Elftes Kapitel
Sooft er es ihnen auch bei Übungen, in der theoretischen Ausbildung und jetzt, im Einsatz, gesagt hatte – das letzte Mal am frühen Morgen, als er die Wachtposten kontrolliert hatte, und am Abend zuvor, als sie ihr Nachtlager aufgeschlagen hatten –, sie hatten nicht auf ihn gehört. Sie hörten nicht, obwohl es so wichtig war. Jetzt würden deshalb Männer im Schlaf sterben.
Chandyr hatte keine Zeit mehr, seine Rüstung anzulegen. Er schnappte sein Schwert und rannte aus dem Zelt. Er hatte nicht schlafen können und war schon drauf und dran gewesen, nach draußen zu gehen und die Kochfeuer zu organisieren, da er noch im Morgengrauen aufbrechen wollte.
Der erste Angriff hatte ihn auffahren lassen, und er hatte das Zelt vor der zweiten und dritten schweren Attacke verlassen. Es hatte keine Vorwarnung gegeben, und das reizte ihn zur Weißglut.
»Lauft zur Grenze des Lagers!«, rief er, während er über eine Feuergrube sprang und zu dem Bereich rannte, wo das grüne lysternische Mana-Feuer Zelte und hilflose Soldaten verbrannte. »Die Kavallerie soll aufsitzen. Verdammt, was habe ich euch immer wieder erzählt!«
So schnell, so zielstrebig waren sie gekommen. Genau wie er es in seinen Warnungen beschrieben hatte. Seine Magier bereiteten Schilde und Angriffssprüche vor, während er dem Donnern der Hufe lauschte.
»An die Waffen!«, brüllte er. »Verdammt, wo waren die Wachen?«
Einige gescheite und wendige Kämpfer gesellten sich zu ihm. Vor ihm herrschte Chaos. Sechs Zelte brannten, Männer flohen in alle Richtungen. Viel zu viele kamen ihm entgegen.
»Kehrt zurück. Glaubt ihr denn, es wäre vorbei?«
Dann kamen sie. Vierzig oder mehr Reiter in enger Formation, zweifellos durch einen defensiven Schild geschützt. Es würde ein einziger Vorstoß werden, genau wie er es prophezeit hatte. Izack war bei ihnen; er erkannte den Anführer sofort, doch die Reiter hätten ihn nicht gebraucht. Sie ritten dreißig Längen weit in sein Lager und hackten alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellte. Die Magier, die nicht mit dem Schild beschäftigt waren, ließen Heißen Regen niedergehen und zermalmten die xeteskianischen Kämpfer und die kostbare Ausrüstung mit Kraftkegeln. Die Hälfte der Reiter warf brennende Fackeln und setzte weitere Zelte und Wagen in Brand.
Sie hatten kehrtgemacht und verließen das Lager, ehe der erste Spruch ihren Schild flackern ließ und ehe die ersten Pfeile flogen.
Einen Mann trafen sie. Einen einzigen. Chandyrs eigene Kavallerie galoppierte zu seiner Rechten und nahm die Verfolgung auf. Sie würde die Angreifer nicht erwischen, die inzwischen hundertfünfzig Längen entfernt waren. Das war mehr, als sie brauchten. Wenigstens würde es sie davon abhalten, noch einmal anzugreifen, was Chandyr aber ohnehin für unwahrscheinlich hielt.
Er blieb stehen und warf sein Schwert auf den Boden.
»So ein Mist!«
Verzweifelt rieb er sich übers Gesicht und stemmte die Hände in die Hüften. Er kochte vor Wut und war aufgebracht wie noch nie in seinem Leben. Rings um ihn tobte das Chaos. Helfer brachten Verletzte in Sicherheit, Männer riefen Befehle und bemühten sich, die Feuer zu löschen, und die Schreie der Sterbenden stiegen zum dunklen Himmel empor, in den sich das erste graue Morgenlicht tastete.
