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Dreizehntes Kapitel

Es war der zweite Tag des Wettlaufs nach Norden, nach Julatsa. Die Abenddämmerung brach an, doch Auum und seine wieder vollzähligen Tai dachten nicht an Rast. Von neuem Mut beflügelt lief er mit Duele und Evunn an seiner Seite durch die Schatten, die ihm Sicherheit boten. Tual hatte ihnen ihr Lächeln geschenkt, und auch Yniss hatte ihnen beigestanden, denn Evunn war, wie Sian es vorhergesagt hatte, wieder aufgewacht. Körperlich war er ganz der Alte, nur seine Erinnerungen blieben verschwommen. Sobald sie Zeit dazu hatten, würden sie ihm berichten, was er verpasst hatte.

Gegen Mittag hatten sie sich vom Verband der übrigen Elfen getrennt und Rebraal die Führung überlassen, um sich in einem weiten Bogen, ungesehen von allen feindlichen Spähern, rückwärts zu bewegen. Sie hatten erst geruht, als sie die Nachhut der Xeteskianer erreicht hatten. Krallenjäger hatten sie ständig begleitet, sie vor Angriffen geschützt und ihnen ein Bild der Lage vermittelt. Jetzt liefen sie, unterstützt von zwei Paaren, etwa eine Meile hinter den letzten Wächtern oder Spähern der Feinde. Sie konnten sicher sein, dass die Hausgeister und Meuchelmörder der Feinde sich eher auf das Gebiet vor ihnen konzentrierten. Einige Meuchelmörder hatten in der vergangenen Nacht tatsächlich versucht, ins Lager der Elfen einzudringen. Ihre sterblichen Überreste hatten die Elfen in der Morgendämmerung kurz vor den äußersten Wachposten des xeteskianischen Lagers deponiert.

Auum empfand nichts für diese Leute. Die Krallenjäger wollten sich für die getöteten Gefährten rächen. Dieses Gefühl konnte er zwar verstehen, doch es war nicht die Art der TaiGethen, und auch den Al-Arynaar entsprach es nicht. Die Krallenjäger waren anders und verstanden sich darauf, ihrer Wut einen Ausdruck zu geben, ohne sich selbst zu gefährden. Die Bindung der Paare sorgte dafür, dass ihre Sinne stets scharf blieben und die Entscheidungen immer eindeutig waren. Auum konzentrierte sich unterdessen darauf, die Reihen der Xeteskianer so weit wie möglich zu dezimieren, um den Al-Arynaar zu helfen.

Vor ihnen gingen links und rechts die Krallenjägerpaare mit raschem Schritt. Die Tai-Krieger mussten sich im Dauerlauf bewegen, um nicht den Anschluss zu verlieren. Keiner von ihnen brauchte einen Fährtenleser, um den Xeteskianern zu folgen. Selbst ein Blinder hätte die Spuren der Wagenräder, Füße und Hufe erkennen können. Auch Unrat lag herum. Diese Menschen wussten nicht zu schätzen, was ihre Götter ihnen geschenkt hatten. Eine zerbrochene Gürtelschnalle, ein Stück Tuch, ein schartiger, verrosteter Dolch. Er hatte so viel gesehen, dass es ihn kaum noch überraschte.

Stetig und verstohlen schlichen sie sich an die Nachhut an. Es waren zehn Männer, jeweils zu zweit und eine halbe Meile weit ausgeschwärmt. Die Krallenjäger hatten berichtet, dass die Marschierenden ringsum von Wachen begleitet wurden, seit die Kavallerie vorausgeschickt worden war. Es war eine vernünftige Maßnahme, überlegte Auum, auch wenn er von militärischen Manövern nicht viel verstand. Das war allerdings auch nicht nötig. Ihm reichte die Gewissheit, dass die von der Hauptgruppe abgesetzten Männer die Bedrohung nicht wahrnehmen konnten und daher verwundbar waren.

Wie das lahme Reh in der Herde. Schutzlos. Leichte Beute.

Er ließ seine Zelle anhalten. Vor ihnen wand sich ein Fluss, den die feindliche Truppe gerade überquert hatte, durch sumpfige Niederungen zwischen einer Reihe kleiner Hügel, auf denen dichte Büsche, Farn und Bäume wuchsen. Sie hatten bis Sonnenuntergang gewartet, und jetzt war die richtige Gelegenheit gekommen.

