Erstes Kapitel
Sha-Kaan hatte die Bruten auf der Ebene von Teras verteilt und hoffte, sie würden Frieden halten, während sie nahe genug beieinander hockten, um sofort reagieren zu können, wenn der richtige Augenblick kam. Da Hirad und der Rabe sich nun oberhalb des Triverne-Sees versteckten und weniger als zwei Tagesmärsche von Xetesk entfernt waren, hatte er die Brutführer noch einmal zusammengerufen.
Es würde, so hatte er sich überlegt, nicht ausreichen, wenn sie einfach in die Heimat der Arakhe sprangen und unabhängig voneinander kämpften. Dieses Mal, dieses eine Mal nur mussten sie gemeinsam vorgehen – eine vereinte Streitmacht, die einzig und allein das Ziel verfolgte, den Raben zu unterstützen, indem sie die Dämonen attackierte, die das Tor und den Manastrom nach Balaia beherrschten.
Ihm fiel der unkontrollierte Himmelsriss ein, der zwischen Balaia und seiner Heimat Beshara eine Verbindung hergestellt hatte. Dieses Mal waren die Rahmenbedingungen völlig anders. Damals hatten kriegerische Bruten die Verteidiger der Kaan bedroht, die den ungehindert wachsenden Riss bewacht hatten. Der Rabe hatte einen Weg gefunden, ihn zu schließen, bevor er so groß geworden war, dass feindliche Bruten mit der Invasion Balaias beginnen konnten.
Dieses Mal hatten die Arakhe die Kontrolle über den Riss. Sein Ursprung lag irgendwo in ihrer sterbenden Dimension, und der Ausgang befand sich allen Berechnungen zufolge irgendwo über Xetesk am Himmel. Die Schuld trugen die vermessenen Xeteskianer. Dieses Mal durften sich die Drachen allerdings nicht um den Zugang streiten, weil dies das Ende aller Bruten bedeutet hätte. Abermals musste der Rabe unbedingt Erfolg haben. Es stand mal wieder auf Messers Schneide, wie Hirad Coldheart es ausgedrückt hätte.
So beeindruckend es auch war, wenn sich tausende Drachen auf der Ebene niederließen – was Sha-Kaan jetzt sah, war einfach Ehrfurcht gebietend. Skoor, Naik, Veret, Kaan, Stara, Gost und die kleineren Bruten, alle flogen in ihren gewohnten Formationen und bildeten die Ehrengarde für die anderen, die gemächlich im Zentrum dahinglitten. Sha-Kaan hatte die Anführer aller Bruten zu dieser Beratung am Himmel gebeten, doch selbst ihn lenkte das Licht ab, das in allen Regenbogenfarben auf den Schuppen tanzte. Erfreut hörte er die Laute, die durch den klaren blauen Himmel hallten, während die Bruten sich gegenseitig mit den kompliziertesten Manövern zu überbieten versuchten.
»Niemand war müßig während der kurzen Verzögerung«, begann Sha-Kaan.
»Wir alle sind es müde, auf deinen Ruf zu warten«, entgegnete Caval-Skoor.
»Ich hoffe sehr, du kannst uns endlich unser Ziel nennen«, fügte Koln-Stara hinzu. »Ich bin nicht der Einzige in meiner Brut, den diese Hinhaltetaktik misstrauisch macht.«
»Muss irgendeiner von euch über Angriffe auf sein Brutland berichten?« Sha-Kaan wartete. »Ich begrüße es jedenfalls, dass ihr und eure Bruten etwas Zeit bekommen habt, um über das nachzudenken, was Yasal und ich zu sagen hatten. Vergesst nicht, dass dies der wichtigste Grund dafür war, euch auf der Ebene zu verteilen.«
»Wir warten noch auf die Rückkehr der Späher aus unserem Land«, sagte Caval. »Ich jedenfalls weiß nicht, ob mein Brutland sicher ist. Ich bin zu weit entfernt, um die Rufe zu hören, falls es Angriffe gibt.«
»Glaubst du wirklich, dein Land würde bedroht?«, fragte Yasal-Naik. »Die Anwesenheit aller Bruten hier ist Beweis genug, dass wir wenigstens für den Augenblick am gleichen Strang ziehen.«
»Ich habe nicht alle Köpfe gezählt«, erwiderte Koln. »Niemand weiß, wie viele Angehörige anderer Bruten nicht anwesend sind.«
»Willst du uns beschuldigen, Großer Stara?«, fragte Eram-Gost scharf.
