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Achtes Kapitel

Sharyr und Brynel knieten nieder, um den Wachspruch vorzubereiten. Sie waren weit vom Tor des Kollegs entfernt und hörten den Lärm der Dämonen, die zum Glück anderweitig beschäftigt waren. Neben ihnen stand Suarav. Er war der Einzige, dem sie zutrauten, sie zu schützen. Aus ihrem schrecklichen Ausflug in die Bibliothek hatten sie eine eigenartige Stärke geschöpft, auch wenn sich keiner von ihnen wirklich davon erholt hatte. Sie alle schauderten hin und wieder und spürten immer noch die Kälte der Dämonen und die Nähe des Todes in allen Knochen.

Andererseits waren sie von einer fatalistischen Entschlossenheit erfüllt, die sie zu einem Bündnis gegenseitiger Achtung und wechselseitigen Vertrauens zusammenschweißte. Ein Bündnis, das in den kommenden Stunden auf eine harte Probe gestellt werden sollte.

»Bringe ihn da an der Ecke an«, flüsterte Sharyr.

Brynel nickte. Der Schutzspruch war einfach konstruiert und würde sich in eine genau festgelegte Richtung entladen. Die Magier richteten diese Sicherungen an Straßenkreuzungen ein, die am Weg vom geborstenen Nordtor über den Tuchmarkt bis zum Kolleg lagen. Sie bildeten ein Element in Chandyrs Plan, die Julatsaner beim Einzug nach Xetesk zu unterstützen. Ein anderes zentrales Element waren diese drei Männer.

Sharyr beobachtete den Magier, der den Schutzspruch mit dem Gebäude verband. Als er angebracht war, ergänzte er ihn durch Ausnahmeregelungen, damit er nicht versehentlich durch Menschen oder Elfen ausgelöst wurde. Das Werk war schnell vollbracht.

»Gut«, sagte er, indem er aufstand und dann Brynel half. »Das wäre erledigt.«

»Gut gemacht«, lobte Suarav sie.

Die drei Männer sahen sich auf der düsteren Straße um, auf der eine gespenstische, bedrückende Stille herrschte. Jeder wusste, wie die anderen sich fühlten. Alle drei wären am liebsten sofort zum Kolleg zurückgerannt. Sie fürchteten sich vor der Aufgabe, die sie freiwillig übernommen hatten, waren aber auch stolz auf ihre Stärke und das Vertrauen, das andere in sie gesetzt hatten.

Andere Dreiergruppen, klassische Magiertrupps mit Begleitschutz, legten weitere Schutzsprüche nach einem Plan, den Chandyr entworfen hatte. Sie dagegen sollten Xetesk verlassen und mit den anrückenden Verbündeten Verbindung aufnehmen. Keiner brauchte ihnen zu erklären, welches Risiko sie damit eingingen. Niemand musste ihnen schildern, wie gering ihre Erfolgsaussichten waren. Sie wussten bereits, dass Chandyr für den Fall ihres Versagens einen Ausweichplan entwickelt hatte. Das sollte sie nicht beunruhigen, sondern es war angesichts der Umstände ganz einfach notwendig.

»Braucht ihr eine Pause?«, erkundigte sich der Hauptmann der Wache schroff.

Die Magier schüttelten die Köpfe.

»Wir müssen gehen«, sagte Sharyr.

»Vergesst nur nicht, meinen Hinweisen Folge zu leisten, und bleibt in Bewegung. Anhalten heißt sterben«, warnte Suarav sie.

Sharyr kicherte. »Mehr nicht?«

»Wir müssen stark sein«, ermahnte Suarav ihn.

»Los jetzt«, sagte Brynel. »Mir wird kalt, wenn wir noch länger hier herumstehen.«

 

Denser blickte auf seine Frau hinab, und eine Träne rollte von seiner auf ihre Wange. Es war mitten in der Nacht, die Dämonen griffen wieder an. Er hörte ihre Rufe über dem Treck, der sich beharrlich den Toren von Xetesk näherte. Füße tappten über ihm auf den Dachstreben, und im Zwielicht, das in den Wagen fiel, sah er die eingedrückten Stellen im Segeltuch, wo jemand neben den Streben stand.