Auum sprach mit ihnen ein Gebet an Yniss, der sie beschützen sollte, und an Tual, die vor allem von den Krallenjäger verehrte Göttin des Regenwaldes, die ihnen den Weg weisen sollte.

»Wir dürfen keinen Lärm machen«, ermahnte er die Gefährten. »Unsere Jaqrui-Beutel bleiben geschlossen, und die Krallen müssen ihre Stimmen dämpfen. Wir sind nur wenige. Wir können den Feinden Schaden zufügen, um unseren Brüdern, den Al-Arynaar, zu helfen, und damit die Krallenjäger Genugtuung erfahren, aber die Feinde dürfen uns nicht hören. Vor ihren Magiern und Hausgeistern gibt es kein Entrinnen.«

»Wir kennen unsere Ziele. Wir greifen an.«

Die Krallenjägerpaare gaben nicht zu erkennen, ob sie es gehört hatten und einverstanden waren. Sie blieben einen Augenblick reglos stehen, und dann rannten sie fort, ein Paar direkt nach vorn, das zweite nach rechts. So blieb es den Tai überlassen, die linke Flanke zu besetzen.

»Vorsicht mit den Bogen«, fügte Auum hinzu. »Schießt nur, wenn ihr sicher seid, dass ihr den Feind mit einem Schuss töten könnt.«

Er zog die beiden Kurzschwerter und rannte durch hüfthohes Gras zu einem von Farn überwuchertem Hügel, während Duele und Evunn mit gespannten Bogen jeweils fünf Schritte links und rechts und zehn Schritte hinter ihm folgten.

Auum ging äußerst vorsichtig, übte mit den Füßen möglichst wenig Druck auf die Erde aus und suchte bei jedem Schritt einen sicheren Stand. Der trockene Boden mochte für den Unvorsichtigen verräterisch sein, doch der im Regenwald geborene Elf konnte auf ihm stehen, als hätte er massiven Fels unter sich. Er schlich durch den Farn, passte seine Bewegungen der Wachstumsrichtung an und schob die Stängel zur Seite, statt sie zu zertreten. Hinter dem Hügel fiel das Gelände steil zu einem schlammigen Nebenfluss ab. Er schätzte die Lage ein, während er sich dem Wasserlauf näherte. Das schwindende Licht störte ihn nicht, er fand stets festen Untergrund für seine lautlosen Schritte.

Schließlich stieg er wieder auf den Hügel, hielt kurz inne und sah sich um. Links stand eine Baumgruppe, auch dort fiel das Gelände ab, und durchs hohe Gras zogen sich deutliche Fußspuren. Am tiefsten Punkt der Mulde verschwand gerade eine Gestalt in einem Wäldchen. Er hob die Hand, deutete auf die Spuren und rannte nach links los, den Abhang hinunter und die Augen nach rechts gerichtet.

Jetzt konnte er beide sehen. Sie liefen gemächlich zwischen den Bäumen einher, die nach den Stürmen, die sie beinahe zerstört hätten, endlich wieder ausschlugen. Die Männer gingen dicht nebeneinander und blickten nur nach vorn; sie freuten sich offenbar auf die nächste Rast. Da der Himmel schon recht dunkel war, konnte es nicht mehr lange dauern. Sie würden jedoch nie mehr im Kreise ihrer Freunde ausruhen.

Auum wurde langsamer und bog wieder nach rechts ab, um sich den Feinden zu nähern. Er streckte eine Hand mit drei abgespreizten Fingern aus. Duele und Evunn verstanden den Befehl und schlossen rasch auf, bis sie auf gleicher Höhe mit ihm waren. Duele hatte den Bogen gespannt und war bereits in Schussweite, hatte aber noch kein gutes Ziel. Evunn suchte noch, vielleicht war er noch nicht ganz so angriffslustig wie seine beiden Tai-Brüder.

Auum war der Ansicht, dass er seine Brüder vermutlich nicht einmal brauchen würde. Vor ihm war das Gelände eben, und er konnte sich fast geräuschlos bewegen. Er hörte die Männer reden, ihre leisen Stimmen übertönten das Rauschen des Windes in den Bäumen, die Laute der Nagetiere und Raubtiere. Am Fuß eines Baumes, dessen dicker Stamm von Rehen geschält worden war, blieb er stehen und lauschte. Die Feinde bemerkten nicht, was um sie her im Gange war. Immerhin sahen sie sich um, sobald ihre Augen sich auf die Dunkelheit eingestellt hatten, und überprüften das Gelände hinter ihnen und auch den Weg, den sie gekommen waren.