»Ich beschuldige niemanden. Allerdings weiß ich nicht genug.«
Sha-Kaan spürte, wie unter den Drachen, die sie umgaben, die Spannung stieg, was unmittelbar darauf an die Begleiter gesendet wurde, die sie umgaben. Die Demonstrationen der fliegerischen Gewandtheit hörten sofort auf, die Reihen schlossen sich, die Bruten gingen zueinander auf Distanz. Ringsumher hielten die Drachen inne und warteten. Wie brüchig dieser Frieden doch war. Hoch über allen anderen flogen die Kaan und Naik gemeinsam und beobachteten die Entwicklung.
»Bitte, meine Bruten«, sendete Sha-Kaan. »Wir haben keinen Grund, misstrauisch zu sein.« Er wartete, bis seine Worte die Spannung etwas gemildert hatten. »In diesem kleinen Bereich von Beshara kreisen fast zweitausend Drachen. Es gibt zwei Möglichkeiten, wie es weitergehen kann. Entweder wird es die größte Tat in unserer langen und blutigen Geschichte, oder es wird die schlimmste Katastrophe, die uns und alle unsere Fusionsdimensionen je getroffen hat. Vergesst nicht, wenn die Arakhe uns erreichen, sind alle, von denen ihr abhängt, angreifbar. Ich sage es noch einmal, wir dürfen nicht versagen.«
Er flog ins Zentrum des Kreises, der von Besharas mächtigsten Drachen gebildet wurde, und änderte seine Haltung. Er drehte sich langsam, um den anderen Drachen seine ungeschützten Bauchschuppen darzubieten.
»Was soll werden?«
Ein langer Moment folgte, in dem Sha-Kaan sich fragte, ob er nicht am Ende doch eine gewaltige Dummheit begangen hatte. Doch nacheinander und mit wachsender Geschwindigkeit ahmten die anderen seine Haltung nach. Er ließ Gefühle von Wärme und Kameradschaft zu ihnen strömen und stieß mit einem Bellen eine mächtige Feuerlanze in die Luft.
»Dann lasst uns an die Arbeit gehen.«
Auum hielt diesen Moment für den gefährlichsten. Kaum dass sie die Veränderung der Aktivitäten im Kolleg bemerkt hatten, waren die Cursyrd ausgeschwärmt und hatten die schützende Hülle des Kaltraums umringt. Eine neue Art war aufgetaucht, die er bisher noch nicht gesehen hatte. Sie waren flach und fast konturlos bis auf einen Überzug aus feinen Haaren auf der Bauchseite. Einmal hatten sie den ganzen Schutzschirm abgedeckt und das Licht der Morgendämmerung ausgeblendet. Er hatte sie beobachtet, wie sie hin und her gezogen waren, und eine Magierin der Al-Arynaar zu sich gerufen. Eine Elfin, die er kannte und achtete.
»Sie sind Gleiter«, hatte Dila’heth erklärt. »So nennen wir sie jedenfalls. Wir haben hin und wieder einige gesehen, aber nie so viele auf einmal. Sie suchen nach den Mana-Spuren.«
»Gut«, sagte Auum. »Dann vergeuden sie ihre Zeit. Morgen wird der Standort unserer Sprüchewirker selbst für einen Blinden offensichtlich sein.«
»Wir müssen Yniss für alles danken, was sie davon abhält, uns zu stören.«
»Dennoch sollten wir gut vorbereitet sein.«
Rebraal, der das Balaianische besser verstand und dem die Götter eine unendliche Geduld geschenkt hatten, übernahm die wenig erfreuliche Aufgabe, die widerstrebenden Menschen zu beschwichtigen. Unterdessen kümmerte Auum sich um die Verteidigung. Die Bewachung der Magier, die die Sprüche für die Kalträume wirkten, wurde verdreifacht. Beobachter postierten sich auf den Mauern des Kollegs und den Dächern aller Gebäude. Magier warteten in kleinen Gruppen in Deckung zusammen mit Kriegern der Al-Arynaar und waren bereit, auf jeden Eindringling sofort zu reagieren. Alle Bewohner des Kollegs trugen Waffen und hatten Instruktionen bekommen, damit sie sich im Notfall richtig verhielten.
