Sechzehntes Kapitel
Die Angriffe hatten nicht nachgelassen, nachdem die Wesmen und ihre Schutzbefohlenen sich durch die Trümmer und die zerbrochenen Balken der Tore des Kollegs einen Weg gebahnt hatten. Tessaya hatte den Raben, die verwundeten und erschöpften Krieger, die ihm früher so sehr zugesetzt hatten, ins Kolleg begleitet und es seinen Stammesfürsten überlassen, die Verteidigung zu organisieren.
Unerwartete, aber willkommene Hilfe hatte er von den Elfenmagiern erhalten, die Schutzschilde über ihre Köpfe gelegt und Sprüche gewirkt hatten, die sie als Kalträume bezeichneten.
Tessaya wusste nicht, wie sie funktionierten. Es war ihm auch egal. Wichtig war nur, dass der Zauber die Dämonen für Angriffe mit Schwert und Axt verletzlich machte, sodass seine Krieger sie endlich töten konnten.
Diese Erkenntnis hatte die Stämme beflügelt, und das erste Gefecht war ein kurzes, heftiges Gemetzel gewesen. Die schnellen fliegenden Dämonen waren widerstandsfähiger als die schlurfenden Karron, aber alle starben, als die aufgestaute Wut der Wesmen endlich ein Ziel fand, nachdem die Krieger den Gegnern so lange kaum mehr als eine vorübergehende Lähmung hatten zufügen können.
In Strömen hatten sie das Dämonenblut auf den Steinplatten im Hof des Kollegs vergossen, vermischt mit einigen Spritzern vom Blut der Wesmen. Schließlich hatten sich die Dämonen zurückgezogen. Sofort hatten die Wesmen ihre Lieder angestimmt und waren seitdem nicht mehr verstummt. Dies war nicht nur ein Sieg über die Dämonen, sondern auch ein Ausdruck der Gewissheit, dass sie an dem Platz standen, der ihnen als den wahren Herren zustand. Tessaya klopfte seinem Schamanen Arnoan auf den Rücken und lachte, als er die Lieder hörte.
»Hörst du das? Heute erfüllt sich unsere Bestimmung.«
»Du bist ein wenig voreilig«, widersprach Arnoan. »Noch haben wir die Dämonen nicht besiegt.«
»Aber wenn wir es tun, werden wir als Sieger im Herzen des Dunklen Kollegs stehen. Es ist nur noch eine Frage der Zeit.«
Arnoan runzelte die Stirn. »Den Geistern wird das nicht behagen. Sie haben Angst und sind einer Bedrohung ausgesetzt. Es steckt mehr dahinter, als du und ich sehen können.«
Tessaya blickte zu den Türmen von Xetesk hinauf, wo seine einstigen Feinde standen und zu den Wesmen herabschauten, die sich in ihrem Refugium versammelt hatten. Dann richtete er den Blick auf den Himmel, wo die Dämonen vor der Grenze des unsichtbaren Kaltraums lauerten. Einige warteten auf den richtigen Moment, um mit hoher Geschwindigkeit anzugreifen, andere suchten den Ursprung der Sprüche und wollten die Magier angreifen, die sie wirkten.
Von seiner geschützten Position in der Nähe der Mannschaftsquartiere aus vermochte er zu erkennen, dass die Gegner vier Vorstöße planten. Es waren ausschließlich Seelenfresser, die versuchen wollten, die Elfenmagier zu schnappen. Seine Krieger bewachten die Magier und rissen die Feinde aus der Luft, spalteten ihre Schädel und zerfetzten die Flügel. So hielten es die Wesmen eben.
Am Boden standen stumm die Karron. Tessaya konnte sie durch die Breschen beobachten, die sie in die Mauern geschlagen hatten, und durch die Tore, die sie zerstört hatten, bevor die Kalträume sie vom Gelände des Kollegs vertrieben hatten. Sie waren stark im Angriff, besaßen aber schwache Körper. Der Einfluss der Kalträume schwächte sie sehr schnell. »Niedere Dämonen«, so hatte sie der Elf namens Rebraal genannt. Tessaya konnte ihm nur beipflichten.