Rebraal hatte gesagt, die Nächte seien am schlimmsten, und so war es auch. Die unermüdlichen Dämonen erhellten den Himmel mit ihren bunten Körpern. Sie gaben ein verblüffendes Lichterspiel zum besten, das zugleich erschreckend und schön war. Sie nahmen alle Regenbogenfarben an, hell strahlend oder pastellfarben, und der Anblick war ganz außergewöhnlich und beinahe hypnotisierend. Doch zugleich raubten sie den Menschen, Elfen und Tieren jegliche Ruhe. Ihre Schreie zehrten an den Nerven, und hin und wieder griffen sie auch an – nicht um den Treck endgültig zu zerstören, sondern im Wissen, dass jeder Angriff die Verteidiger schwächte und Angst und Schrecken verbreitete.

Denser schob dies alles beiseite und dachte über den verrückten Plan nach, den der Rabe bald ausführen wollte. Neben Erienne lag Hirad in unruhigem Schlaf. Seine vielen Kratzer und Schnittwunden waren versorgt und verbunden. Er schauderte immer wieder, aber er war stark und würde sich erholen. Bei Erienne sah die Sache anders aus. Denser hätte gern geglaubt, dass sie noch die willensstarke, entschlossene Frau war, die er vor Jahren kennengelernt hatte. Doch die Tragödien hatten ihr zugesetzt, und der Druck, etwas sein zu müssen, was sie nicht sein wollte, zerriss ihre Seele.

Oft verlor sie die Beherrschung, bemühte sich aber trotzdem zu tun, was der Rabe von ihr verlangte und was Balaia und alle damit verbundenen Dimensionen brauchten. Draußen auf dem Feld, als sie zum schützenden Kaltraum gelaufen waren, hatte Erienne etwas Neues, Erschreckendes versucht.

Denser verstand, was es war. Sie hatte in der Luft einen Raum definiert und daraus alles Mana entfernt. Dieser bewegliche Kaltraum war aber noch nicht alles gewesen. Sie hatte anschließend den Dämonen ein Element genommen, ohne das sie keinen Augenblick überleben konnten. Etwas, das ihre Körper zusammenhielt.

Das Ergebnis war so, als würde einem menschlichen Körper das Wasser entzogen. Was sie auch in den Körpern der Dämonen entdeckt hatte, sie hatte es mit vernichtenden Folgen eingesetzt. Doch wie bei allen Sprüchen der Einen Magie barg jede neue Idee auch gewisse Risiken.

Als sie den Spruch das zweite Mal gewirkt hatte, war zu viel Energie zu ihr zurückgeschlagen. Ihr Zusammenbruch war der natürliche Verteidigungsmechanismus ihres Körpers gewesen, der eine Katastrophe für sie selbst und Balaia abgewendet hatte. Sie hatten Glück gehabt. Gegenüber den Stürmen, die Erienne entfesseln konnte, wenn sie die Kontrolle verlor, wären Lyannas Gewalten ein lindes Lüftchen gewesen.

Aber wann würde sie aus diesem Trauma erwachen? Und wie würde es ihr gehen, wenn es so weit war? Er konnte nur hoffen, dass Cleress irgendwo in ihrem Bewusstsein bei ihr war.

»Warum hast du das versucht, Liebste?«, fragte er, während er ihre warme Wange streichelte und seine Träne abwischte. »Du musst uns nichts beweisen, das ist nicht nötig.«

Die anderen ruhenden elfischen und menschlichen Magier einschließlich Pheone behielten ihre Gedanken für sich und respektierten sein Bedürfnis, ungestört bei seiner Frau zu wachen. Auf einmal legte ihm jemand eine starke Hand auf die Schulter.

»Tief drinnen weiß sie das auch. Sie kann sich aber nicht dagegen wehren, dass ein Teil in ihr experimentieren will. Sie muss ihre Grenzen kennenlernen.«

Denser drehte sich zu Thraun um. Der große blonde Gestaltwandler saß hinter ihnen, das Schwert über seine Knie gelegt. Er wich nicht von Eriennes Seite, wenn sie bewusstlos war, er würde sie nie im Stich lassen. Thraun kannte sie länger als jeder andere von ihnen. Er hatte ihre Zwillinge aufwachsen sehen und sie neben ihrem ersten Mann begraben. Denser fand die tiefe Verbindung tröstlich. Sie würde niemals brechen.

