Einundzwanzigstes Kapitel
Thraun war fest entschlossen, Hirad zu retten. Er knurrte laut, um die Aufmerksamkeit der Rabenkrieger zu erregen, die schon zum liegenden Barbaren rannten. Er war Hirad näher als die anderen. Vier Feinde stürzten sich auf den Barbaren, jeder wollte Hirad den tödlichen Schlag versetzen und sich damit rühmen können, den legendären Rabenkrieger getötet zu haben.
Das konnte er nicht zulassen.
Thraun rannte wie noch nie im Leben. Er hatte den Geruch der Wälder in der Nase, er roch die Nähe des Rudels und das warme Blut der Beute. Die Schlachtgeräusche nahm er nur noch gedämpft wahr, aber irgendjemand rief seinen Namen. Jedenfalls glaubte er, es sei sein Name.
Er wollte das Schwert heben und es nach ihnen werfen, hatte aber nichts mehr in der Hand. Er verwarf den Gedanken, knurrte, schnappte und sprang.
Die Beute kreischte unter ihm, aber er kannte keine Gnade. Er trieb dem Mann die Zähne in den Hals und biss die Knochen durch. Heißes Blut sprudelte in seinen Mund, er ließ die sterbende Beute liegen und wandte sich zu den anderen drei um, die vor ihm zurückwichen. Ein Sprung, und er hatte den Nächsten gepackt, hämmerte ihm die Pfoten auf die Brust und warf ihn zu Boden. Eine Kralle reichte, um ihm die Kehle zu zerfetzen. Gleich darauf schlug er dem dritten die Zähne in den Unterschenkel. Während der Mann noch um Hilfe rief, ging der Letzte neben ihm tot zu Boden. Er hatte eine tiefe Wunde am Bauch und eine andere im Gesicht. Auch derjenige, den er gepackt hatte, stürzte jetzt, und seine Schreie erstarben.
Thraun ließ das Bein los und drehte sich um. Zwei standen vor ihm. Keine Beute. Er wich zurück zu dem einen, den er retten musste, und hockte sich hin, jederzeit bereit zu springen, falls jemand ihn bedrohen sollte.
Er heulte.
Izack führte seine Kavallerie im Galopp durch die Straßen von Julatsa und hoffte, es werde das letzte Mal sein. Sie stießen auf keinerlei Widerstand. Chandyr hatte, nachdem das Tor zerstört war, alle Männer zur Schlacht im Kolleg beordert und sogar seine vorgeschobenen Posten abgezogen.
Izack ließ sein Pferd laufen und stieß einen Kampfschrei aus, um seinen Kopf zu klären. Vierzig Schwertkämpfer und Magier folgten ihm. Vor dem Kolleg warteten einige Gegner, die wegen des Gedränges noch nicht hineinkommen konnten. Überall lagen Tote, die offenbar einem Angriff der TaiGethen zum Opfer gefallen waren, und über den Wällen und dem zerstörten Tor standen Rauchwolken.
Die Xeteskianer bemerkten sie erst, als es zu spät war. Izack preschte vor und hackte mit dem Schwert in der rechten Hand einem Mann ein Ohr ab. Die Klinge drang von oben tief in die Schulter ein und verletzte sogar die Rippen und lebenswichtige Organe. Izack hob das Schwert und schlug noch einmal zu. Der Helm des Gegners bekam eine tiefe Beule, und der Mann ging bewusstlos zu Boden. Eine Klinge wurde gegen Izack erhoben, einer seiner Männer sprang dazwischen und wehrte sie ab. So rückten sie an der linken Flanke energisch vor, und unweigerlich wichen die Xeteskianer zurück.
Allerdings gaben sich die Gegner nicht kampflos geschlagen. Auf der linken Seite holte eine Gruppe von Soldaten drei seiner Männer vom Pferd. Armbrustbolzen und Pfeile zischten durch die Luft. Einer pfiff knapp an seinem Ohr vorbei und traf die Schulter des Reiters hinter ihm.
»Wenden!«, befahl er. »Neu formieren! Magier, wir brauchen Schilde.«
Er zog die Zügel herum, hackte die ganze Zeit weiter auf seine Feinde ein und trat zu, ohne die Füße aus den Steigbügeln zu nehmen. Jemand zog ihm eine Klinge über den rechten Oberschenkel. Ein Mann, der eigentlich hätte tot sein müssen, weil sein halber Unterkiefer fehlte, versuchte immer noch zu kämpfen. Er empfand Achtung für die Tapferkeit des Mannes und stieß ihm das Schwert durch die Brust.
Mit einem Tritt in die Flanken ließ er das Pferd aus dem Gedränge herausspringen. Seine Männer folgten ihm. Er galoppierte bis zum Rand des Platzes, machte kehrt, versammelte die Männer und griff abermals an.