Die Tai konnten im Dunklen sehen wie am Tage.

Auum ließ den Gegnern zehn Schritte Vorsprung, nickte Duele zu seiner Rechten zu und griff an. Inmitten der Bäume wurden alle Geräusche gedämpft und trugen nicht weit. Kein Zweig knackte unter seinem Fuß. Als er noch vier Schritte entfernt war, bekam einer der beiden eine Gänsehaut und wollte sich umdrehen.

Auum sprang, drehte sich in der Luft und streckte das rechte Bein vor. Er traf die Wange des Mannes und unterdrückte mit seinem Stiefel, der den Mund streifte, den Schrei des Gegners. Der TaiGethen landete neben dem zweiten Mann und stieß ihm ein Kurzschwert von unten ins Kinn, um durch den Gaumen hindurch das Gehirn zu treffen. Er zog die Klinge heraus und wollte den Ersten erledigen, aus dessen Brust inzwischen jedoch schon zwei Pfeile ragten.

Duele und Evunn trotteten herbei und zogen ihre Pfeile aus dem Toten, säuberten sie und steckten sie wieder in die Köcher. Auum zeigte ihnen nickend, in welche Richtung sie gehen wollten, und die Zelle machte sich auf den Weg.

Frisches Blut besudelte die Erde. Nicht ein Vogel war erschrocken aufgeflogen.

 

Thraun vermisste Eriennes Nähe, ihre Haare und die Berührung ihrer Haut. Er war bedrückt, weil er ihr nicht mehr helfen konnte – und weil sie ihn offenbar nicht mehr brauchte. Sie brauchte keinen von ihnen. Er behielt die letzte Berührung im Herzen, als sie die Hand auf seine Wange gelegt und ihn leicht geküsst hatte. Dann hatte sie ihn ebenso allein gelassen wie Denser. Er war verletzt gewesen, aber jetzt tat sie ihm vor allem unendlich leid, weil er spürte, welche Qualen sie litt.

Nicht nur, dass ihre Bewegungen ruckartig und irgendwie unsicher waren. Nicht nur, dass sie sehr wenig sprach, abgesehen von Forderungen, dass sie anhalten, essen oder trinken wollte. Vor allem aber hatte er ihr in die Augen geblickt und das Toben in ihr erkannt, das sogar Denser entgangen war. Jede Zelle ihres Körpers kämpfte, um das Eine im Zaum zu halten. So blieb ihr kaum noch Kraft, um mit den Gefährten zu reden.

Andererseits ging es ihr jetzt besser, weil sie die Rabenkrieger wieder spüren konnte. Wenn Thraun sie aus der Nähe betrachten konnte, verriet ihm eine winzige Berührung oder ein kleines Zucken des Mundwinkels, dass sie immer noch zu ihnen gehörte.

Nachdem sie gegessen und das Feuer gelöscht hatten, übernahm Thraun die erste Wache. Es war dunkel, doch seine Wolfsaugen konnten die Schatten durchdringen, und seine Witterung war gut. Der starke Geruch des Holzrauchs hing als einer von unzähligen Düften in der Luft, die er unterscheiden konnte. Die Rabenkrieger schliefen, und das war ihm Kompliment genug. Stumm saß er in ihrer Mitte.

Er fragte sich, aus welcher Richtung die Bedrohung kommen würde. Der Rabe hatte als Lagerplatz eine Stelle ausgewählt, die einen passablen Sichtschutz von Land her oder auch aus der Luft bot, doch es gab keine Geländeformation, die irgendeine Himmelsrichtung wirklich gut zu decken vermochte. Die Gefahr konnte also aus jeder Richtung kommen und jeden treffen. Jeden außer Erienne. Die Gegner würden sie nicht töten, sondern gefangen nehmen. Alle anderen Rabenkrieger schwebten in Lebensgefahr.

Wen würden sie als Ersten auswählen? Immer vorausgesetzt natürlich, die Meuchelmörder, die der Herr vom Berge befehligte, trieben sich in der Nähe herum.