Ein mit Ruß verschmierter Leutnant, der eine klaffende Wunde auf der Wange hatte, kam angerannt und salutierte zackig. Sein Gesichtsausdruck passte nicht zum schmissigen Auftritt, und Chandyr starrte ihn böse an.
»Versucht gar nicht erst, es schönzureden«, sagte er. »Diese Katastrophe hätte vermieden werden können, wenn Ihr Idioten mir zugehört hättet. Macht Meldung.«
»Wir haben sie nicht gesehen«, erwiderte der Offizier mit bebender Stimme. »Wir haben Wachen im Umkreis aufgestellt, aber sie haben uns im Dunklen überrascht.«
»Wohin haben die Wachen denn geschaut?«, fauchte Chandyr. »Diese Sprüche konnten unsere Zelte nur erreichen, weil die Magier am Ring unserer Wachen vorbeigekommen sind. Um das zu verhindern, hatte ich ihn eingerichtet. Wollt Ihr mir wirklich sagen, Ihr habt sie nicht gesehen? Kein Einziger? Warum gab niemand Alarm? Erklärt mir das.« Er baute sich vor dem Untergebenen auf. »Männer sind gestorben, weil Ihr nicht aufgepasst habt. Ihr wart bei Eurer Wache nachlässig, und die Männer unter Eurem Befehl haben ihre Pflicht nicht getan oder gar geschlafen. Ihr seid von Euren Aufgaben entbunden. Beim Marsch bleibt Ihr bei den gewöhnlichen Soldaten. Euer Sergeant wird befördert. Wegtreten.«
»Sir.«
Chandyr wandte sich an seine übrigen Stabsoffiziere, die sich klugerweise hinter ihm versammelt hatten.
»So etwas darf nicht noch einmal passieren. Ich kann es mir nicht leisten, wegen Eurer Unfähigkeit und Pflichtvergessenheit Männer zu verlieren. Wir machen keinen Ausflug, wir haben es mit verzweifelten Gegnern und einigen sehr fähigen Anführern zu tun. Wenn wir nicht jeden Tag und jede Stunde unser Bestes geben, können wir diesen Kampf immer noch verlieren.
Also gut, ich will einen umfassenden Bericht über unsere Verluste an Männern und Gerät, und ich will umgehend die vorgeschobenen Wachen in meinem Zelt sehen, die es geschafft haben, vierzig Kavalleristen zu übersehen, vorausgesetzt, sie leben noch. Ausführung.«
Chandyr sah ihnen nach, machte auf dem Absatz kehrt und wanderte langsam durch sein Lager.
Sobald Thraun bestätigt hatte, dass Cleress wieder Erienne unterstützte, hatte der Rabe das Elfenlager verlassen. Sie ritten in leichtem Galopp, der Gestaltwandler trug auch dieses Mal die ohnmächtige Magierin des Einen und presste sie an seine Brust. Um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, musste er sich im Sattel zurücklehnen. Es war unbequem, aber er konnte damit leben.
Rasch legten sie, auf geradem Wege nach Norden reitend, einige Meilen zurück. Krallenjäger hatten sie eine Weile begleitet, entfernten sich aber bald wieder, um das Gelände zu erkunden. Es war ein Zweitagesritt bis Julatsa. Zwei Tage, in denen sie alles überstehen mussten, was Xetesk auf sie loslassen konnte. Außerdem mussten sie die Feinde davon abhalten, die Al-Arynaar-Magier anzugreifen, von denen nun alles abhing.
Die Rabenkrieger waren immer noch nicht ganz bei Kräften. Darrick war bleich und schwach und erholte sich nur langsam. Hirad hatte Schwierigkeiten mit dem rechten Handgelenk, und alle waren müde, nachdem sie zu wenig Schlaf bekommen hatten. Nur Thraun war wohlauf, aber sein Herz war schwer. Er wollte zuversichtlich sein und glauben, Erienne werde es schaffen, doch in Wahrheit machte er sich Sorgen. So stark sie auch war, er fürchtete, sie besäße nicht mehr die nötige Willenskraft.