Der Gestaltwandler hatte Verwirrung und Panik verbreitet. Xeteskianer, Julatsaner und Elfen waren davongestoben. Sein Heulen hatte den Schlachtlärm übertönt und die Feinde verunsichert.
Diesen Vorteil wollte der Unbekannte nicht ungenutzt lassen. Thraun selbst schritt vor dem liegenden Hirad auf und ab und war bereit, jeden zu verscheuchen, der dem Barbaren nach dem Leben trachtete. Niemand forderte ihn heraus.
»Lass ihn«, sagte der Unbekannte und hielt Darrick fest. »Du kannst ihm vertrauen. Hier entlang.«
Xeteskianische Soldaten versuchten, sich bis zur Grube und dem Herz vorzuarbeiten. Hinter ihnen kam die Kavallerie, die ihrerseits von einer Gruppe Al-Arynaar von hinten angegriffen wurde. Rebraal war unter ihnen, immer noch verbissen kämpfend. Eigentlich hätte der Rabe den Elfen helfen müssen, doch es gab Dringenderes zu tun. Auum steckte mitten in der Schlacht um die Kontrolle über den Zugang zu den hilflosen Magiern, die hinter ihm das Herz bargen, wurde jedoch langsam zurückgedrängt. Nur vier TaiGethen waren noch bei ihm.
Der Unbekannte stürzte sich wieder in den Kampf und versuchte, sich damit abzufinden, dass Hirad nicht an seiner Seite war. Er wagte sich nicht auszumalen, was Thraun sich selbst angetan hatte, als er nach so langer Zeit wieder seine Wolfsgestalt angenommen hatte. Der Rabe war im Kolleg weit verteilt, und das gefiel ihm nicht. Am besten holte er die Gefährten wieder zusammen.
Er tippte einmal mit dem Schwert auf den Boden, trieb es dann einem Xeteskianer ins Kreuz. Es waren jetzt noch gut dreißig übrig, die sich zu organisieren versuchten. Darrick nutzte die Verwirrung, schlug einem anderen die Beine weg und stieß ihn gegen seine Kameraden. Auch der Unbekannte schlug wieder zu und spaltete einem Soldaten den Schädel. Der Schlag warf den Mann um, und zwei Kameraden fingen ihn auf.
Die beiden Rabenkrieger wichen einen Schritt zurück, und die Xeteskianer formierten sich wieder. Der Unbekannte keuchte schwer, seine Hüfte tat schrecklich weh. Auum und die TaiGethen bewegten sich unterdessen schneller, als das Auge folgen konnte. Ihre Klingen zuckten durch die Luft, und auch ihre Füße und Hände waren tödliche Waffen. Den Xeteskianern blieb nichts anderes übrig, als weiter vorzustoßen. Die Männer direkt vor den Elfen zögerten jedoch, weil sie wussten, dass sie nur mit viel Glück am Leben bleiben würden. Glück spielte allerdings bei dem, was die TaiGethen im Kampf vollbringen konnten, keine Rolle.
»Dicht zusammenbleiben, Darrick«, sagte der Unbekannte. »Schräg zurückziehen, achte auf die Flanken. Es kommt nicht auf Eleganz an, schlage mit aller Kraft zu.«
»Alles klar«, bestätigte der General.
Drei Gegner gingen frontal auf sie los, weitere rückten an den Flanken vor. Der Unbekannte versuchte, sie alle im Auge zu behalten. Darrick hatte sein Schwert inzwischen mit beiden Händen gepackt, verzichtete auf Raffinesse und verließ sich allein auf seine Schlagkraft. Er zog das Schwert schräg nach links oben, zerschmetterte die Verteidigung des ersten Gegners und zog die Klinge sofort wieder zurück, um ihm den Schädel wie eine Kokosnuss zu spalten und den Toten zurückzustoßen.
Der Unbekannte ergriff die günstige Gelegenheit, schlug präzise zu und traf den Bauch eines Gegners. Sofort riss er die Klinge zurück und zerschnitt einem weiteren den Schenkel, wobei er allerdings einen Moment das Gleichgewicht verlor. Drei hatten sie im Handumdrehen erledigt, doch immer mehr drängten nach. Bald musste der Unbekannte Hiebe auf zwei Seiten gleichzeitig abwehren und die Klinge ständig über Kreuz führen. Seine Verteidigung wurde immer verzweifelter.