»Du machst dir zu viele Sorgen«, sagte Tessaya. »Die Geister sind weit entfernt, und ihr Verstand ist eher verwirrt als klar. Schau dir die Dämonen an. Sind sie nicht zum Scheitern verdammt? Warum setzen sie nicht alle ihre Kräfte für den Angriff ein? Was meinst du? Sie sind uns mindestens zehn zu eins überlegen. Sie tun das nicht, weil sie wissen, dass wir sie hier drinnen besiegen können. Sie kämpfen nicht gut. Sie bauen auf Furcht, aber wir fürchten uns nicht.«
Arnoan schüttelte den Kopf. »Vielleicht, Mylord, vielleicht.«
»Bist du anderer Meinung?«
»Es kommt mir eher vor, als hätten sie uns eingesperrt. Unterdessen werden sie stärker. Wie lange werden die Karron noch so schwach bleiben, dass sie nicht in den Schutzraum der Magier eindringen können? Sie haben alle Zeit der Welt, und wir werden schwächer.«
»Das glaube ich nicht.«
»Ich meine die dort.« Arnoan deutete auf die Türme. »Wenn die Magier fort sind, haben wir keine Waffe mehr. Was glaubst du, warum die Dämonen uns bis heute nicht angegriffen haben? Sie wollten uns nur verschonen, bis es keine schlagkräftige Verteidigung mehr gibt.«
»Wir werden sie dennoch besiegen«, sagte Tessaya.
Arnoan zog die Augenbrauen hoch. »Ich will beten.«
»Versuche du nur, die Geister zu beschwichtigen, mein Schamane.«
Tessaya sah Arnoan nach, als dieser sich zu dem Schrein begab, den er in der Offiziersmesse errichtet hatte. Im Moment hatten die Dämonen die Angriffe eingestellt, und die Wesmen jagten die letzten Versprengten aus dem Kaltraum. Drenoul trieb sich dort oben herum, starrte herab und haderte mit sich, nachdem er den Fehler begangen hatte, die Wesmen nicht beizeiten anzugreifen. Eine Bewegung im höchsten Turm erregte seine Aufmerksamkeit. Ungerufen kamen ihm Arnoans Worte wieder in den Sinn. Er runzelte die Stirn.
Das vorherrschende Gefühl im Turmkomplex war Erleichterung, nicht etwa Triumph wie draußen. Tessayas Zuversicht geriet ins Wanken. Er fragte sich, mit welchen Neuigkeiten der Rabe nach Xetesk gekommen war, und welche Rolle er selbst dabei spielen würde. Er hatte sich ausbedungen, an ihren Debatten nicht teilnehmen zu müssen, und bereute bereits die Entscheidung, die ihm in jenem Augenblick noch richtig vorgekommen war. Seine Gegenwart wäre sowohl für die Stammesfürsten als auch für die Bewohner der Türme, die er so sehr verachtete, eine Herausforderung gewesen. Im Augenblick aber mussten sie zusammenhalten und den gemeinsamen Feind bekämpfen.
Schließlich starrte er durch die Tore zu den Karron hinaus. Es waren tausende, die dort warteten. Er musste sich wohl damit abfinden, dass Arnoan womöglich recht hatte, und so rief er seine Kommandanten zu sich, statt noch eine Stunde ins Bett zu gehen, wie es ursprünglich seine Absicht gewesen war. Sie mussten sich um die Verteidigung kümmern.
Hirad war nicht sicher, ob Dystran oder Vuldaroq viel von dem mitbekommen hatten, was der Unbekannte zu sagen hatte. Die Männer konnten kaum den Blick von Erienne wenden. Sie lehnte sich an ihren Mann; der Kummer war ihr deutlich anzusehen, und ihre Hände zitterten noch, nachdem sie vor kurzem die Sprüche der Magie des Einen gewirkt hatte.