Thraun stand auf und lief vorsichtig durchs kleine Lager zu den angebundenen Pferden. Er blieb bei ihnen stehen, beobachtete und lauschte den Strömungen der Nacht. Bei der ersten Begegnung mit ihm waren Pferde stets nervös. Diese hier hatten sich inzwischen an ihn gewöhnt, spürten aber immer noch, dass etwas Nichtmenschliches in ihm steckte. Damit musste er leben.

Damit und mit vielen anderen Dingen, die er frustrierend fand – wie etwa seine mangelnden sprachlichen Fähigkeiten und die Lücke, die zwischen Denken und Ausdrucksvermögen klaffte. Wie die Liebe für seine wölfische Seite, die er immer noch in sich trug, die er jedoch verleugnete, weil er die Gefangenschaft im Tierkörper fürchtete. So viele Dinge, die er nicht richtig verstand.

Eine Weile blieb er bei den Pferden stehen und genoss ihre Wärme und Unschuld. Sie verlangten so wenig, doch ihnen entging fast nichts, was sich in ihrer Umgebung abspielte. Es kam ein Moment, in dem sie alle ihre Aufmerksamkeit auf den gleichen Punkt richteten. Thraun entfernte sich von ihnen und kehrte rasch zu seinen Freunden zurück. Denser warf sich unruhig hin und her, doch angesichts seiner Ängste hätte er dies jederzeit auch ohne äußeren Anlass tun können. Andererseits …

Thraun näherte sich Denser mit sehr leisen, gleichmäßigen Schritten und beobachtete, wie der Magier mit den Armen herumfuchtelte, als wehrte er einen unsichtbaren Gegner ab. Und wirklich, Thraun sah ein Flimmern vor der Hitze des erloschenen Lagerfeuers. Er ging rasch an Densers Füßen vorbei, bückte sich und packte den Magier im Tarngang. Er erwischte ihn ein wenig zu hoch und korrigierte den Griff. Anschließend gab Thraun ihm einen Stoß, und der Meuchelmörder wurde sichtbar. Er lag mit dem Gesicht am Boden, und Thraun presste ihm ein Knie in den Rücken. Der Gestaltwandler knurrte.

»Messer«, sagte er.

Der Meuchelmörder streckte den rechten Arm aus. Der Dolch, den er in der Hand hielt, trug irgendeinen Überzug. Thraun schlug ihm aufs Handgelenk, und der Mann ließ die Waffe los.

»Du wirst dich nicht bewegen«, befahl Thraun. Er packte den Hals des Meuchelmörders fester und zog ihn hoch, den zweiten Arm legte er um ihn und fasste ihm in den Schritt. »Der Rabe!«, hallte Thrauns Stimme durchs Lager.

Sie erwachten, rollten sich herum und standen auf, schüttelten die Benommenheit ab und zogen die Schwerter aus den Scheiden, die neben ihnen bereitgelegen hatten.

»Formiert euch!«, rief der Unbekannte.

Rasch nahmen die vier Rabenkrieger ihre Positionen rings um die noch schlafende Erienne ein, die sich erst jetzt langsam regte. Thraun zog seinen Gefangenen in den Ring hinein.

»Wo ist dein Freund?«, fragte Hirad.

Der Meuchelmörder sagte nichts. Thraun zog ihn näher an sich und verstärkte mit beiden Händen den Druck.

»Rede.« Wo einer war, lauerte ein Zweiter, der sie wahrscheinlich ganz aus der Nähe beobachtete. »Rede.«

Der Meuchelmörder stöhnte leise vor Schmerz. Denser drehte sich um, und Thraun sah, wie enttäuscht er war.

»Takyn?«, sagte er. »Du?«

»Tut mir leid, Denser«, erwiderte der Meuchelmörder. »Ich habe meine Befehle.«

»Das finde ich wirklich allerliebst.« Er drehte sich wieder herum. »Jetzt schicken sie schon meine Freunde, um mich umbringen zu lassen.«

»Du hättest dir eben bessere Freunde aussuchen müssen«, meinte Hirad.