Auch Darrick geriet in Bedrängnis, er musste stechen und schneiden und bot immer wieder Blößen für Gegenstöße. Der Unbekannte änderte die Taktik. Als immer mehr Gegner herandrängten, täuschte er eine Abwehrbewegung an, schlug jedoch tief zu, duckte sich und stieß mit beiden Händen kräftig nach. So schuf er sich ein wenig Raum, und nachdem er die Feinde überrascht hatte, konnte er die Klinge hochziehen und den Unterleib eines Xeteskianers treffen. Dann wich er sofort wieder zurück und hörte ein Schwert über seinem Kopf vorbeisausen.
Er richtete sich etwas zu schnell wieder auf, und seine Hüfte protestierte mit kreischenden Schmerzen. Wieder verlor er fast das Gleichgewicht, dennoch ließ er einen wilden Hieb nach links los. Er brüllte, um wieder zu sich zu kommen.
Der Laut wurde von zwei Tierkehlen aufgenommen. Ein Panther und Thraun schalteten sich in den Kampf ein. Der Unbekannte hatte sich überrascht halb von einem Mann abgewandt, der mit erhobenem Schwert angerannt kam, und vorübergehend keinen sicheren Stand. Die Klinge näherte sich bedrohlich seinem Kopf, erreichte ihn jedoch nicht. Hirads Schwert fegte sie weg und trennte dem Mann im Nachsetzen den Kopf vom Rumpf.
»Der Rabe, zu mir!«, brüllte Hirad.
Der Unbekannte konnte es nicht glauben. Schon entfernte sich der Barbar halb rennend und halb stolpernd in Richtung der Grube, mit blutüberströmtem Kopf und trotzig erhobenem Schwert. Thraun hielt sich dicht neben ihm. Kein Feind wagte sich auch nur in ihre Nähe. Der Unbekannte schätzte die Lage ein. Er und Darrick hielten die Xeteskianer auf einer Seite zurück, und auf der anderen setzten ihnen die TaiGethen zu.
In seinem Rücken kam knirschend das Herz ans Tageslicht, Rauch stieg von seinen Seiten auf, die Runen schimmerten im Sonnenlicht. Es war klar, warum Hirad es so eilig hatte. Als die Xeteskianer sahen, dass sich das Blatt zu ihren Ungunsten wendete, hatten sie ihre Magier mit Schattenschwingen in die Luft geschickt. Sie überflogen die blockierte Stelle und landeten zwischen den Julatsanern und Elfenmagiern, die noch mit dem Spruch beschäftigt waren. Auch Denser und Erienne waren dort, schutzlos den Feinden ausgeliefert.
»Verdammt«, keuchte er. »Darrick los!«
Er drosch sein Schwert durch die Abwehr des nächsten Soldaten und umging die Angreifer, um Hirad zur Grube zu folgen. Zwischen ihnen und ihren Freunden waren bereits genug Xeteskianer, um sie längere Zeit aufzuhalten.
Hirad konnte sich kaum noch konzentrieren. Sein Kopf, seine Brust und seine Beine schmerzten, und das Schwert war ihm viel zu schwer. Bei jedem Schritt musste er blinzeln, weil ihm das Blut in die Augen tropfte, doch immer noch rannte er weiter. Thraun, der neben ihm lief, wusste genau, was zu tun war. Er sprang einem Xeteskianer in den Rücken, der ihnen den Weg zur Grube versperren wollte. Der Mann schrie, und die Gefährten in seiner Nähe wichen instinktiv zurück. Sie hatten keine Lust, die nächsten Opfer des Wolfs zu werden.
Vor ihm schlug Auum, der jetzt nur noch ein Schwert trug, seine Klinge einem Gegner ins Gesicht und drosch ihm danach die Handfläche auf die Nase, um den Mann von den Beinen zu werfen.
»Auum!«, rief Hirad. »Wir müssen durchbrechen.«
Er stieß einen Feind zur Seite, rammte einen zweiten mit der Schulter und versetzte dem dritten einen Schwerthieb. Auum hatte seinen Ruf gehört, und auf sein Kommando konzentrierten sich die TaiGethen auf Hirads Flanke. Die Feinde nahmen sie in die Zange. Der Barbar brüllte, stach dem letzten Mann, der ihm noch im Weg stand, die Klinge in den Hals und rannte in den Hof. Er betete, dass er nicht zu spät kam.
Auf schwankenden Beinen lief Hirad weiter und wischte sich das Blut aus dem Gesicht. Thraun sprang an ihm vorbei und verschwand zwischen den Magiern, die Sprüche wirkten. Überall herrschte Chaos. Im Zentrum schob sich das Herz weiter nach oben. Siebzig Fuß hoch erhob es sich jetzt, und immer noch stieg es auf.