»Warum sagst du das?«

Thraun lächelte leicht. »Ein Gestaltwandler verlangt seinem Körper das Äußerste ab, wenn er kein Mensch ist. Er will ihn weiter treiben, als das in menschlicher Gestalt möglich wäre. Dieser Drang unterliegt nicht seiner Kontrolle, aber diese Schwäche hat auch etwas Lebendiges und Erregendes. Man muss es fürchten und lieben zugleich.«

Der Wagen holperte über eine Bodenwelle. Über ihnen scharrten Füße, mehrere Waffen klirrten, Körper stürzten zu Boden, Todesschreie ertönten und verstummten.

»Vielleicht hast du ja recht, aber ich glaube, das ist noch nicht alles«, sagte Denser. »Das Eine ist Eriennes einzige Verbindung zu Lyanna. Wenn sie es aufblühen lässt, fühlt sie sich lebendig.«

Thraun zuckte mit den Achseln. »Ja. Aus dem gleichen Grund muss ich einen Teil meines Lebens beim Rudel verbringen. Es ist eine Verbindung zu etwas, das ich nicht verleugnen kann.«

»Erinnerst du dich noch an die Jahre, die du nach dem Himmelsriss als Wolf gelebt hast?«

Thrauns Miene verfinsterte sich. »Nein. Es ist kaum mehr als eine Witterung in einer Brise. Eine flüchtige Erinnerung, die sich rasch wieder auflöst. Das ist mir aber auch ganz recht so.«

Als Erienne sich im Schlaf regte, streichelte Denser ihre Stirn. »Schon gut, Liebste, du bist in Sicherheit.«

Das entsprach nicht unbedingt der Wahrheit, aber Denser fiel einfach sonst nichts ein. Er blickte zu Thraun hoch, doch der Gestaltwandler beachtete ihn nicht mehr. Er schnüffelte, hatte sein Schwert gepackt und alle Muskeln angespannt.

»Thraun?«

Die Augen des Gestaltwandlers glühten gelb im verschwommenen Licht der Dämonenkörper, die draußen vorbeiflogen. »Gefahr«, sagte er.

Er stieg über Erienne hinweg und ging zum überdachten Heck des Wagens, wo er schweigend und beinahe reglos stehen blieb. Geschmeidig glich er das Schwanken und Rütteln des Wagens aus. Draußen rief der Unbekannte, der mit Darrick auf dem Kutschbock saß, einige Anweisungen.

Etwas prallte auf das hintere Trittbrett des Wagens. Thraun fuhr auf und ging ein wenig in die Hocke. Das Segeltuch bewegte sich, Thrauns rechte Hand schoss vor und zerrte einen Seelenfresser an der Kehle herein. Er drückte ihn mit dem Knie auf den Boden und knurrte, das Schwert zum Stoß erhoben.

Der Dämon drehte mühsam den Kopf, sein Körper flackerte hellgelb und verbreitete ein gespenstisches Licht im Wagen. Hirad und Erienne stöhnten fast gleichzeitig. Vor dem Wagen entstand Unruhe.

»Gestaltwandler«, gurgelte der Dämon, dessen Kehle Thraun nicht losgelassen hatte.

»Der Grund dafür, dass du niemals bekommen wirst, was du so dringend haben willst«, erwiderte er.

Er riss das Wesen weiter in den Wagen hinein. Es spuckte und wehrte sich, die Flügel schlugen gegen die Plane, es packte Thrauns Handgelenk. Thraun verstärkte seinen Griff.

»Sieh her«, sagte er. »Sieh dir an, was du so nahe vor dir hast und dennoch nie berühren kannst.«

Er stach dem Dämon das Schwert durch die Brust. Innerhalb des Kaltraums gab es keine Gegenwehr. Das Wesen verkrampfte sich und starb. Sein Blut strömte auf den Wagenboden. Thraun warf den Kadaver aus dem Wagen und steckte den Kopf hinaus.

»Kommt nur her, wenn ihr Ärger haben wollt.«

So temperamentvoll hatte Denser Thraun noch nie gesehen. Der große Krieger kehrte zurück und setzte sich wieder.

»Ich bin froh, dass du auf meiner Seite stehst«, sagte Denser.