Von seinem Aussichtspunkt aus betrachtete Auum den Schutzschirm und forschte nach Hinweisen, ob ein Angriff unmittelbar bevorstand. Gruppen der schnellen und starken Seelenfresser flogen über die Hülle hinweg. Vermutlich suchten sie nach Schwachpunkten. Das war ein vergebliches Unterfangen. Sorgen machte Auum sich allerdings wegen der gelegentlichen Erkundungsflüge der höheren Dämonen – die riesigen Arakhe, die auf Nestern aus Tentakeln flogen und die Körper grotesk entstellter Menschen hatten. Sie waren die Herren von Julatsa. Sie entschieden, ob ein Angriff beginnen oder die Erkundung fortgesetzt werden sollte.
Unten im Hof vor dem Turm tauchte Rebraal aus dem Vortragssaal auf und ging, umgeben von Menschen, zum Haupttor. Auum konnte nicht hören, was sie redeten, aber ihre Körpersprache verriet, dass sie zornig waren und einen hitzigen Wortwechsel führten. Er wandte sich an Duele und Evunn.
»Die Menschen machen Schwierigkeiten«, sagte er. »Ich will sehen, was ich tun kann. Ihr wisst, was hier noch zu erledigen ist.« Er seufzte gereizt. »Yniss möge uns behüten, aber diese dummen Menschen wären fähig, sich nach Verkündung eines Freispruchs noch selbst für schuldig zu erklären.«
Rasch lief Auum die Treppe am Torhaus hinunter, überwand die letzten Stufen mit einem Sprung und landete direkt vor Rebraal und den sechs unglücklichen Menschen auf dem Pflaster. Pheone war nicht dabei. Auum hatte wie gewünscht ihre Aufmerksamkeit erregt.
»Gibt es Schwierigkeiten?«, fragte er Rebraal in der Elfensprache.
»Sie wollen uns nicht zustimmen«, sagte Rebraal. »Sie haben nicht gesehen und gehört, was wir erfahren haben. Sie glauben nicht an eine Bedrohung anderer Dimensionen.«
»Das ändert nichts an dem, was getan werden muss.« »Für uns ändert es durchaus etwas«, erwiderte einer der Menschen in passablem Elfisch. Auum zollte ihm mit einem winzigen Nicken Respekt. »Wir haben zwei Jahre mit deinen Leuten verbracht«, erklärte er. »Wir hatten viel Zeit.«
»Name?«
»Geren.«
»Geren, deine Bemühungen weiß ich zu schätzen, aber deine Einwände sind schädlich.«
»Das sehen wir anders.«
»Es gibt keine andere Möglichkeit. Ihr werdet Julatsa morgen verlassen oder Sklaven der Cursyrd werden.« Auum wandte sich zur Treppe um, aber Geren erhob die Stimme und hielt ihn auf.
»Wie kannst du es wagen, hierher zu kommen und zu bestimmen, was wir tun und lassen sollen? Dies ist unser Kolleg, und nur wir, die Ratsmitglieder, werden entscheiden, wann und ob wir es verlassen. Verstehst du das?«
»Rebraal?« Auum wechselte den Dialekt. Er drehte sich nicht um.
»Ich höre mir das schon seit mehr als einer Stunde an«, erwiderte Rebraal in der gleichen Mundart. »Sie wollen nicht auf meine Erklärungen hören.«
»Dann wird es Zeit, die Höflichkeiten zu vergessen. Du hast getan, was du konntest.«
»Auum, wir brauchen die Hilfe der menschlichen Magier. Sie verstehen sich viel besser als wir darauf, den Schild aufzubauen.«
»Du wirst ihre Hilfe bekommen.« Jetzt drehte er sich wieder zu Geren um. Sein Gesicht war hart, sein Geist war klar. Der Mann wich, wie es sein sollte, unwillkürlich einen Schritt zurück.
»Deine Drohungen werden keine Wirkung zeitigen«, sagte er mit zitternder Stimme.