»Habe ich ja getan.«

»Ja, Denser, das hast du getan.«

»Ruf den Zweiten her«, sagte der Unbekannte. »Entweder das, oder er kann dir beim Sterben zusehen.«

»Ich mach das schon«, sagte Denser. »Gythen, ich weiß, dass du da bist. Komm heraus, komm zu uns. Lass uns die Sache klären, dann können wir alle überleben.«

»Sei nicht so naiv, Denser«, ertönte eine Stimme aus der Dunkelheit. Thraun versuchte sofort, die Richtung festzustellen. »Du könntest uns doch unmöglich ziehen lassen. Das weiß Takyn so gut wie ich.«

»Dann komm her und greif uns an«, sagte Hirad.

Ein trockenes Kichern war die Antwort. »Ich hatte wirklich nicht die Absicht, im Einsatz zu fallen.«

Denser wandte sich an Takyn. »Es sieht so aus, als stündest du kurz davor, niemals Kinder zeugen zu können. Rufe ihn, dann töten wir dich nicht.« Er hielt inne. »Wie konntest du nur diesen Auftrag übernehmen? Bedeuten dir unsere gemeinsamen Jahre in der Ausbildung denn überhaupt nichts?«

»Das ist lange her«, sagte Takyn zwischen gedehnten, schnaufenden Atemzügen. Thraun hütete sich, seinen Griff zu lockern. »Du hast deinen Weg gewählt, und ich den meinen.«

»Aber das hier?«

»Ich muss zugeben, dass ich nie damit gerechnet hätte, auf den Raben angesetzt zu werden, aber man muss auf alles gefasst sein. Du weißt ja, wie es ist. Du hättest auch einen guten Meuchelmörder abgegeben.«

»Wie schmeichelhaft.«

»Denser«, unterbrach ihn der Unbekannte scharf. »Das hilft uns nicht weiter. Gythen, dies ist deine letzte Chance, mit deinem Freund und nicht allein zurückzukehren. Zeige dich.«

Hirad wandte sich über die Schulter an Takyn, sprach aber laut genug, dass der andere es hören konnte.

»Denser mag davor zurückschrecken, dich zu töten, aber das sieht bei mir anders aus. Wer Dystran gehorcht, trägt eine Mitschuld am Tod meines Freundes. Ihr alle seid dem Tode geweiht.«

»Hirad, bitte«, sagte Denser.

»Ich sag ihm nur, wie es ist.«

Erienne regte sich wieder und erwachte endgültig. Sie sah sich von einem Ring von Männern umgeben, Spannung lag in der Luft. Thraun beobachtete ihre Verwirrung, die sich in Gereiztheit verwandelte. Das Licht, das in ihren Augen aufgeflackert war, verblasste rasch wieder.

»Meuchelmörder«, sagte er.

»Dann bringt sie um und lasst mich schlafen.« Ihre Stimme war heiser und trocken. »Ich brauche Ruhe.«

»Wir kümmern uns darum, Liebste«, sagte Denser. »Es gibt aber noch einen. Du könntest ihn für uns ausfindig machen. Du hast die nötige Begabung.«

Jetzt stand sie auf. Thraun sah ihren Ausdruck, als sie ihren Mann betrachtete: Verachtung und Ungeduld waren es vor allem, doch sie schob die fremden Gedanken beiseite. Thraun sah ihren inneren Kampf – und die Angst, als ihr Gesicht sich entspannte.

»Ich weiß nicht, ob ich aufhören kann, wenn ich damit anfange.« Ihre Stimme war leise und verzweifelt.

»Was diskutieren wir noch?«, fragte Hirad. »Ich sehe es wie Erienne. Denser, mach mal Licht, dann schlitze ich diesen Bastard auf, und anschließend reiten wir weiter. Der Feigling im Schatten kann ja versuchen, mit unseren galoppierenden Pferden Schritt zu halten. Wie gefällt euch das?«

»Immer der Diplomat«, sagte Denser.

»Wir haben einen Kodex«, ermahnte ihn der Unbekannte.