Ringsum standen die Magier mit erhobenen Armen und hauchten Julatsa neues Leben ein. Sie gaben alles, um sich selbst zu retten, und bemerkten nicht, dass die Feinde schon in ihrer Mitte landeten und sie nacheinander ausschalteten.
Die Magier der lysternischen Kavallerie waren in der Unterzahl und starben rasch. Hirad stolperte zu Denser, der Erienne hielt und sich nach den rasch anrückenden Xeteskianern umsah. Sie wollten nicht nur die Bergung des Herzens vereiteln, sondern auch Erienne schnappen.
Das kam nicht infrage. Hirad folgte Thraun in den Kreis der Magier und knallte einem xeteskianischen Magier das Schwert auf den Schädel. Drei weitere hielten auf Denser zu, andere töteten Julatsaner. Das Herz bebte und blieb stehen.
»Nein!«, schrie er. »Nein! Gebt nicht auf. Strengt euch an, ihr Bastarde, strengt euch an!«
Es war ihm egal, ob sie es hören konnten oder nicht, aber das Herz bewegte sich immerhin weiter. Er rannte schneller, rutschte aus und fiel hin. Die Schmerzen waren kaum zu ertragen. Die Wunde in der Brust riss weit auf, sein Kopf prallte aufs Pflaster. Es wurde dunkel um ihn.
»Noch nicht«, keuchte er. »Noch nicht.«
Irgendwie kam er wieder hoch und hörte Schritte in der Nähe. Der Unbekannte und Darrick stürzten an ihm vorbei, Darrick rennend und der Unbekannte stark hinkend. Sie erledigten einige xeteskianische Magier, und der Weg für ihn war wieder frei. Er torkelte weiter. Denser hatte inzwischen sein Kurzschwert gezogen, konnte aber Erienne nicht loslassen. Sie hing ohnmächtig in seinem freien Arm.
Sie näherten sich. Hirad atmete tief durch und raffte sich auf, um zu rennen. Der erste Xeteskianer, der Denser angreifen wollte, spürte gleich darauf Thrauns Fänge im Rücken. Der zweite schaffte noch einen weiteren Schritt, dann hielt der wutentbrannte Hirad ihn auf. Ein letztes Mal hob der Barbar sein Schwert. Es durchstach den Rücken des Mannes und kam zwischen den Rippen wieder zum Vorschein.
»Denser, da ist noch einer«, sagte er.
Doch er sah nicht mehr, ob der Xeteskianer tatsächlich angriff. Erschöpft sank er auf die Knie.
Der Unbekannte trieb einem xeteskianischen Magier das Schwert in die Seite und blickte auf Denser hinab. Er wollte sich keinen Schritt mehr bewegen. Seine Hüfte tat höllisch weh, und er konnte kaum noch atmen.
»Alles klar?«
»Geht so.«
Erienne entspannte sich in Densers Armen und stieß ein gedehntes Seufzen aus. Gleichzeitig blieb das Herz stehen, drehte sich um neunzig Grad und stand still. Die letzten Rauchwolken stiegen in den Morgenhimmel.
Der Unbekannte sah sich zu den Magiern um, die nicht ganz glauben konnten, was sie geleistet hatten. Einige lysternische Magier bewegten sich zusammen mit Darrick zwischen ihnen, um die letzten xeteskianischen Eindringlinge auszuschalten.
Mehrere Julatsaner hatten die Hände vor den Kopf geschlagen, andere weinten, manche starrten nur stumpf ins Leere. Der Schlachtlärm schien sie nicht zu erreichen.
»Pheone«, sagte er. Sie drehte sich nicht um. »Pheone.«
»Ich …« Sie deutete zum Herzen. »Sieh nur, was wir getan haben.«
»Das ist eine höchst erstaunliche Leistung, für die ihr alle in die Geschichte eingehen werdet«, sagte der Unbekannte so behutsam wie möglich. »Aber wir haben Schwierigkeiten im Hof. Habt ihr noch etwas Kraft übrig? Dort sterben Menschen.«
Sie lächelte und nickte energisch. »Das Herz ist geborgen, unsere Energie fließt wieder. Ja, wir haben noch etwas Kraft übrig.«
Weiter musste sie nichts sagen. Überall kamen jetzt die Magier zu sich, konzentrierten sich zusammen mit den Elfenmagiern auf die Schlacht und rannten los, um die Al-Arynaar zu unterstützen.