Vielleicht hatten sie sogar begriffen, was von ihnen verlangt wurde, aber sicherlich nicht viel mehr als das. Hirad war müde und niedergeschlagen. Er musste ständig an Darrick denken. Wütend hielt er sich vor Augen, dass sie den General nicht hatten retten können, und er war nicht in der Stimmung, sich irgend etwas anderes anzuhören außer den Antworten, die er bekommen wollte. Kaum dass der Unbekannte geendet hatte, ergriff Hirad das Wort.
»Hat einer von Euch eigentlich gemerkt, wer gesprochen hat?«
Seine laute, scharfe Frage ließ die beiden Männer herumfahren.
»Wie bitte?«, sagte Dystran.
»Der Unbekannte sitzt neben mir, aber Ihr habt ihn kaum eines Blickes gewürdigt.«
»Und was wollt Ihr mir damit sagen?«
»Wir zeigen Euch den einzigen Weg auf, diese Ungeheuer da draußen zu besiegen, und Ihr zwei beäugt Erienne, als hättet Ihr ein Festmahl vor Euch. Lasst mich zwei Dinge unmissverständlich klarstellen.«
Der Unbekannte zuckte zusammen, sagte aber nichts.
»Wir haben uns bis zu Euch durchgekämpft, weil dies nötig war, um unser Land aus der Not zu retten, in die Ihr es gestürzt habt. Nicht nur unser Land, sondern wahrscheinlich auch unzählige andere Dimensionen, abgesehen von denen, die uns bisher bekannt sind. Im Kampf ist Ry Darrick gefallen, und Auum trauert um Duele. Auch haben wir einige verloren, die wir geschickt haben, um Euch vor den Gefahren zu warnen. Ihr tragt die Verantwortung, aber dies ist nicht der Augenblick für Rache und Beschuldigungen. Wäre er es, dann wärt Ihr schon tot. Dies bedeutet aber auch, dass Ihr Euren Wunsch, Erienne unter Eure Kontrolle zu bringen, vergessen müsst, wenn Ihr nicht uns allen großen Schaden zufügen wollt. Erienne gehört zum Raben. Sie bleibt bei uns. Ihr habt jetzt nur noch über das nachzudenken, was der Unbekannte vorgeschlagen hat. Vorausgesetzt, Ihr habt überhaupt zugehört. Wenn Ihr nicht vergessen könnt, was geschehen und vorbei ist, dann hat keiner von uns mehr eine Zukunft. Wie lautet Eure Entscheidung?«
Dystran starrte Hirad an, als legte er sich eine scharfe Antwort zurecht, doch irgendetwas in der Miene des Barbaren veranlasste ihn, sich zu beherrschen. Mit einem gezwungenen Lächeln breitete er die Arme aus.