Hirad reagierte empört. »Meuchelmörder haben keine Ehre. Also werde ich ihnen auch keine erweisen.«

Er fuhr herum und war schnell genug, um sogar Thraun zu überraschen. Takyn zuckte heftig zusammen. Der Barbar setzte ihm über dem Herzen die Schwertspitze auf die Brust. »Glaubt ihr wirklich, irgendjemand wäre schnell genug, um mich davon abzuhalten?«

Erienne schaltete sich ein. »Falls es dir hilft, dich zu entscheiden: Wer du auch bist, du bewegst dich langsam zu meiner Rechten. Du hast dich gerade unter einem überhängenden Ast hindurch geduckt. Bei deinem nächsten Schritt wirst du an einem kleinen Haufen Laub vorbeikommen. Densers Feuerkugeln sind in wenigen Sekunden bereit. Du kommst nicht rechtzeitig aus der Aufschlagzone heraus. Du bist dran.«

Eriennes Kopf sank auf die Brust, und sie schlang die Arme um den Oberkörper, als hätte sie starke Schmerzen. Außerhalb des Kreises tauchte Gythen auf.

»Es tut mir leid, Takyn«, sagte er.

Takyn zuckte mit den Achseln. »Genau deshalb wollen wir sie ja haben.«

»Kein Wort mehr«, warnte Hirad.

»Gythen, lass deine Waffe fallen«, sagte der Unbekannte, als Darrick zielstrebig auf den Meuchelmörder zuging. »Sofort. Hirad, nimm dein Schwert herunter.«

»Unbek…«

»Sofort!«

Thraun verstand Hirads widerstreitende Gefühle. Seine Achtung vor dem großen Krieger rang mit seinem Wunsch, Rache zu üben. Er ließ das Schwert sinken und trat dicht vor Takyn.

»Du kannst von Glück reden.«

Erienne, die neben Thraun stand, schwankte auf einmal. Er stieß Takyn zu Hirad hinüber und fing sie auf, ehe sie zusammenbrach. Der Unbekannte überbrückte den Moment der Unsicherheit.

»Darrick, bring ihn hier herüber. Denser, du kannst die Feuerkugeln vergessen. Ich glaube, die beiden brauchen jetzt eher einen tiefen Schlaf. Wir übrigens auch. Unser Wächter kann auch sie bewachen.« Er nickte zufrieden. »Damit dürften wir für heute Nacht wohl sicher sein.«

 

Erienne sank in einen kurzen, von Albträumen unterbrochenen Schlaf. Sie fühlte sich einsamer als je zuvor im Leben. Seit sie sich wieder zum Wachbewusstsein durchgerungen hatte, um in ihrem ganzen Körper den Kampf mit dem Einen aufzunehmen, hatte sie immer wieder Cleress gesucht. Die alte Elfenfrau wollte oder konnte ihr jedoch nicht antworten. Gelegentlich glaubte sie, ihre Stimme zu hören, doch sie war viel zu schwach. Kaum mehr als ein Flüstern im Sturm. Vielleicht hatte das Eine die alte Elfenfrau ausgeblendet. Vielleicht war sie auch schon tot.

Es war sehr anstrengend gewesen, die Struktur des Mana anzupassen, bis sie Gythen sehen konnte, auch wenn es im Grunde ein ganz einfacher Spruch war. Das Eine davon abzuhalten, auf diesem Weg seine ganze Macht ins Spiel zu bringen, war dagegen überhaupt nicht einfach.

Die Al-Drechar hatten sie in der kurzen Zeit, die sie bei ihr gewesen waren, so viel gelehrt. Die Möglichkeiten und Gefahren, die so dicht beieinanderlagen. Die Spaltung Ihres Geistes, die notwendig war, um die Sprüche unter Kontrolle und gleichzeitig den Deckel auf dem Quell des Einen zu halten. Die wichtigste und grundlegende Lektion hatte sie jedoch nie verstanden, obwohl die Elfenfrauen vom ersten Tag an, seit sie in Eriennes Bewusstsein hatten eindringen dürfen, immer wieder darauf zurückgekommen waren. Jetzt begriff Erienne es.

In ihrer ganzen Ausbildung in Dordover hatte sie gelernt, dass die Magie ein Element sei, das ausschließlich durchs Bewusstsein beherrscht werde. Es müsse mithilfe der Vorstellungskraft in Formen gegossen werden, um die gewünschte magische Konstruktion zu schaffen. Körperliche Müdigkeit sei die Folge der geistigen Anstrengungen. Diese Lehren hatte sie auf den Umgang mit dem Einen übertragen.