»Ich drohe nicht«, entgegnete Auum. »Dieses Kolleg steht nur noch, weil die Al-Arynaar, die Krallenjäger und die TaiGethen gestorben sind, um es zu beschützen. Es ist nur noch unabhängig, weil die Al-Arynaar euch seit zwei Jahren unterstützen. Rebraal, der Anführer der Al-Arynaar, hat euch erklärt, warum wir aufbrechen und nach Xetesk reisen müssen. Ist dies die Achtung, die ihr denen entgegenbringt, die euch das Leben gerettet haben?«
»Eure Opfer für das Kolleg werden wir nie vergessen, und unsere Achtung für euch ist unverändert. Aber was du verlangst, dient leider nicht dem Interesse des Kollegs und der Stadt Julatsa«, antwortete Geren.
Auum packte Geren an der Kehle und drückte ihn gegen seine Gefährten zurück, die viel zu ängstlich schienen, um ihm beizuspringen.
»Hast du auch nur einen Augenblick geglaubt, wir wären freiwillig hier? Wir hatten keine Wahl, weil die Menschen die Cursyrd in unsere Dimension gelockt haben. Wir sind hier, weil auch wir durch eure Dummheit sterben müssen, wenn wir die Bedrohung nicht ausschalten. Begehe nicht den Fehler zu glauben, mir wäre es wichtig, ob du lebst oder stirbst, Mann. Wir nehmen unsere Leute und was wir sonst noch brauchen mit und reisen nach Xetesk, wo ihr Menschen und wir Elfen die besten Aussichten haben zu überleben. Rebraal sagt, wir brauchen dazu eure Hilfe, also helft uns. Entscheidet euch für das Leben.«
Er stieß Geren fort. Der Magier sah ihn mit unverhohlenem Hass an.
»Ihr alle, geht jetzt und tut, worum ich euch bitte«, sagte Rebraal. »Es tut mir leid, dass es so weit kommen musste.«
Auum fasste ihn am Arm und führte ihn von den Menschen fort. »Es reicht. Vergiss sie. Falls sie nicht mitkommen wollen, sind wir auch ohne sie stark genug.«
»Wir sind dafür verantwortlich, auch sie zu retten.« »Du hast zu viel Zeit damit verbracht, Hirad und dem Geist deines Bruders zu lauschen.« Auum gestattete sich ein schmales Lächeln. »Los jetzt. Wir brauchen Wagen und Pferde. Haben wir genug?«
»Es wird knapp«, sagte Rebraal. »Wir können uns glücklich schätzen, dass Pheone von Julatsa verlangt hat, ein paar Zuchttiere am Leben zu lassen. Deshalb haben wir einige junge und starke Tiere, die unsere Wagen ziehen können, auch wenn sie sich hier, genau wie in Blackthorne, nur langsam vermehren. Wie die Tiere sich im Falle eines Angriffs verhalten, werden wir erst sehen, wenn es so weit ist. Die Wagen sind das größere Problem.«
»Brennholz?«
»Viele sind nicht mehr als das, und die übrigen sind in einem schlechten Zustand. Im ganzen Kolleg gibt es keinen einzigen Stellmacher mehr. Die Schreiner tun, was sie können, und wir suchen in den Ställen und den Gebäuden des Kollegs nach Zaumzeug und Geschirr. Wir müssen genügend zusammenbekommen, um die Magier, die die Sprüche wirken, und den größten Teil der Vorräte zu befördern, aber alle anderen Magier müssen ohne Schutz reisen.«
Auum nickte. »Ich werde die Krieger entsprechend einweisen.«
»Was meinst du, werden sie angreifen?« Rebraal deutete nach oben zu den Dämonen, die über dem Kolleg kreisten und sie beobachteten.
»Ich glaube nicht«, sagte er. »Sie wissen, dass wir etwas vorhaben, aber sie wissen auch, welchen Preis sie zahlen müssen, wenn sie das Kolleg angreifen. Was würdest du tun?«
»Ich würde warten, bis ich sicher bin, was geschehen wird. Der richtige Augenblick wäre der Moment, in dem wir durchs Tor fahren.«
»Ja, mein Freund, das wäre der entscheidende Moment. Dann sind wir behindert und verletzlich. Unsere Krieger werden erbittert kämpfen müssen.«
»Tual wird uns leiten.«
»Und Shorth wird unsere Feinde foltern.« Die beiden Elfen berührten sich an den Armen. »Wir werden es tun.«
»Möge Yniss über uns wachen.«
Auum sollte recht behalten. Die Nacht nahm ihren Lauf, und der Angriff der Dämonen blieb aus. Allerdings gab es Anzeichen dafür, dass sie sich zusammenrotteten, weil sie mit einem Ausbruchsversuch rechneten. Auf allen Wegen zum Kolleg waren Straßensperren zu erkennen. Auch patrouillierten die Dämonen jetzt verstärkt unmittelbar vor den Mauern des Kollegs. Andere schwebten über dem Kolleg, beobachteten und spähten. Sie warteten.