»Immer«, entgegnete Thraun.

»Was ist nur in dich gefahren?«

Thraun erwiderte seinen Blick. »Ich bewache sie seit Jahren und weiche nur von ihrer Seite, wenn ich weiß, dass sie in Sicherheit ist. Ich habe gesehen, wie ihre Kräfte zunahmen, obwohl ihr Herz gebrochen war. Sie kann uns alle retten. Es ist gut, dass sie es wissen.« Er deutete nach draußen.

»Du hast ihnen eine Falle gestellt«, sagte Denser.

»Und der Rabe wird sein wie die Kiefer, die zuschnappen.«

 

Hiela war nicht an Widerstand gewöhnt. Doch die Unfähigkeit der Angreifer über einen empörend langen Zeitraum hinweg hatte ihn gezwungen, früher als geplant in Balaia zu erscheinen. Nein, so hatte er es sich nicht vorgestellt. Die geordnete Übertragung des Mana aus der Heimat ihrer letzten Generationen erforderte eine genaue Aufsicht, und er war besonders gut darin ausgebildet, die Verbindung zwischen ihrem Land und Balaia zu überwachen.

Hiela war der gegenwärtige Schirmmeister. Er hatte die Gefangennahme vieler Seelen von balaianischen Magiern beaufsichtigt, als ihre kleinen Zwistigkeiten sie gezwungen hatten, sich Schutz suchend an die Dämonen zu wenden. Sie hatten geglaubt, alles sei besser als das, was sie jeweils gerade vor sich gehabt hatten.

Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie die Julatsaner den Schirm abgedeckt und aufgelöst hatten, gerade als er einen wichtigen Durchbruch erzielt hatte, der alles, was seither geschehen war, überflüssig gemacht hätte. Damals war Balaia so schwach gewesen. Verschiedene Fraktionen von Magiern hatten sich gegenseitig bekämpft und der ganzen Welt den Mut genommen. Wie leicht es in jenem Augenblick gewesen wäre, mit der Invasion zu beginnen.

Dann aber hatten sich die Drachen eingemischt. Außerdem diese Gruppe von Menschen und Elfen, die so sehr allem widersprach, was man über die Schwäche und Mutlosigkeit der Bewohner von Balaias nördlichem Kontinent wusste. Die Erkenntnis, dass sie immer noch ein Stachel im Fleisch waren und die Eroberung behinderten, hatte seinen Aufbruch beschleunigt.

Statt im warmen Manastrom zu baden und sich um die Bedürfnisse der Meister zu kümmern, die den Riss und den Strom steuerten, war er nun also hier. Mitten in der umkämpften balaianischen Dimension. Er roch die schlechte Luft und hörte die armseligen Ausreden, warum das Land, das sie ausgewählt hatten, immer noch nicht für die Besiedlung geeignet sei. Warum so viele Menschen, Elfen und die verdammten Wesmen frei herumliefen und Ärger machten, statt sich zur Freude ihrer Herren zu vermehren, zu bauen und zu sterben.

Hiela schwebte vor den Mauern der Stadt, die Xetesk genannt wurde. Er spürte die Aktivitäten innerhalb der Grenzen und die Erleichterung, die der Rückzug seiner Truppen den Einwohnern verschafft hatte. Das kümmerte ihn wenig. Er hatte die Stadt überflogen, bevor er den Befehl bestätigt hatte, die Neuankömmlinge aufzuhalten. Jene, die sich innerhalb der schützenden Sprüche bisher noch scheinbar frei bewegen konnten, waren angeschlagen, und ihre Willenskraft war fast gebrochen. Er konnte das Unausweichliche beschleunigen, indem er die vernichtete, die ihnen zu Hilfe kommen wollten. Daher entsprach die Konzentration seiner Truppen vor der Stadt durchaus seinen Vorstellungen. Allerdings war diese Taktik schwieriger umzusetzen als erwartet.

»Bist du sicher, dass sie alle gekommen sind?«, wollte er wissen.

»Ja, Meister Hiela«, bestätigte der Bote. »Alle sind dort.«

»Ich verstehe.«

Er wandte sich an seine Ratgeber. Sie waren allesamt unfähig, wussten aber derzeit über die gegenwärtige Lage noch am besten Bescheid.