»Niemand unterschätzt die Schwierigkeiten, in denen wir stecken, noch die Verluste, die Ihr erleiden musstet. Aber im Herzen bleiben wir doch Magier. Erienne, bitte verzeiht uns, aber was Ihr seid, übt eine einzigartige Faszination aus.«
Erienne zuckte mit den Achseln. »Wenn es Euch glücklich macht.«
»Was aber Eure Vorschläge angeht …« Dystran schüttelte den Kopf. »Wir haben keine Möglichkeit, Euch oder sonst jemanden in die gegenwärtige Dimension der Dämonen zu schicken. Unsere Verbindung zu ihnen beruhte vor allem auf konzentrierten Mana-Strängen und hatte nichts mit deren Standort zu tun. Es tut mir leid, aber wir müssen uns einen anderen Weg überlegen, um sie zu besiegen.«
»Es muss doch eine Möglichkeit geben, uns dorthin zu befördern. Nur auf diese Weise können wir den Riss schließen, damit nicht noch mehr herüberkommen und das Mana sich wieder verstreut. Ohne diese Möglichkeit sind wir so gut wie tot, wie Ihr genau wisst.«
»Ja, das wissen wir«, antwortete Vuldaroq müde. »Und glaubt mir, wir sind sicher, dass es einen solchen Weg gibt. Leider kennen wir ihn nicht. Wir haben alle Texte erforscht, die wir aus der Bibliothek bergen konnten. Dabei haben wir etwas ungeheuer Wichtiges gefunden, aber leider ist dort von religiöser Bestrafung die Rede, die auf einer alten Magie beruht habe. Diese Magie sei jedoch zusammen mit einem Volk untergegangen, das als Charanack bezeichnet wird. Wenn wir einen lebendigen Vertreter dieses Volks finden, kommen wir sicherlich einen großen Schritt weiter.«
»Warum?«
»Einer Randnotiz in einem Dokument über die Dämonologie konnten wir entnehmen, dass diese Leute, wer sie auch waren, eine Verbindung zu den Dämonen unterhielten, die offenbar als Strafe eingesetzt wurde. Eine Art Verbannung oder so etwas.« Dystran hielt inne und blickte an Hirad vorbei. »Was gibt es da zu lachen?«
Hirad drehte sich um. Trotz der gedrückten Stimmung lächelte Rebraal, und Auum schürzte die Lippen und starrte den Magier verächtlich an. Der TaiGethen erklärte es ihnen schließlich.
»Die Menschen sind so dumm«, sagte er in der Elfensprache. Rebraal übersetzte. »Immer überseht Ihr Eure früheren Feinde und haltet sie für unwichtig, da sie scheinbar verschwunden sind. Zugleich fragt Ihr Euch, warum Ihr keine Zukunft habt.«
»Wenn Ihr uns vielleicht erleuchten könntet?«, sagte Dystran.
»Charanack ist eine Abwandlung eines alten elfischen Begriffs«, sagte Rebraal. »Chorun-y-ayck. Es bedeutet: Menschen aus dem Westen. Den Rest könnt Ihr Euch jetzt sicher selbst zusammenreimen.«
Hirad stieß den Atem aus. Ihm war nicht bewusst gewesen, dass er ihn angehalten hatte. Kopfschüttelnd stand er auf und ging steifbeinig zu Dystrans Balkontür, wo Thraun und Ark Wache hielten. Er war erschöpft. Bei den ertrinkenden Göttern, sie waren alle erschöpft. Erienne und Denser waren zu nichts mehr zu gebrauchen, alle Krieger hatten Schnittwunden und schmerzhafte Muskelrisse davongetragen, weil sie schon lange nicht mehr daran gewöhnt waren, so hart zu kämpfen. Genau wie die anderen konnte auch Hirad es kaum erwarten, sich endlich ein paar Stunden auszuruhen. Vielleicht konnte ihm sogar jemand eine warme Heilung zukommen lassen. Im Moment waren sie hier so sicher wie nirgendwo sonst in Balaia. Er musste nur nach unten schauen, um sich zu überzeugen, dass dies der Wahrheit entsprach.
Er schlenderte durch die offenen Türen nach draußen und blickte zum zurückeroberten Kolleg hinab. Im Hof wimmelte es vor Wesmen. Sie hatten offensichtlich gerade einen weiteren Angriff der Dämonen zurückgeschlagen. Mit den etwa zweitausend Kriegern und Schamanen hatte eine große Zuversicht im Kolleg Einzug gehalten. Die Lieder der Krieger stiegen zum Himmel empor, ihre Kochfeuer brannten hell, und die Gerüche ihres mitgebrachten Proviants ließen den ausgehungerten Xeteskianern das Wasser im Mund zusammenlaufen.