Im Durchgang von der Grube zum Haupttor kämpften immer noch Auum und seine Tai. Der Unbekannte konnte sie nicht im Stich lassen. Er klopfte Hirad auf die Schulter, ließ den Barbaren sitzen, wo er war, und trottete trotz seiner protestierenden Hüfte, so schnell er konnte, zu den Elfen hinüber. Mit jedem seiner Schritte schalteten sich mehr und mehr Magier der Al-Arynaar in den Kampf ein, und schon flogen die ersten Sprüche. Gebündelte Feuerkugeln trafen einzelne Kämpfer, Kraftkegel fegten Gruppen von Feinden von den Beinen. Im Handumdrehen war der Durchgang frei, und Auums Tai machten sich auf den Weg, um Rebraal und die anderen Al-Arynaar zu unterstützen.
»Na bitte«, keuchte der Unbekannte.
Er war erledigt, völlig erschöpft. Auch die anderen Rabenkrieger konnten nicht mehr kämpfen. Was jetzt auch geschah, es lag nicht mehr in ihrer Hand. Er lehnte sich an eine Wand. Thraun stupste mit der Schnauze seine Hand, und er schaute zu ihm hinab.
»Bei den Göttern, ich hoffe wirklich, du weißt, was du tust.« Thraun blickte zu ihm auf, in seinen Wolfsaugen lag ein sehr menschlicher Ausdruck. »Du kommst aber wieder zurück, hast du verstanden?«
Neuer Lärm erhob sich am Tor, und die Xeteskianer purzelten förmlich übereinander, als sie mit Gewalt in den Hof getrieben wurden. Ein Pferd wieherte laut, Izack setzte über einen gefallenen Kämpfer hinweg und galoppierte in den Hof, gefolgt von seiner Kavallerie. Sein Schwert war rot und nass vor Blut.
Die Männer, die vor der Kavallerie gestürzt waren und überlebt hatten, standen auf und rannten fort. Auf dem ganzen Hof lösten sich die Xeteskianer aus dem Kampf und flohen zum Tor. Magier sprachen Schattenschwingen und flogen davon, räumten die Wälle und zogen sich aus der Gefahrenzone zurück. Der Unbekannte sah ihnen nach und nickte zufrieden. Auum stieß einen Kampfschrei aus, und die Al-Arynaar und die noch lebenden TaiGethen griffen abermals an. Am Tor von feindlicher Kavallerie und ringsum von den Elfen in die Enge getrieben, rief der xeteskianische Kommandant seine Leute zur Ordnung und wollte einen neuen Angriff befehlen, doch seine Männer suchten längst ihr Heil in der Flucht. Sie waren zwar zahlenmäßig überlegen, doch da jetzt die Elfenmagier und die Julatsaner auf den Wällen standen und über die Wehrgänge gerannt kamen, um Sprüche ins Zentrum der Xeteskianer abzufeuern, mussten sie aufgeben.
Chandyr brüllte wütend, drehte sich um und begegnete dem Blick des Unbekannten. Widerstrebend nickte er, zog sein Pferd scharf herum und ritt zum Tor hinaus. Seine Männer folgten ihm. Izack war jedoch noch nicht zufrieden, rief seine Kavallerie zur Ordnung und hetzte den fliehenden Gegnern hinterher. Die Al-Arynaar folgten ihm.
Jemand legte dem Unbekannten eine Hand auf die Schulter. Er drehte sich um und sah Hirad, der sich an ihn lehnte. Blut lief dem Barbaren übers Gesicht und tropfte aus Nase und Ohren, und doch lächelte er, auch wenn sein Blick etwas getrübt war.
»Was soll das denn jetzt?«, fragte der Unbekannte.
»Ich wollte doch unseren Sieg mit eigenen Augen sehen«, erwiderte Hirad.
Er schwankte leicht, und der Unbekannte stützte ihn unter den Achseln.
»Komm schon, alter Junge, du musst verarztet werden.«
Überall im Kolleg waren jetzt Jubelrufe zu hören. Auf den Mauern umarmten sich Elfenmagier und Julatsaner, unten auf dem blutigen Schlachtfeld schüttelten sich Krieger der Al-Arynaar und Magier die Hände. Sie waren zu erschöpft, um auch nur ein Wort zu sagen. Auf dem Weg zur Krankenstation gesellte sich Auum zum Unbekannten und Hirad. Er führte den benommen dreinschauenden Rebraal, Duele und Evunn gingen neben ihnen. Beide hatten blutende Schnittwunden davongetragen. Bei den Göttern, war nicht buchstäblich jeder verletzt worden?
»Wir haben es geschafft«, sagte Rebraal.
»Hast du daran je gezweifelt?«, fragte Hirad.
»Aber natürlich«, gab Rebraal zu.
Hirad lächelte. »Das muss sich ändern, falls du jemals zum Raben gehören willst.«
Thraun saß vor der Krankenstation und starrte hinein. Hirad löste sich vom Unbekannten, kniete sich neben den Wolf und zauste seinen Pelz.