Es war seltsam. Er konnte sich nicht erklären, warum ihm diese Gedanken kamen oder warum er überhaupt so viel wusste. Er hatte keinerlei magische Ausbildung genossen und verstand natürlich auch nichts von der Magie des Einen. Irgendetwas gab ihm jedoch Gefühle ein, die ihm zu verstehen halfen. Vielleicht lag es im Wesen der Einen Magie selbst. Auch er war der Natur sehr nahe und konnte ihre Kräfte wittern. Welche Verbindung aber zwischen seinem angeborenen Gespür für Gefahren und den Stürmen bestand, die in Eriennes Geist tobten, wusste er nicht zu sagen.
Seit sie in den Katakomben ohnmächtig geworden war, hatte sie sich nicht mehr bewegt, und er hatte geschworen, nicht von ihrer Seite zu weichen, bis sie erwachte. Die anderen Rabenkrieger verstanden es, und Denser war entlastet und konnte sich um andere Dinge kümmern, obwohl auch er geistig wie körperlich stark belastet war.
Thraun hatte es geschafft, Erienne zu füttern, indem er ihre Kehle streichelte und den automatischen Schluckreflex auslöste, und er hatte sie auch gesäubert. Er wollte sie nicht hilflos liegen lassen. Er und Denser hatten Eriennes Würde gewahrt und sich, jeder auf seine Weise, verzweifelt bemüht, alles zu tun, was ihr helfen konnte.
Er fragte sich, ob sie seine Gegenwart trotz ihrer Bewusstlosigkeit spüren konnte. Er hoffte es und wünschte sich, es könne ihr ein wenig Trost spenden und ihr die Kraft geben, gegen das Eine anzukämpfen. Denser ritt neben ihm, der Unbekannte und Hirad waren vorn und hatten Reservepferde an ihre Sättel gebunden. Darrick bildete die Nachhut, auch er führte ein Reservepferd.
Den ganzen Morgen über blieben sie unbehelligt. Der Himmel war seit der Morgendämmerung klar und hell gewesen, und glücklicherweise hatten sich auch nicht die Schatten der unberechenbaren Hausgeister gezeigt. Allerdings gaben sich die Rabenkrieger keinerlei Illusionen hin. Den Meuchelmördern, die zu Fuß unterwegs waren, konnten sie vielleicht entkommen, doch Chandyr war kein Dummkopf, und wenn er imstande war, Reiter auszuschicken, vor allem Magier mit Leibwachen und Meistermagier mit Hausgeistern, dann würde er es tun, um die Rabenkrieger bis zur Dämmerung zu beschatten und anzugreifen, wenn sie am verwundbarsten waren.
Sie gingen ein großes Risiko ein, waren aber der Ansicht, dass es sich nicht vermeiden ließ. Die Elfen kamen ohne sie schneller voran und wollten ohnehin einen anderen Weg nach Julatsa nehmen. Da sie bis spät in die Nacht marschieren wollten, war noch nicht einmal klar, wer von ihnen als Erster ankommen würde. Thraun fragte sich unterdessen, ob der Rabe es überhaupt schaffen würde.
Um ein Haar hätte er Erienne vor Schreck fallen lassen, als ein Schauder durch ihren Körper lief. Zweimal zuckte sie und murmelte etwas Unverständliches.
»Denser! Der Rabe muss anhalten!«
Er zügelte sein Pferd und stieg mit ihr ab, um sie in der warmen Nachmittagssonne ins trockene Gras zu legen. Die Rabenkrieger sammelten sich um ihn und starrten auf sie hinab.
»Was ist los?« Denser kniete nieder.
»Sie hat sich bewegt«, erklärte Thraun.
Jetzt lag sie wieder reglos im Gras. Denser war skeptisch.