Sie hatten sich auf allen offenen Flächen eingerichtet, in den Ställen, in den Mannschaftsquartieren und in drei langen Räumen, und hatten zusätzlich die Bibliothek und das Mana-Bad befreit. Sie hatten den Zugang zu den Brunnen im Hof und im Stall freigekämpft und konnten das nunmehr reichlich vorhandene Wasser benutzen, um den Schleim der Dämonen und die grässlichen Überreste des Kampfes bis zur Grenze des Kaltraums von den Steinen zu waschen. Vor den Feinden, die sich nur wenige Schritte vor ihnen drängten und zuschauten, hatten sie anscheinend nicht die geringste Angst. Tessaya schritt gerade in die Mitte des Hofes und gab einige Anweisungen.
Ein außerordentlicher Mann und einer der wenigen, die Hirads Erwartungen gerecht geworden waren. Der Barbar konnte beobachten, wie die Wesmen vor den Lücken in den Mauern, wo sich die Karron sammelten, starke Verteidigungsstellungen einrichteten. Bisher hatten die niederen Dämonen den Kaltraum nicht angegriffen, aber Tessaya war offensichtlich der Magie gegenüber misstrauisch wie eh und je.
»Nun«, sagte Hirad, »wer ist bereit, mich zu begleiten und den großen Mann um einen großen Gefallen zu bitten, bevor wir uns schlafen legen?«
Er spürte, wie eine schreckliche Panik von ihnen allen Besitz ergriff, und wie sich ganz in der Nähe das Böse zusammenballte. Die Gegner drängten und zerrten, wo die Trennung zwischen Lebenden und Toten ohnehin schon unter Spannung stand. Verschwunden die Gefühle von Licht und Wärme, von Nähe und Freude. Stattdessen ging die Angst um, und ein Abgrund tat sich auf, in dem das ewige Nichts wartete.
Die anderen, die er aufgesucht hatte, um sich auszutauschen, waren so weit wie nur irgend möglich vor der Bedrohung zurückgewichen, auch wenn Entfernungen im Grunde bedeutungslos waren. Er aber wollte nicht fortlaufen. Es gab keinen sicheren Zufluchtsort. Vielmehr musste die Bedrohung beseitigt werden. Wieder suchte er hinter der dünner werdenden Grenze nach dem Licht der Gefährten, die er liebte. Wie hatte das Böse nur so viel Kraft gewinnen können? Er hatte keine Vorstellung, fand keine Antwort. Zeit war bedeutungslos.
Jemand näherte sich ihm. Stark und beruhigend. Es gab Erinnerungen, aber er liebte ihn nicht. Wie konnte er es nur beschreiben … Achtung. Verehrung. Er spürte ein Drängen und sah rennende Füße und rasch fließendes Wasser. Auch Worte empfing er. Sie klangen nach Sicherheit.
Ich habe dich gefunden.
Ohne in der Reise zu seinem Ziel innezuhalten, teilte er sich mit. Was verschwommen gewesen war, nahm in seinem Geist Gestalt an. Er verspürte eine Klarheit und Zielstrebigkeit, wie er sie noch bei keinem anderen wahrgenommen hatte.
Ich werde es dir zeigen.
Jetzt war sein Geist ganz und gar auf das Wesen neben ihm konzentriert. Es empfand Verachtung für das Böse, aber keine Furcht vor der Gefahr. Er sah Bilder. Blut floss, ein Körper fiel auf die kalte Erde. Er sah triumphierend erhobene Arme, dann ein Gebäude und ein Erstarken der Macht, die gebrochen werden musste. Das Gefühl der Dringlichkeit verstärkte sich.
Die Lebenden haben nicht mehr viel Zeit.
Wer bist du?
Ein Freund.
So reiste er weiter zu dem Ort, wo die Gefahr am größten war. Beruhigt und bestätigt. Dabei spürte er die kurze Berührung eines hellen, lebendigen Lichts. Es war ihm fremd. Er versuchte, damit Verbindung aufzunehmen, doch es wich vor ihm zurück und schien heller zu leuchten, als es zur Masse zurückkehrte. Neue Gedanken keimten in Ilkar auf, doch ringsum nahm die Hilflosigkeit zu. Auf einmal entstand ein gewaltiger Druck. Das Licht wurde gedämpft, die Angst war stärker denn je.
