für 14 Uhr ist eine Pressekonferenz geplant, die auch im Fernsehen übertragen wird«, sagte er. »Wir werden Viner als Hauptverdächtigen im Mordfall Anna Gerrish benennen und sicher wird das Auswirkungen haben. Das ist der eigentliche Grund, warum ich hier bin.«

»Auswirkungen?«, fragte ich, während ich die Decke noch einmal aufschüttelte und versuchte, die stickige Wolke von Körpergeruch und abgestandenem Schweiß zu vertreiben.

Er nickte. »Die mögliche Verbindung zwischen dem Mord an Anna Gerrish und dem an Ihrer Frau lässt sich nicht verschweigen, denn die Medien werden sie sowieso herstellen. Zwei Morde und derselbe Verdächtige, das reicht denen, um Viner zum Serienmörder zu stempeln. Selbst wenn wir versuchen, es runterzuspielen, verhindern können wir es nicht. Und ich fürchte, das heißt, man wird sich wieder für den Mord an Ihrer Frau interessieren und all die alten Geschichten aufwärmen, denn in den Augen der Medien ist sie jetzt nicht mehr bloß irgendein Mordopfer, sondern das Opfer eines Serienmörders. Und das allein wäre schon Grund genug für die Medien, um sich an Ihre Fersen zu heften, John. Aber unglücklicherweise … na ja, wir werden auch nicht die Tatsache verschweigen können, dass Sie es waren, der Annas Leiche gefunden hat, und wenn die Medien das erst erfahren …«

»Scheiße«, murmelte ich.

Bishop nickte wieder. »Jetzt verstehen Sie, wieso ich Sie warnen wollte.«

Ich sah ihn an. »Können Sie die Pressekonferenz nicht absagen? Ich meine, wozu überhaupt das Ganze?«

Er schüttelte den Kopf. »Das liegt nicht mehr in meiner Macht, John.«

»Ich dachte, Sie wären der zuständige Chefermittler in dem Fall.«

»Ich bin verantwortlich für die operative Seite der Ermittlung, ja. Aber inzwischen ist es mehr als eine einfache Morduntersuchung, und das bedeutet, es sind eine Menge andere Leute involviert. PR-Leute, Teamkoordinatoren, Medienstrategen … es ist einfach nicht mehr möglich für mich, alles zu kontrollieren.«

»Aber die eigentliche Untersuchung leiten Sie noch?«

»Ja.«

Ich starrte ihn an. »Und wie läuft die?«

Er starrte zurück. »Ziemlich gut.«

»Irgendeine Vorstellung, wo Viner sein könnte?«

»Wir arbeiten dran.«

»Irgendwelche Hinweise, Zeugen …?«

Bishop antwortete nicht, sondern starrte mich nur weiter an – die Augen vollkommen unbewegt.

»Was ist mit den Aufzeichnungen der Überwachungskameras von der Nacht, als Anna verschwand?«, fragte ich. »Haben Sie da Erfolg gehabt?«

Er blinzelte ein Mal. »Wir arbeiten dran.«