»Bist du sicher?«
Thraun nickte. »Sie kämpft. Cleress kämpft.«
»Was heißt das?«, wollte Hirad wissen.
»Rabenkrieger, wir wollen nicht das Wichtigste außer Acht lassen«, schaltete sich der Unbekannte ein. »Wir rasten und essen etwas. Es scheint ohnehin ein guter Zeitpunkt dafür zu sein. Hirad, Darrick, überprüft die unmittelbare Umgebung. Wenn wir uns hier nicht verteidigen können, ziehen wir weiter, bis wir eine passende Stelle gefunden haben.«
Thraun schaute nicht auf, während sich seine Freunde an die Arbeit machten. Er sah nur Erienne an und betete, dass sie endlich wieder die Augen öffnete.
Erienne verstand nicht, was Cleress von ihr verlangte. Es klang, als sollte sie sich dem Feuer ausliefern, das sie doch löschen wollte, oder als sollte sie sich in das Loch stürzen, das sie nicht schließen konnte. Sie begriff es nicht.
Das hieße doch, mich dem Einen zu unterwerfen, Cleress. Das ist die endgültige Niederlage.
Es könnte sein, Kind, aber ich glaube nicht, dass wir eine andere Möglichkeit haben.
Warum nicht?
Meine Kräfte schwinden, Erienne. Ich bekomme nicht genug Ruhe, und die Kraft in dir ist überwältigend. Ich sehe, wie dein Mann dir beisteht, und es muss auch ihn viel Kraft kosten. Er ist jung, aber ich bin alt und müde, Erienne. Meine Bemühungen, das Eine zurückzuhalten, sind viel anstrengender als der Schild, den er wirkt. Er tut, was er kann, aber es reicht nicht aus. Auch ich tue alles, was ich kann, aber ich schiebe doch nur das Unausweichliche ein wenig hinaus.
Erienne hätte nie geglaubt, Cleress einmal so mutlos zu sehen. Die Verzweiflung in der Stimme der Al-Drechar jagte einen entsetzlichen Schauer durch ihr Unterbewusstsein, in das sie sich zurückgezogen hatte, um den Feind in ihrem Innern zu bekämpfen.
Du darfst mich nicht allein lassen.
Ich werde bei dir sein, solange ich atme.
Erienne dachte einen Augenblick darüber nach. Das Rad hatte eine volle Umdrehung beschrieben. Lange hatte sie die Al-Drechar gemieden und sich geweigert, sie in ihr Bewusstsein eindringen zu lassen, damit sie ihr helfen konnten. Sie hatte geglaubt, sie könne das Eine allein zurückhalten und unterdrücken, bis es verging und starb. Schließlich waren die Schmerzen unerträglich geworden, und sie hatte sich gezwungen gesehen, der Al-Drechar Zugang zu ihrem Bewusstsein zu geben. Die alten Elfenfrauen hatten ihr sehr geholfen, doch die Zeit war zu kurz gewesen. Selbst als Myriell noch gelebt hatte, war es ein ständiger Kampf gewesen, und sie hatte sich davor gefürchtet, allein zu sein. Jetzt war nur noch Cleress da, und Erienne wusste inzwischen genau, warum sie die Einsamkeit in ihrem Kopf fürchtete. Die Spinnenbeine packten fester zu, sobald sie allein war.
Sie sehnte sich nach der geistigen Berührung durch Cleress und nach den beruhigenden Liebkosungen. Sie war nicht sicher, ob sie es ertragen konnte, wenn Cleress ebenfalls starb. Die Spinne allein zu bekämpfen, diese Last, die sie niederdrückte, diese Spinnenbeine, die ihr Bewusstsein umklammerten, es zerquetschen und brechen wollten. Sie schauderte heftig.
Das ist gut, sagte Cleress. So werden deine Freunde merken, dass du hier drinnen noch lebst.