»Nun sagt mir, warum diese Truppe so versessen darauf ist, ausgerechnet ins Herz eines Kollegs zu gelangen, das wir so wirkungsvoll abgeschirmt haben?«

Hiela betrachtete sie nacheinander und wartete, dass einer das Wort ergriffe. Er kratzte sich am Bart, den er noch immer gern trug. Es war eine Erinnerung an seine widerwillige Achtung vor den alten julatsanischen Magiern. Das waren noch Menschen und Elfen gewesen, die Kampfgeist und Stärke besessen hatten. Sie zu brechen, war eine Herausforderung gewesen.

»Das ist eben ihre Art«, erwiderte einer. »In schwierigen Zeiten tun sie sich zusammen, weil sie glauben, gemeinsam könnten sie am ehesten überleben.«

»Hm.« Hiela nickte. »Aber das ist noch nicht alles, oder? Der Rabe ist jetzt bei ihnen. Den Rabenkriegern geht es nicht darum, möglichst lange zu leben. Es sind Männer, die siegen wollen, und die nur dort auftauchen, wo sie glauben, dass eine Siegeschance besteht.«

Schweigen.

»Ihr Idioten. Begehrt ihr nicht gerade deshalb ihre Seelen? Faszinieren sie euch nicht deshalb mehr als ein Magier oder ein Elf? In ihnen brennt eine so starke Lebenskraft, dass wir sie kaum berühren können. Glaubt ihr wirklich, diese Krieger würden hoffnungslose Verteidiger unterstützen?«

»Nicht einmal sie können etwas tun«, widersprach ein anderer. »Wir werden siegen. Es ist nur eine Frage der Zeit.«

»Selbst in einem Moment, in dem unsere Stärke den Höhepunkt erreicht, drohen noch Gefahren«, warnte Hiela und wechselte zu einem etwas helleren Blau. »Ohne nachzudenken schluckt ihr, was eure Meister euch sagen. Sie hatten im Gegensatz zu mir noch nicht mit diesen Leuten zu tun. Was sie tun, das tun sie nicht aus einer Laune heraus. Es dient immer einem Zweck.«

»Aber es ist doch nur eine …«

Hiela fuhr herum und schwebte in ihre Mitte, um den Geist mit den langen Fingern zu betrachten, der die Bemerkung gemacht hatte. Er legte eine dramatische Pause ein.

»Ja«, sagte er schließlich. »Könnt ihr euch vorstellen, warum die Julatsaner ihr Kolleg verlassen haben? Den einzigen Ort, an dem unser Sieg in Frage stand? Warum sie zum Zentrum der Dimensionsforschung reisen, wo das größte Verständnis für unser Volk konzentriert ist? Und warum beschränken sich die Wesmen aufs Beobachten? Warum sind sie überhaupt hier?«

Wind wehte über das offene Land und brachte willkommene Kühlung, auch wenn die Versammelten kaum darauf achteten. Hiela drehte sich in der Luft um sich selbst und vergewisserte sich, ob alle ihn hören konnten.

»Da draußen kommen Kämpfer, die fähig sind, uns zu besiegen, falls sie die Hilfe bekommen, die sie brauchen. Wir müssen annehmen, dass sie genau deshalb nach Xetesk reisen. Außerdem solltet ihr davon ausgehen, dass wir uns aus genau diesem Grund hier versammelt haben. Sie dürfen die Mauern des Kollegs nicht erreichen. Sie sollen nicht erbitten, was sie brauchen, ganz zu schweigen davon, es auch zu bekommen. In dieser Schlacht geht es nicht darum, die Willenskraft der Gegner zu brechen und die Seelen aufzunehmen, die zu uns kommen. Ich erteile den Befehl, die Ziele zu vernichten. Wir haben hier alles, was wir brauchen. Kümmert euch nicht um den süßen Geschmack. Wir müssen töten, was wir nicht zum Leben benötigen. Allein darauf müssen wir uns konzentrieren. Wie ist die Lage im Süden und im Kolleg von Lystern?«

»In beiden Gegenden erlahmt der Widerstand, ist aber noch nicht gebrochen. Es sind entschlossene Menschen«, berichtete Drenoul, der Meister der xeteskianischen Front.