Die Feinde waren durchgebrochen. Nicht nur für die Lebenden wurde die Zeit knapp. Er dachte an den Namen und rief um Hilfe.
Hirad wäre die Treppe hinuntergefallen, hätte nicht der breite Rücken des Unbekannten seinen Sturz gebremst. Dieser drehte sich um und fing den Barbaren auf, was einen stechenden Schmerz durch seine Hüfte fahren ließ.
»Hirad? Hirad!«
Der Rabe drängte sich um den Barbaren, der mit beiden Händen seinen Kopf hielt. Er hatte die Augen weit aufgerissen und starrte ins Leere. Seine ursprünglich fest zusammengepressten Lippen bewegten sich auf einmal, die Stirn hatte er in tiefe Falten gelegt.
»Bringen wir ihn zum nächsten Treppenabsatz. Thraun, nimm seine Beine.«
Sie setzten sich in Bewegung. Der Unbekannte ging rückwärts die Treppe hinunter und orientierte sich an der Außenwand und dem Geländer.
»Was denkst du? Ist es Sha-Kaan?«
Der Unbekannte schüttelte den Kopf. Sha-Kaans Gegenwart führte stets dazu, dass Hirad sich entspannte. Dies hier erinnerte eher an einen Anfall.
In Hirads Augen lag eine tiefe Angst, die er dort noch nie gesehen hatte. Sein ungutes Gefühl besserte sich nicht, als sie den Barbaren auf dem Treppenabsatz ablegten und ihm einen zusammengerollten Mantel unter den Kopf schoben.
»Ilkar?«, fragte Erienne.
Laut hallte der Name des Elfenmagiers durch den engen Raum. Der Unbekannte schauderte.
»Wir wollen es hoffen«, sagte er. »Aber so wie jetzt war es noch nie.«
»Nein«, stimmte Rebraal zu, der an Hirads Seite getreten war. »Höre ihm zu, mein Freund. Höre genau zu. Versuche zu verstehen.«
Von unten drang wieder Schlachtlärm herauf. Der Unbekannte ließ sich nicht ablenken, sondern fasste Hirads fest zusammengeballte Fäuste.
»Also gut, Coldheart«, sagte er. »Wir sind hier alle bei dir. Atme ruhiger.«
Der Barbar hörte es nicht. Heftig bewegte sich sein Brustkorb auf und ab, sein Gesicht war bleich. Der Unbekannte wandte sich an Erienne, die Hirads Haare streichelte. Ihr Gesichtsausdruck spiegelte auch seine Sorgen wider.
»Kannst du etwas tun?«
»Ich wage es nicht«, sagte sie. »Schau ihn dir an. Es spielt sich tief in seinem Bewusstsein ab. Was wir sehen, sind nur die körperlichen Symptome. Ich kann nichts dagegen tun, ich weiß nicht wie.«
»Du sollst es auch nicht versuchen«, sagte Rebraal.
»Ich wollte nur Gewissheit haben.«
Erienne lächelte. Alle starrten Hirad an, dessen Augen wild zuckten und dessen Lippen sich bewegten. Er flüsterte etwas. Der Unbekannte hielt den Kopf dicht an seine Lippen.
»Wo bist du?«, sagte Hirad leise. Sein Atem ging jetzt flach, offenbar hatte er Schmerzen.
»Genau hier, alter Junge«, sagte der Unbekannte.
»Ich kann dich nicht sehen. Aber ich fühle dich, Ilks.«
Der Unbekannte schaute auf.
»Es ist Ilkar«, bestätigte er.
»Lasst mich durch«, sagte Dystran übertrieben laut. Er drängte sich durch seine Wachen und schob etwas sanfter Denser und Thraun zur Seite. »Was ist hier los? Warum hat es mir niemand gesagt? Beinahe wäre ich allein hinausgegangen. Das wäre höchst unpassend gewesen.«
»Hirad hat einen Kontakt, seid still«, sagte der Unbekannte.