»Danke, Thraun. Da hast du mich wohl mal wieder gerettet, was?«
Der Wolf starrte ihn an, Verstehen glomm in seinen Augen. Er leckte Hirads Gesicht.
»Du bist ein großes Risiko eingegangen. Du kannst doch zurückkommen, hoffe ich?« Er legte beide Hände an den Kopf des Wolfs und sah ihm in die Augen. »Hör zu, Thraun. Erinnere dich.«
Thraun wich jaulend zurück. Dann knurrte er, legte den Kopf schief und trottete davon.
Hirad sah ihm noch einen Augenblick nach, dann ließ er sich nach drinnen führen.
Vuldaroq beendete die Kommunion mit Heryst und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Die Sonne wärmte seinen feisten Leib. Gute und schlechte Nachrichten waren im Laufe des Morgens eingegangen, und er war aufgeregt. Zuerst einmal hatten Izacks Kavalleriemagier an Heryst gemeldet, dass die Entsatztruppen völlig aufgerieben worden waren. Nur eine Handvoll verbündeter Krieger befand sich, abgesehen von Izack, noch auf dem Schlachtfeld. Sie standen jetzt unter Blackthornes fragwürdigem Befehl.
Die Warterei auf neue Nachrichten war unerträglich gewesen, und als die Meldungen dann endlich gekommen waren, just in dem Augenblick, als er sich zu einem frühen Mittagessen begeben wollte, waren sie besser gewesen, als er gehofft hatte. Izack, die Elfen und der Rabe hatten gesiegt. Das Herz von Julatsa war geborgen, und die Xeteskianer zogen sich zurück.
Es war nicht der Sieg, der seine Stimmung so sehr gebessert hatte. Wäre Julatsa gefallen, er hätte es nicht einmal unbedingt bedauert. Doch das Kolleg stand, und noch besser war, dass sich der Siegespreis noch dort befand. Mehr noch, Heryst hatte gesagt, dass er keine weiteren Truppen mehr entbehren konnte, und es war völlig klar, dass Izack nicht der Mann war, der den Raben festnehmen würde.
Nun gut, dann lag es bei Dordover, das Richtige zu tun. Vuldaroq läutete mit der Schelle, die neben seinem Stuhl bereitstand, und wartete auf den Diener.
»Die Reserve«, sagte er. »Schickt sie mit Höchstgeschwindigkeit nach Julatsa. Ich schreibe einen Brief an die amtierende Hohe Magierin. Eine der Unsrigen muss in den Schoß des Kollegs zurückgeführt werden.«
Dystran konnte immer noch nicht glauben, was er sah. Er starrte das Heer der Wesmen an, das sich vor seinem Kolleg sammelte. Sie achteten sehr darauf, außerhalb der Reichweite von Sprüchen zu bleiben, schlugen Zelte auf, zündeten Lagerfeuer an und bauten Rammböcke und Sturmleitern. Er schüttelte den Kopf, stützte die Ellenbogen auf die Mauer und rieb sich mit den Händen übers Gesicht.
Nicht nur die ungeheure Anzahl der Männer, die sich dort draußen versammelt hatten, versetzte ihn in Erstaunen, sondern auch die Art ihres Angriffs. Sie hatten nicht wie in früheren Jahren auf einen Schlag ihre gesamte Kraft in die Schlacht geworfen, um mit Sprüchen und Pfeilen zurückgeschlagen zu werden.
Vielmehr hatten sie eine Weile Beleidigungen herübergebrüllt, und jetzt dies. Sie feierten vor seinem Südtor ein Fest. Viel schlimmer hätte es kaum kommen können, zumal seine Kommunionsmagier ihm soeben von der endgültigen Niederlage in Julatsa berichtet hatten. Seine Truppen waren aufgerieben worden und flohen nach Süden.
»Vielleicht sollte ich für jede kleine Gunst des Schicksals dankbar sein«, sagte Dystran.
»Wie bitte, Mylord?«, fragte Suarav.
»Wenigstens bringt Chandyr ein paar Leute mit zurück.«
»Wir können sie von unseren Wällen fernhalten, Mylord«, versicherte Suarav ihm.