Das ist überhaupt nicht witzig, Cleress. Es ist kein Spiel.
Das weiß ich doch, Kind! Aber du musst die Kontrolle über dich selbst zurückgewinnen. Du musst dich erinnern, dass du aus Fleisch und Blut bist. Vergiss das nie.
Was ändert das schon?
Wenn du vergisst, wer du bist, holt dich das Eine.
Du weißt doch, dass ich es nicht schaffe.
Ich weiß nur, dass du es versuchen musst, Kind. Sonst sind wir verloren. Ich beschütze dich, solange ich kann, aber du musst verstehen, dass mich die Kraft, die durch deinen Körper fließt, rasch überwältigen wird. Du musst bereit sein, wieder auszubrechen. Du bekommst nur diese eine Chance. Willst du es tun?
Aber es gibt noch so viel, das du mich lehren musst.
Du musst es allein lernen. Das ist der schwerste aller Wege.
Cleress, muss es wirklich jetzt sein? Hast du nicht noch etwas mehr Zeit?
Kind, ich bin jeden Morgen nach dem Schlaf überrascht, dass ich die Dämmerung überhaupt noch sehe. Es muss jetzt geschehen, solange ich noch genug Willenskraft habe.
Erienne ließ eine Weile ihren Gedanken freien Lauf und spürte, wie sich das Eine wand und mit aller Kraft festhielt, doch sie und Cleress widerstanden gemeinsam dem Klammergriff. Im Grunde hatte sie die ganze Zeit schon gewusst, dass es nicht ewig so weitergehen konnte. Jetzt war also der Zeitpunkt gekommen. Nur die Lösung schien ihr der reinste Wahnsinn zu sein.
Dann lass es uns versuchen.
Erienne, vergiss nicht, dass du deinen ganzen Körper einsetzen musst. Du musst dir jedes Körperteils bewusst sein. Spüre deinen ganzen Körper mit dem Bewusstsein und zwinge das Eine, sich in dir zu verteilen.
Es gefällt mir nicht, ein Stopfen in einer Flasche zu sein.
Glaube mir, wenn es funktioniert, dann wirst du erheblich mehr sein als ein Stopfen, Erienne.
Und wenn nicht?
Hoffentlich kann der Rabe schnell genug rennen.
Ich wünschte, du könntest dabei meine Hand halten.
Ah, Erienne, wie gern würde ich dich bei all deinen Qualen in den Arm nehmen, aber ich fürchte, das ist jetzt nicht mehr möglich. Merk dir eines. Wenn du tust, was ich dir sage, und erfolgreich bist, wird der körperliche Kontakt wieder möglich sein.
Dann heißt es Abschied nehmen?
Wir werden sehen, Kind. Wir werden sehen.
Danke.
Nein, du bist diejenige, der wir alle danken sollten. Du bist die Einzige, die alles retten kann, was uns lieb und teuer ist.
Warum?
Du wirst überleben, und du wirst es sehen. Der Tag ist nicht mehr fern, glaube ich.
Du kannst mich doch nicht so hängen lassen! Erienne war empört.
Mehr als dies kann ich nicht sehen. Benutze es, um deine Entschlossenheit zu stärken. Erienne, es wird jetzt wehtun. Das Eine wird gegen dich ankämpfen, und die Menschen, die dir am nächsten stehen, werden es verstehen müssen. Es ist eine Macht, gegen die du nicht mit deinem Geist allein angehen kannst, noch nicht, und deshalb brauchst du die Substanz deines ganzen Körpers. Das ist eine Technik, die wir alle gelernt haben. Für dich wird es schwierig, weil du allein bist. Vergiss nicht, du bist eine Magierin des Einen, und dazu gehört alles, was dich ausmacht.
Ich glaube, ich habe es verstanden.
Gut. Dann lass uns beginnen.