Dystran atmete scharf ein.
»Stört ihn nicht«, bekräftigte Rebraal. »Das wäre für sie beide gefährlich.«
»Ein Kontakt also. Mit wem denn? Mit dem verdammten Drachen?«
Der Unbekannte erwiderte Dystrans Blick und fand die alte Überheblichkeit.
»Nein, Dystran«, erwiderte er kalt und abweisend. »Ilkar. In einer anderen Dimension, die Ihr in Gefahr gebracht habt.«
»Aber er ist doch tot, dachte ich?«
»Ja«, erwiderte Rebraal.
»Ja, aber dann …«
»Nehmt es einfach hin«, fauchte Erienne. »Lasst uns in Ruhe.«
Dem Unbekannten wurde bewusst, dass der Lärm draußen zugenommen hatte. Unter ihnen im Turmkomplex riefen Männer.
»Ihr müsst weglaufen«, rief Hirad.
Alle zuckten zusammen.
»Bei den Göttern«, sagte Denser. »Hat er etwa uns gemeint?«
»Nein«, erklärte Rebraal. »Er bemerkt uns überhaupt nicht.« Der Anführer der Al-Arynaar wirkte äußerst angespannt.
»Bitte, bringt euch in Sicherheit. Wir kommen«, sagte Hirad.
»Ich nehme an, das ist ungewöhnlich?«, fragte Denser.
»Unmöglich«, bekräftigte Rebraal. »So deutlich dürfte er Ilkar nicht verstehen können.«
Ein mächtiges Brüllen erhob sich. Die Wesmen hatten wieder ihren Kriegsgesang angestimmt, in der Kuppel rannten Xeteskianer hin und her. Die Türen wurden reihum geschlossen, das Knallen hallte durch den Turm.
»Ark, geh hinunter und sieh nach, was dort im Gange ist«, befahl der Unbekannte. »Hirad, ich glaube, es wird Zeit, dass du zu uns zurückkehrst.«
Der ehemalige Protektor entfernte sich, Auum und Evunn folgten ihm. Thraun schnüffelte. Der Unbekannte sah den Gestaltwandler, der die Augen zusammengekniffen und die Lippen zusammengepresst hatte, fragend an.
»Die Jagd hat begonnen«, sagte Thraun.
»Was meinst du damit?«
Von unten rief Ark etwas herauf. Dystran war schon unterwegs, gefolgt von Vuldaroq und den Leibwächtern.
Der Rabe blieb, wo er war, und wartete, dass Hirad wieder zu sich käme.
Endlich war es so weit, er riss die Augen auf, packte den Arm des Unbekannten und zog ihn an sich. Die Augen des Barbaren waren blutunterlaufen und blickten verzweifelt.
»Wir müssen hinüber«, sagte er. »Sie sind eingedrungen.«
Arnoan keuchte, brach seine Gebete abrupt ab und fiel flach auf den Rücken. Sein Brustkorb hob sich schwer, sein Puls raste. In seinem Kopf pochte und hämmerte es, stechende Schmerzen zuckten durch seine Stirn und die Schläfen. Weihrauchwolken waberten wie ein undurchdringlicher Nebel vor ihm.
Er blieb liegen, wo er war, bis er sich Gewissheit verschafft hatte, dass er sich doch nicht zu denen gesellen sollte, mit denen er gerade eben in Berührung gekommen war. Allmählich beruhigte sich sein Herzschlag wieder, der Weihrauch dämpfte die Erregung. Was blieb, war ein kleiner Schmerz wie von einer Zerrung. Auch sein Atem ging jetzt langsamer, und schließlich vermochte er sogar wieder etwas zu sehen und die geballten Fäuste zu öffnen. Gegen das Pochen im Kopf und den Schweiß, der aus allen Poren strömte, konnte er nicht viel tun.