»Wie viele kampfbereite Männer haben wir jetzt in der Stadt, Hauptmann?«
»Zweihundert, höchstens dreihundert.«
»Und wie viele erfahrene Magier?«
»Etwa vierzig, Mylord.«
Der Hauptmann war sichtlich besorgt, sein Gesicht hatte nichts Aufmunterndes. »Sie haben dort draußen drei-oder viertausend Kämpfer. Sie fürchten die Magie, lassen sich davon aber nicht aufhalten. Wenn sie unsere Mauern bezwingen oder unsere Tore aufbrechen, und ich zweifle nicht daran, dass sie sich sehr viel Mühe geben werden, es zu schaffen, dann werden sie die Stadt heimsuchen wie der Tod in Person, versteht Ihr? Ich schlage vor, Ihr lest die Aufzeichnungen über ihre normale Taktik nach. Das könnte Euch etwas sagen.«
»Ja, Mylord.«
»Ein Glück, dass in den Katakomben noch eine Gruppe Dimensionsmagier arbeitet. Ich frage mich, wann die nächste Konjunktion kommt.«
Sie waren in Feierstimmung, auch wenn die große Zahl der Gefallenen ihre Fröhlichkeit dämpfte. Sechzig Krieger und zwanzig Magier der Al-Arynaar waren tot. Weitere zwanzig würden den Heimweg nach Calaius nicht mehr schaffen. Auch Kommandant Vale war am Tor gefallen. Er hatte sich über einen Elf geworfen, als ein Spruch eingeschlagen war, und die volle Wucht der Magie mit seinem Körper abgefangen. Die Al-Arynaar würden ihn dafür immer in Ehren halten. Auum, Duele und Evunn hatten nur überlebt, weil sie außerordentlich gut aufeinander eingespielt waren. Sie waren drei der fünf noch lebenden TaiGethen. Nur ein einziges Krallenjägerpaar hatte die Kämpfe überstanden. Es hatte sich zurückgezogen und trauerte um die Toten.
Dennoch herrschte am Tisch im Speisesaal ein Gefühl von großer Zufriedenheit. Hirad saß dort in der Mitte der Rabenkrieger – nur die schlafende Erienne fehlte – mit Verbänden auf Kopf und Brust und einem Becher Wein in der Hand. Rebraal war anwesend, der unter dem Verbandmull kaum zu erkennen war, außerdem Auum mit seiner Zelle und Pheone.
»Ilkar sieht uns zu«, sagte Denser.
»Das will ich doch hoffen«, sagte Hirad. »So was mache ich nicht für jeden.«
»Fühlst du dich besser, nachdem es jetzt überstanden ist?«, fragte der Unbekannte. »Oder bist du immer noch wütend?«
Hirad kicherte. »Irgendwie schon. Ich bin jedenfalls froh, dass wir hier die Xeteskianer verprügelt haben. Das waren wir ihnen schuldig.«
»Sie haben bezahlt«, sagte Thraun unvermittelt.
»Ich bin fast bereit, dir jedes Wort zu glauben«, entgegnete Hirad. »Kannst du dich noch an alles erinnern?«
Thraun sah ihn beunruhigt an und schüttelte den Kopf. »Nicht genau«, erklärte er. »Aber es … es kam mir richtig vor.«
Der Unbekannte zog die Augenbrauen hoch. »Wirklich? Ich dachte, diese Seite sei dir verschlossen. Warum hast du es getan?«
»Hatte keine Wahl.« Thraun sah wieder Hirad an. »Manchmal müssen wir tun, was wir fürchten, um die zu retten, die wir retten müssen. Und wir müssen mit den Schmerzen zurechtkommen, die wir in uns spüren.«
»Was siehst du mich dabei an?«, wollte Hirad wissen.
»Sie haben bezahlt«, wiederholte Thraun.
Hirad hob beide Hände. »Ich will sehen, was ich tun kann.«
»Was wird jetzt aus den Al-Arynaar und den TaiGethen?«, warf Darrick ein. Alle sahen ihn an.
»Heim«, erklärte Auum. »Ich hasse dieses Land.«
Kein Lächeln hatte um seine Lippen gespielt, doch Hirad lachte. »Wie immer kurz und bündig. Und du, Rebraal?«
»Es gibt so viel zu tun, so viel in Ordnung zu bringen. Denk nur an die Krieger und Magier, die wir verloren haben. Wir müssen unseren Orden wieder aufbauen, sonst kann es noch einmal geschehen.«
»Das glaube ich nicht.«
»Wir haben auch beim ersten Mal geglaubt, es könne nicht wieder geschehen«, wandte Rebraal ein.
»Ich hab’s kapiert«, erwiderte Hirad. »Unbekannter? Wie wär’s mit einer Reise nach Süden?«
»Versuch mal, mich davon abzuhalten, Barbar. Ich habe eine Frau und einen Sohn, die ich bald wiedersehen will.«
»Dann sollten wir alle auf die Reise gehen«, sagte Denser. »Erienne wird Lyannas Grab auf Herendeneth besuchen wollen, genau wie ich.«
»Wie geht es Erienne?«
Denser schnitt eine Grimasse. »Ich habe nicht die geringste Ahnung. Hat sie ihre Schlacht mit dem Einen gewonnen? Ich bezweifle es. Ist ihr bewusst, was sie heute getan hat? Vermutlich schon. Aber wer weiß schon, wie sie sich fühlen wird, wenn sie erwacht?« Er sah traurig in die Runde. »Einige Teile ihres Bewusstseins sind mir verschlossen. Uns allen. Wie Thraun schon sagte, wir müssen uns mit den Schmerzen abfinden, die wir in uns tragen. Ich glaube, jetzt ist sie an der Reihe.«
»Was ist da eigentlich mit ihr und dem Herzen passiert?«, fragte Hirad.