Das Eine war jedoch ganz anders. Wenn man es für eine gewisse Zeit kontrollieren wollte, musste man den ganzen Körper einsetzen. Muskeln spannten und Sehnen dehnten sich, Blutgefäße schwollen an unter dem Druck des Bluts, das in ihnen pochte. Das Mana war nur ein Element einer viel umfassenderen Magie. Ihr stand nun auch alles andere offen, und das Eine zog den Brennstoff der Magie an wie das Licht die Motten. Aus Erzablagerungen, aus dem Wasser und der Luft, aus grünem Blattwerk und der lebendigen Erde kam seine Kraft – überall herrschte Leben, das man nutzen konnte.

Das Problem war nur, dass diese Magie nicht im Gleichgewicht war. Das Mana löste sich nach einem Spruch auf und kehrte in seinen natürlichen, ungeordneten Zustand zurück. Das Eine jedoch blieb erhalten und war dadurch viel gefährlicher. Es konnte nicht einfach zu Strukturen geformt werden, die man wieder auflöste, wenn man sie nicht mehr brauchte. Die Strukturen des Einen, die dessen Kraft kontrolliert entluden, mussten durch eine bewusste Anstrengung wieder zerlegt werden. Wenn dies unterblieb, nahmen sie weiterhin die Energie der Elemente aus der Umgebung auf, hielten sich damit über längere Zeit selbst am Leben und lösten sich nur widerwillig auf. Nun konnte Erienne auch verstehen, warum Lyanna so bösartige Stürme und Katastrophen entfesselt hatte, die sich so lange gehalten hatten.

Ihre arme Tochter war einfach zu klein gewesen, um die körperliche Kontrolle über das Eine zu erlangen, und ihr Geist allein hatte die Kraft, die er barg, nicht eindämmen können. Dies hatten die Al-Drechar ihr von Anfang zu erklären versucht, doch Erienne war über Lyannas Tod viel zu bekümmert gewesen, um ihnen Gehör zu schenken.

Eriennes Körper war stärker, aber immer noch war es knapp. Sie hatte sich gefragt, warum die Al-Drechar sie nicht gebeten hatten, das Eine als Teil ihres ganzen Wesens statt nur ihres Geistes anzunehmen. Auch dies verstand sie jetzt. Zuerst musste ihr Bewusstsein trainiert werden. Das Bewusstsein war der Stopfen in der Flasche und gab beim Wirken der Sprüche zugleich den Brennpunkt vor. Der Körper konnte erst ausgebildet werden, wenn der Geist fähig war, den Korken wieder aufzusetzen.

Ihr Körper kanalisierte das Eine in einem endlosen Kreislauf. Es fand keinen Ausgang und konnte keine neue Energie hereinziehen, solange Erienne nicht die Flasche öffnete, um einen Spruch zu wirken. Ihr ganzer Körper drängte sie, diesen geistigen Korken zu entfernen, weil damit die aufbrandende Energie, die sie in sich spürte, freigesetzt wurde. Was für eine Paradoxie. Ausgerechnet in dem Augenblick, in dem sie die größtmögliche Kontrolle über die Magie des Einen ausüben musste, war es für sie und ihre Umgebung am gefährlichsten.

Jetzt endlich verstand sie ganz und gar die Herausforderung, der sie sich stellen musste. Sie würde die Energie des Einen niemals völlig kontrollieren oder beherrschen. Sie konnte diese Kraft nur zurückdrängen, und wann immer sie einen Spruch wirkte, musste sie genau das richtige Maß an Energie einsetzen, um das Ziel zu erreichen. Dieses Maß hing davon ab, wie stark ihr Körper und wie frisch ihr Geist waren. Zu viel Energie im falschen Augenblick, und sie wäre verloren. Zu wenig, und der Spruch würde versagen.

Erienne entspannte sich ein wenig, da sie jetzt den Weg überblicken konnte, der vor ihr lag. Auch war ihr bewusst, dass sie sich für das hassen würde, was aus ihr werden musste. Die Spinne würde immer da sein, würde immer einen Weg suchen, sie zu zerbrechen. Und doch konnte sie nicht dagegen ankämpfen und sie nie besiegen. Sie konnte nur einen Käfig bauen und das Untier nach ihren Vorstellungen wirken lassen.

Endlich schlief sie friedlich. Ihr letzter Gedanke, bevor sie am nächsten Morgen von den Rufen geweckt wurde, war der, dass sie sich selbst noch einmal ganz neu kennen lernen musste. Sie hoffte, ihr Mann würde es verstehen.