Der alte Schamane kam mühsam hoch, bis er aufrecht saß und die Wand anstarren konnte, die seinem Schrein gegenüberlag. Besorgte Gesichter schauten zur Tür herein. Mit einer schwachen Geste verscheuchte er sie.
»Mir ist nichts passiert«, sagte er. »Schon gut. Später, bitte. Ich brauche etwas Zeit.«
Die Neugierigen zogen sich zurück. Arnoan legte seine fahrigen Hände auf die zitternden Beine, schloss die Augen und kämpfte um seine Beherrschung. Was war während der Kommunion geschehen? In vieler Hinsicht hatte sie begonnen wie alle anderen. In seinem Bewusstsein hatte sich das Tor geöffnet. Das äußere Anzeichen waren die Weihrauchschwaden gewesen, die sich auf einmal verdichtet hatten. Er war durch das offene Portal getreten, das sein Körper nicht überwinden konnte, und niedergekniet. Er war mit seinem Geist gereist und hätte sich fast verirrt.
Zuerst die Berührung von etwas Neuem. Strahlend und lebendig und beinahe verlegen. Er hatte es jedoch ignoriert, weil er die Geister der Alten gesucht hatte. Die Kraft ihrer Emotionen hätten jeden unerfahrenen Schamanen überwältigt, und viele wären danach nicht zurückgekehrt. Laut und mit einer Stimme hatten sie gesprochen. All die Anzeichen der Furcht, die er schon so lange Zeit spürte, nur tausendfach verstärkt.
Schrecken. Hilflosigkeit. Verzweiflung. Flehen. Zeit, die knapp wurde, und Möglichkeiten, die schwanden.
Arnoan schlug die Augen auf und erhob sich. Taumelnd musste er sich an der Wand abstützen. Ihm war übel. Draußen setzten wieder die Geräusche der Schlacht ein, doch es war ein fremdartiger Lärm. Der alte Schamane, dem das Herz schmerzhaft in der Brust hämmerte, wartete ab, bis die Übelkeit abgeklungen war. Dann stieß er sich von der Wand ab und eilte zur Tür der Quartiere.
»Wo ist Tessaya?«
Der Krieger an der Tür sah ihn mit verängstigten Augen an. »Da draußen«, sagte er. »Er führt die Stämme an.«
»Begleite mich«, befahl Arnoan. »Ich muss mit ihm sprechen.«
Der Krieger holte tief Luft. »Ja, mein Schamane.«
Arnoan scheuchte ihn zur Seite und trat in den eiskalten Nachmittag hinaus. Die Dämonen griffen an mehreren Stellen und aus der Luft an. Das war zu erwarten gewesen. Stolz flatterten die Banner der Stämme, laut drangen die Lieder der Wesmen aus dem Kaltraum, und die Krieger kämpften tapfer.
Nach mehreren zuversichtlichen Schritten hielt Arnoan inne. Auf dem Boden lagen tote Dämonen, aber dazwischen viel zu viele Wesmen. Al-Arynaar kamen aus dem Turmkomplex gerannt, teilten sich in zwei große Gruppen auf und eilten zu den Toren und den langen Räumen. In Letzteren waren die Elfenmagier untergebracht, die unbedingt beschützt werden mussten.
Die Atmosphäre hatte sich jedoch verändert. Die Lieder erzählten nicht vom Sieg, sondern von schwerem Kampf und dem Mut der Verzweiflung. Lieder, die verängstigte Krieger beisammen hielten und ihnen die Kraft gaben, gegen einen übermächtigen Feind zu bestehen. Vor sich entdeckte er das hohe Banner der Paleonstämme. Dort stand Tessaya und kämpfte gegen Seelenfresser und Drohnen. Gleich vor dem Lord der Wesmen brachen die Mauern von Xetesk zusammen, und der Schutt ergoss sich in den Hof. Auf vierzig Schritt Länge stürzte ein Wehrgang ein, und durch die Lücke kamen die Karron. Sie waren verwandelt.
»Die Geister mögen uns alle beschützen«, sagte Arnoan.