Pheone schaltete sich ein. »Als das Herz in der Grube steckte, wurde es … infiziert, könnte man sagen. Das Mana bei der Bergung war das Einzige, was die Infektion aufhalten konnte, es hat sie aber zugleich aufblühen lassen. Erienne hat die Infektion zurückgedrängt und durch sich selbst geleitet, um sie auszulöschen, während wir das Herz geborgen haben. Julatsa wird für immer in ihrer Schuld stehen. Und in eurer auch.«
»Nein, sag das nicht. Wir haben nur getan, was Ilkar wollte«, wandte Hirad ein. »Das ist uns genug.« Er hielt inne. »Also gut, wenn es keine Gegenstimmen gibt, wird der Rabe nach Süden reisen. Du wirst wohl keine Einwände haben, General. Schließlich wollen dir hier alle den Kopf abreißen.«
»Nicht nur mir, sondern uns allen. Ich geb’s zu, es ist eine verlockende Aussicht zu schlafen, ohne das Gefühl zu haben, dass die Axt schon über mir schwebt.«
Hirad schob den Stuhl zurück und stand auf. »Ist das nicht seltsam? Wir haben die letzten – wie viele waren es noch? – sechs oder sieben Jahre damit verbracht, dieses lächerliche Land vor allem zu retten, was es vernichten wollte, und zum Dank dafür wollen sie uns hinrichten. Vielleicht sollten wir überhaupt nicht mehr zurückkommen.«
»Ihr wärt auf Calaius willkommen«, sagte Rebraal.
»In einer Stadt«, fügte Auum hinzu, und endlich einmal zog er die Mundwinkel leicht nach oben. »Ich bin nicht sicher, ob der Regenwald schon für euch bereit ist.«
»Wir denken drüber nach«, erwiderte Hirad. »Aber jetzt brauche ich etwas frische Luft.«
Damit schlenderte er aus dem Refektorium. Er war völlig erschöpft, und seinem Gefühl nach hätte es später Abend sein können, doch es war noch früh am Nachmittag. Er wanderte zur Hülle des Herzens und betrachtete die Gravuren. Stolz erhob sich die etwa achtzig Fuß hohe Säule in den Himmel. Traurig dachte er daran, dass Ilkar die Wiedergeburt seines Kollegs nicht mehr hatte erleben können, doch irgendwie war er sicher, dass sein Freund es wusste. Julatsa würde ihn nie vergessen.
»Das ist für dich, alter Freund«, sagte er. »Wir haben es für dich getan. Hoffentlich gefällt es dir.«
Hirad kratzte sich am Verband und wanderte zum Tor, um zu sehen, ob er noch etwas tun konnte. Den Grund wusste er selbst nicht, aber er hatte das Gefühl, es sei richtig. Izacks Kavallerie und die Überreste der Stadtwache patrouillierten auf den Wällen, einige Al-Arynaar passten bei den zerstörten Toren auf, falls doch noch ein Angriff kommen würde. Hirad bezweifelte es allerdings. Izack hatte die Xeteskianer aus der Stadt gejagt, und die Streifen hatten berichtet, dass die Gegner sich formiert hatten und nach Süden zogen, zurück nach Xetesk.
Die Stadt da draußen musste unterdessen mit dem zurechtkommen, was sie sich selbst aufgebürdet hatte. Es wäre interessant zu beobachten. Allerdings würden die Elfen wohl nicht eigens bleiben wollen, um die Abrechnung mitzuerleben.
Das dumpfe Pochen im Kopf ließ etwas nach, als hätte ihm jemand Balsam übers Gehirn gegossen. Wärme, der Geruch von feuchter Luft und der Anblick von weißem Stein erfüllten seine Sinne. Er spürte die Luft auf einem Flügel und die Berührung der Verwandten nach der langen Abwesenheit. In der Ferne hörte er die Begrüßungsschreie. Er hätte nicht gedacht, dass er das noch einmal würde hören können.
Hirad lächelte und wandte sein Gesicht der warmen Sonne zu.
»Endlich daheim, alter Freund«, sagte er. »Endlich daheim.«
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in:
JAMES BARCLAY: Drachenlord