Auum und Rebraal hatten die Magier und Krieger der Al-Arynaar mehrmals im Vortragssaal eingewiesen, die Taktik beim ersten Vorstoß aus den Toren erörtert und besprochen, was von ihnen auf der vermutlich dreitägigen Reise ins südlich gelegene Xetesk erwartet wurde. Unterwegs würde sich die Zelle der TaiGethen eine Weile absetzen, um den Raben am Triverne-See abzuholen.
Schließlich stand Rebraal mit Pheone vor dem Rat des Kollegs und den noch lebenden Menschen. Alles in allem zählten sie einhundertsieben Köpfe: vierunddreißig Magier, die übrigen waren Wächter des Kollegs und jene, die vor dem Angriff der Dämonen ins Kolleg gerufen worden waren. Alle hatten Angst und Vorbehalte, fügten sich aber ins Unvermeidliche.
»Wir haben in den letzten Tagen viel von euch verlangt, und es war wenig Zeit für Höflichkeiten. In den kommenden Tagen wird euch noch mehr abverlangt werden. Die meisten unter euch haben die Entscheidung infrage gestellt, die ohne eure Einwilligung getroffen wurde. Es gibt keine Diskussion. Jetzt ist der Moment, mir zu vertrauen. Und natürlich Auum.«
Er wartete, bis sich das Gemurmel legte.
»Ihr habt über die Bedingungen außerhalb des Kollegs und die schwierige Lage, in der wir uns befinden, alles gehört, was ihr wissen müsst. Jetzt ist der Augenblick gekommen, fest daran zu glauben, dass wir etwas ändern können, und dass ihr mit dieser Reise nach Xetesk und der Verteidigung des Kollegs euren Teil dazu beitragen könnt, die Menschen und Elfen zu retten.«
Er hob die Hände, als sich abermals Gemurmel erhob.
»Haltet ihr das für übertrieben? Wie schnell habt ihr euch doch an das Leben gewöhnt, das ihr jetzt führt. Wann habt ihr das letzte Mal einen nennenswerten Vorstoß unternommen oder eine Seele gerettet, die sich außerhalb der schützenden Kalträume befand? Zweifelt nicht daran, dass die Cursyrd, die Dämonen, euer Land beherrschen. Sie wollen hier bleiben und euch verzehren. Ihr seid Beute, und sie reißen euch, wie es ihnen gefällt und wie es alle Raubtiere in der Natur tun. Glaubt ihr wirklich, ihr könntet sie besiegen, wenn ihr in eurer schützenden Hülle bleibt?«
Wieder wartete er. Dieses Mal bestand die Antwort aus unbehaglichem Füßescharren. Er nickte.
»Wer mich kennt und während der Gefangenschaft hier im Kolleg die Al-Arynaar kennengelernt hat, der weiß sicherlich, dass Elfen von Menschen im Allgemeinen nicht sonderlich viel halten.«
Ein Kichern lief durch den Saal.
»Andererseits wollen wir nicht leichtfertig euer Leben aufs Spiel setzen. Viele Elfen haben alte Freunde unter den Menschen, und wenn wir über eure Schwächen klagen, so wissen wir doch auch eure Stärken zu schätzen. Mein eigener Bruder entschloss sich, unter Menschen zu leben und zu sterben. Einen besseren Beweis für das, was euch Menschen möglich ist, gibt es für mich nicht. Allein aus diesem Grund schon möchte ich, dass es euch gut geht, und mit euch auch uns. Deshalb müsst ihr mir glauben, dass unser Vorhaben die einzige Möglichkeit darstellt, die uns jetzt noch bleibt. Die Gründe dafür werdet ihr vor den Mauern mit eigenen Augen sehen. Die Reise, auf die wir uns morgen früh begeben werden, ist gefährlich. Ich will euch aber eines ganz deutlich sagen. Die Elfen wissen, dass euch die Berührung der Dämonen tödlich verletzen kann. Wir erwarten nicht von euch, dass ihr euch heldenhaft opfert. Dazu habt ihr in Xetesk noch Zeit. Zuerst einmal müsst ihr alle überleben, um die Mauern des Dunklen Kollegs überhaupt zu erreichen. Wir übernehmen die Verteidigung der Karawane, während ihr anderen euch so gut wie möglich ausruht und Ausschau haltet. Die Magier sind das Fundament unseres beweglichen Kaltraums, und deshalb werden sie meist in den Wagen reisen, die wir repariert haben. Was die anderen angeht, so brauchen wir Freiwillige, die einen Wagen lenken können und sich mit Pferden auskennen. Wir verstehen nicht viel von diesen Tieren.« Er lächelte. »Es scheint so, als hätten sogar wir eine Unvollkommenheit.«
Wieder lachten die Zuhörer, dieses Mal ein wenig entspannter. Er hob beide Hände.