»Das sind sie, aber es muss nun ein Ende haben. Ich weiß, dass deine Kommandanten die Seelen der Menschen dort drinnen haben wollen, aber wir brauchen ihre Kräfte hier draußen, damit die Wesmen uns nicht stören, wenn wir es mit Julatsa und Xetesk gleichzeitig zu tun bekommen. Befehle ihnen, alle zu vernichten, die sich nicht beugen wollen, und mit höchster Geschwindigkeit hierher zu reisen. Es wird Zeit, die Zerstörer einzusetzen.«

»Die sind sicher noch zu schwach. Die Mana-Dichte ist noch nicht hoch genug«, wandte Drenoul ein.

»Das wird sich sehr bald ändern, und es sind sehr viele«, entschied Hiela. »Rufe die Karron.«

 

Die Bösartigkeit löste Panik aus. Die anderen hatten sich weit entfernt vom Impuls reinen Hasses gesammelt, der sich rasch ausbreitete. Als hätte jemand an die Tür ihrer Welt gepocht. Das Klopfen wurde lauter und lauter. Er hatte mit dem Gedanken gerungen, ob es eine Kraft gäbe, die ihnen Böses wollte. Dann war er zu einem Ort gereist, wo das Böse stark gewesen und eine wollüstige Begierde über ihn hereingebrochen war.

Während seiner Suche nach dem Raben hatte er in einem Augenblick der Klarheit erkannt, dass die Bedrohung real war, und dass sie trotz ihrer unendlichen Zahl ohnmächtig waren. Diejenigen, die ihn in seiner Heimat hätten hören können, waren fortgegangen, aber einer war in der Nähe der Rabenkrieger wieder aufgetaucht. Er war sicher, dass es sein Bruder war. Es war nur logisch, sofern Logik hier überhaupt galt, dass auch die Lebenden die Bedrohung bemerkt hatten und dagegen kämpften.

Aber wussten sie wirklich, wie groß die Gefahr war? Wussten sie, wohin sie reisen mussten? Er wusste es. Jetzt war er am richtigen Ort eingetroffen und fragte sich, wie es weitergehen sollte. Da war der hämmernde Impuls, der sein Bewusstsein und seine Seele erfüllte. Dort war der Rabe, ein helles Licht in der verschwommenen Umgebung. Er hatte auch ein Gefühl für dessen Ziel. Es war ein Ort von gewaltiger Macht, die langsam abflaute, weil die Kräfte schwanden. Er spürte es, als hätte ihn ein Lufthauch durchweht, dessen Ursprung er bis in ein sonst kaltes und totes Land zurückverfolgen konnte.

Der Rabe musste dorthin, und nur dorthin, an diesen Ort in jenem Land. Er musste mit den Rabenkriegern Verbindung aufnehmen, aber nicht auf den unzuverlässigen Wegen des Unterbewusstseins, wie er es bisher getan hatte. Oft hätte Hirad ihn fast verstanden, aber immer waren die flüchtigen Träume abgerissen, bevor er sich hatte mitteilen können.

Er gelangte zu der Ansicht, dass er näher heran musste, sofern diese Nähe überhaupt möglich war. Vor ihm, nein, rings um ihn lähmte das Hämmern die Kraft der Geister im Inneren. Die Furcht hatte inzwischen alle erfasst, und jeder Austausch war von Angst und dem Wissen überlagert, dass sie gegen diejenigen, die hereinwollten, keine Verteidigung besaßen. Die Feinde würden eindringen, sobald die Tür zerstört war, und dann würde eine Panik ausbrechen, die jede Verständigung zunichte machen würde. Aber bis zu diesem Zeitpunkt musste er einfach daran glauben, dass er sicher war, und er durfte das Vertrauen in die Kraft der Geister, die ihm jeden Erfolg wünschten, nicht verlieren.

Er konzentrierte sich mit aller Kraft. Es gab einen bestimmten Punkt für den Raben, einen Ort, zu dem sie gehen mussten, und eine Tür, durch die sie treten mussten. Es war ein Ort voll großer Gefahren, wo die Grenzen zwischen den Welten schwach waren und wo das Böse auf seine Gelegenheit wartete. Es war jedoch der einzige Ort, an dem er wirklich etwas erreichen konnte.

Er ließ sich vom Licht seiner Freunde einhüllen und schützen und setzte die Reise fort.