Cleress brach den direkten Kontakt ab. Erienne zog sich in ihr Unterbewusstsein zurück und sah sich um, betrachtete das Eine, das dort lauerte und entschlossen war, ihren Willen zu brechen. Auf einmal aber bäumte es sich auf, zog sich zurück und schrumpfte irgendwie, als Cleress es mit der ganzen Kraft, die ihr noch geblieben war, zurücktrieb.
Jetzt oder nie. Erienne nahm ihren ganzen Mut zusammen und brach aus ihrem Unterbewusstsein hervor. Sie spürte die Schmerzen im ganzen Körper, den sie verlassen hatte und den sie nun zurückerobern wollte. Sie schauderte, und das Eine reagierte und wehrte sich und wollte sich ausdehnen, um sie in den kleinen Raum zurückzudrängen, auf den sie beschränkt gewesen war. Nur wenn sie dort war, konnte es seine Kraft völlig entfalten. Kaum zu glauben, dass es kein bewusstes Lebewesen war, sondern nur eine Kraft, die automatisch auf ihr Bewusstsein und ihren Körper reagierte. Es war sicher nicht falsch, sich das Eine dennoch als bewusstes Wesen vorzustellen. Dies half ihr, sich zu konzentrieren.
Während Cleress sie vor dem Einen abschirmte, kämpfte Erienne sich ins Wachbewusstsein hoch. Es war, als müsste sie aus großer Tiefe nach oben schwimmen, als hätte sie die Luft angehalten, und ihre Lungen drohten zu platzen. Es musste gelingen, sie musste die Oberfläche erreichen. Das Gefühl kehrte in ihre Finger und Zehen zurück. Sie spürte die Luft im Gesicht und hörte irgendwo Stimmen. Wütend kämpfte sie gegen das Eine an, das ihr den Weg versperrte, und stieß es weiter zurück. Einen Moment spürte sie auch, wie Cleress sie unterstützte.
Dann war Cleress wieder fort, und das Eine drohte Erienne abermals zu umhüllen. Dieses Mal war sie jedoch vorbereitet, und obwohl es ihre Muskeln und ihre Gedanken quetschte, schwamm sie weiter nach oben und trotzte der Kraft, die sie wieder hinabziehen wollte. Der Körper der Spinne flachte sich ab und breitete sich aus, und die Beine suchten erneut ihr Bewusstsein zu packen, als Erienne sich ausdehnte, bis sie alle Extremitäten ihres eigenen Körpers erreichte.
Es ging viel zu langsam. Wieder schauderte sie, dann kitzelte etwas ihre Haut, und sie spürte den leichten Druck der Kleidung. Das Wachbewusstsein war jetzt ganz nahe. Die Geräusche des Lebens drangen an ihre Ohren, sie roch Pferde und das Gras und … Denser.
Keuchend atmete sie tief ein und schlug die Augen auf.
Freude durchflutete Denser; es kam so überraschend, dass er beinahe auf sie gefallen wäre. Gerade rechtzeitig stützte er sich mit den Ellenbogen ab. Sie legte ihm die Arme um den Hals und küsste ihn leidenschaftlich, suchte seine Zunge mit der ihren. Dann ließ sie ihn sofort wieder los und legte sich hin, um ihn zu betrachten.
»Du bist zurück, Liebste, du hast es geschafft.« Sie konnte sein Lächeln nicht erwidern.
»Nein, Denser.« Sie seufzte, als hätte sie Schmerzen. »Vergiss nicht, dass ich dich liebe. Vergiss nicht, dass ich euch alle liebe. Was auch immer jetzt passiert.«
»Das verstehe ich nicht. Du bist wach, du hast gewonnen.«
»Es ist jetzt in mir«, erwiderte sie. »Es berührt mich überall. Bitte denk nicht schlecht von mir.«
»Wie könnte ich jemals …«
Ein Schatten schob sich über ihre Augen wie eine dunkle Wolke, die den Mond verdeckt. Als sie ihn wieder anschaute, waren ihre Augen kalt.