»Ich will euch nicht länger aufhalten und bitte euch, so lange wie möglich zu schlafen, weil die Karawane nur anhalten wird, um den Pferden, aber nicht den Menschen etwas Ruhe zu gönnen. Zwei letzte Bemerkungen will ich noch anfügen. Ihr werdet sicher den Eindruck haben, in der Karawane stärker gefährdet zu sein als im Kolleg. Das ist nicht der Fall. Allein die Kalträume hindern die Dämonen daran, euch jederzeit nach Belieben zu schnappen. Diesen Schutz werdet ihr aber auch unterwegs um euch haben. Mauern helfen nicht gegen Dämonen, nur Sprüche bieten Schutz. Und schließlich, wo immer ihr steht oder geht, einen Spruch wirkt oder ausruht, wird ein Elf über euch wachen. Ein Elf, der euch beschützt und gegen den Dämon kämpfen kann, der euch holen will. In diesem Punkt sind wir stärker, und ihr braucht nichts zu fürchten. Wir werden euch nicht im Stich lassen. Wir brechen morgen in der Dämmerung auf. Seid bereit.«
Rebraal erschrak, als er ein unerwartetes Geräusch hörte. Sie applaudierten ihm.
Hirad hockte an einem Baum, die Arme um die angezogenen Knie geschlungen und die Hände vor den Knien verschränkt. Sein Schwert steckte in der Scheide und lehnte neben ihm am Stamm. Die schon früh fallenden Blätter ringsum legten ein Zeugnis von der Kälte ab, die die Dämonen nach Balaia gebracht hatten. Der Rabe hatte es riskiert, gegen Abend ein Kochfeuer anzuzünden, das inzwischen aber längst wieder erloschen war. In diesen Stunden vor der Dämmerung war die Welt eiskalt und still. Hirad war erschöpft. Zuerst Sha-Kaan und dann die Kraft, die er für Ilkar hielt, hatten seinen Schlaf gestört. Der Freund versuchte immer noch erfolglos, Kontakt mit ihm aufzunehmen.
Jetzt, da er die letzte Wache vor der Dämmerung übernommen hatte, fand er die Muße, seine schlafenden Freunde, die beiden Protektoren Kas und Ark und den stillen, aber entschlossenen Elfenmagier Eilaan zu betrachten. Keiner von ihnen schlief ungestört. Thraun jagte die Dämonen seiner Vergangenheit, sein Körper zuckte, und sein Mund bewegte sich, wenn er im Schlaf murmelte. Erienne stand trotz der gewaltigen Entfernung und der schlechten Gesundheit der alten Elfenfrau hin und wieder mit Cleress in Verbindung. Im Augenblick wanderte sie irgendwo links von ihm durchs Unterholz, nachdem sie abrupt erwacht war.
Er hatte sie gebeten, regelmäßig seinen Namen zu rufen, doch sie hatte es nicht getan. Sie blieb jedoch nicht lange fort, und schließlich legte sie ihm die Hand auf die Schulter und ließ sich neben ihm nieder.
»Dann bin ich nicht der Einzige, der heute Nacht Stimmen gehört hat, was?«, sagte Hirad leise.
Erienne hakte sich bei ihm unter und lehnte den Kopf an seine Schulter.
»Sie hat nicht viel gesagt. Sie hatte nicht genug Kraft, die arme Frau.«
»Hilft sie dir?«
»Was könnte sie denn tun? Sie spricht die richtigen Worte, wann immer ich sie hören kann, aber ich bin nicht geschickt genug, um über diese Entfernung zu antworten, deshalb ist es eine einseitige Angelegenheit.« Sie hob den Kopf. »Hör mal, Hirad, was in Blackthorne passiert ist, tut mir leid. Ich habe mich dumm verhalten.«
»Erienne, du musst dich bei mir oder den anderen nicht entschuldigen. Mir ist vor allem wichtig, dass du dich jetzt besser fühlst.«
»Das Problem ist ja, dass ich es nicht genau weiß. Es ist nicht die Magie des Einen selbst, denn theoretisch kann ich die Sprüche wirken. Es fühlt sich allerdings ganz anders an, als einen Eiswind zu sprechen oder einen harten Schild aufzubauen. Wenn man dabei versagt, passiert nicht so viel. Wenn es mir aber nicht gelingt, den Dämonen die Mana-Hülle zu nehmen, dann wäre das für uns alle tödlich. Das belastet mich.«
Hirad wollte antworten, aber dann fielen ihm einige Worte des Unbekannten ein, und er besann sich, ehe er etwas Falsches sagte.
»Wir können dir beim Umgang mit deinen Kräften nicht helfen. Das ist mir klar, und ich will gar nicht so tun, als könnte ich begreifen, welchem Druck du ausgesetzt bist. Vergiss aber nicht, wie hart wir gearbeitet haben, um auch dann kämpfen zu können, wenn dein Spruch nicht zur Verfügung steht. Vergiss das nicht, denn dies bedeutet, dass wir auch dann überleben können, wenn du ausfällst. Du bist die stärkste Waffe, die wir haben, aber eben nicht die einzige. Wir anderen sind auch noch da.«
Erienne kicherte. »Wie machst du das bloß?«
»Was denn?«
»Etwas zu sagen, das mich im Grunde herabsetzt, und es dennoch wie Trost und Unterstützung klingen zu lassen.«
»Es klingt so, weil es das sein soll.«
»Hier ist meine Antwort.« Sie knuffte ihn in die Seite. »Erzähl mir von deinen Stimmen. Bist du sicher, dass es Ilkar ist? Ich meine, das ist selbst für deine Begriffe weit hergeholt.«
Hirad zuckte mit den Achseln. »Ach, ich weiß nicht. Ich habe gestern Abend hier herumgesessen und mich gefragt, ob das alles nur passiert, weil ich will, dass er auf irgendeine Weise noch da ist, und ob ich die ganze Sache nicht selbst ausgebrütet habe.«
»Und wie lautet deine Schlussfolgerung?«
»Dass es kein Zufall sein kann. Es geschah ja erst, als die Dämonen das Mana nach Balaia hineingepumpt haben, falls Baron Blackthornes Zeitbestimmung zutrifft. Außerdem fühlt es sich sehr nach ihm an, auch wenn ich es nicht erklären kann. Worte habe ich nicht gehört, es ist verschwommen und verschleiert. Aber weißt du, wie es ist, wenn du am Geruch der Kleidung erkennst, wer sie getragen hat? So ähnlich fühlt es sich an, nur innerhalb meines Kopfs. Ich wünschte, ich könnte mich klarer ausdrücken.«
Erienne rückte herum, bis sie ihn ansehen und die Unterarme auf seine Knie stützen konnte.
»Geh mit dem Gefühl«, riet sie ihm. »Versuch nicht, dagegen anzukämpfen oder es zu erzwingen. Lass dich von ihm leiten. Wenn es dabei hilft, dass du härter kämpfst, dann nutze es.«
»Ich will es versuchen.«
»Aber es ist schwer, nicht wahr? Es ist schwer, etwas in dir zu haben, das du haben willst, aber nicht nutzen kannst. Davon verstehe ich etwas.«
»Das glaube ich gern.« Hirad lächelte. »Und wenn du jetzt meinen Rat hören willst, dann leg dich hin. Auum könnte im Laufe des Vormittags jederzeit auftauchen, und dann werden wir diese kleine, friedliche Oase verlassen müssen. Dann werden wir kämpfen und Furcht haben.«
»Aber nur noch ein einziges Mal. Danach dürfen wir uns wieder langweilen.«
»Glaubst du das wirklich?«
»Was denkst du?« Erienne beugte sich vor und küsste ihn auf die Wange. »Gute Nacht, Hirad.«