Sechzehntes Kapitel
Erienne hörte zu, solange sie es aushielt. Männer, die vor Karten standen und über die Zukunft anderer Männer entschieden. Wer leben und wer sterben sollte. Als ginge es lediglich um eine Apfelsine, die ein Kind auf dem Markt gestohlen hatte. Sie fragte sich, ob die Strategen sich jemals wirklich bewusst machten, was sie taten, denn ihre Befehle, diesen Mann hier und jenen dort zu postieren, konnten tatsächlich den einen verdammen und den anderen retten.
Wahrscheinlich war es ihnen nicht klar. Irgendwie konnte Erienne es ihnen nicht einmal vorwerfen, weil sie ähnliche Entscheidungen auch für sich selbst trafen. Wie Halbgötter führten sich diese Männer auf. Ohne überhaupt zu wissen, wozu sie fähig war, verfügten sie über Erienne. Die Männer erinnerten sich an ihre dordovanischen magischen Kräfte, die sie nun allerdings nicht mehr einsetzen konnte.
Erienne versuchte, es ihnen zu erklären, aber sie wollten nicht hören. Ihnen fiel dazu nur ein, dass sie ihr helfen würden, dass sie da sein würden, dass sie der Rabe wären. So ging sie schließlich ins Sonnenlicht hinaus und beobachtete die Bergung des Herzens. Die Wärme der Sonne spürte sie kaum, irgendwie fühlte sie sich ein wenig von allem entrückt. Der Grund dafür war ihr durchaus bewusst. Das Eine griff auch nach ihren Sinnen und hielt sie auf jede nur mögliche Weise von den Menschen fern, die sie brauchte. Es versuchte, ihr die Menschlichkeit zu rauben. Ihr Gehör, das Augenlicht, den Tastsinn. Alles war angegriffen.
Erienne sah den elfischen und julatsanischen Magiern zu, die sich rings um das Herz versammelten. Fast zweihundert stellten sich, mindestens vierzig Fuß von der Grube entfernt, in zwei konzentrischen Kreisen auf. Auch wenn Erienne die Wärme der Sonne nicht spürte, sie war ganz gewiss empfänglich für die Atmosphäre. Noch nie hatte sie beim Wirken eines Spruchs eine solche Spannung erlebt. Eigentlich hätten die Julatsaner zuversichtlich sein müssen, doch sie fürchteten einen erneuten Ausfall des Mana. Es käme einer Katastrophe gleich, wenn sich der Schatten jetzt verdunkelte.
Dila’heth stand neben Pheone und übermittelte deren Anweisungen an die Elfen. Erienne tastete sich zum Herz von Julatsa vor. Der Anblick brachte sie schlagartig wieder zu sich. Mit solcher Klarheit sollte sie das Mana eigentlich nicht sehen können. Es war beinahe, als wäre sie eine Julatsanerin. Dann kam ihr ein neuer Gedanke. Sie konnte sich jetzt auf jede Magie einstimmen. Die Magie war nur noch ein einziges Element, das für sie nicht mehr in die verschiedenen Kollegien und Überlieferungen gespalten war.
Mit einer beinahe voyeuristischen Erregung konzentrierte Erienne sich wieder auf das julatsanische Spektrum und erweiterte ihr Blickfeld, bis es auch die Magier erfasste, die sich rings um die Grube versammelt hatten.
Das Herz zeigte alle Anzeichen eines sterbenskranken Organs. Seine Energie strömte nicht mehr frei, sondern es pulsierte und schickte Erschütterungen durch den Mana-Strom. Es hatte nur noch wenig Energie und wurde durch den Schatten behindert, der ihm den letzten Rest der Lebenskraft nehmen wollte.
Es hätte ein strahlend gelbes Oval sein sollen, das alle julatsanischen Magier stärkte, doch es war nicht mehr als eine einsame, schmutzige Träne. Kein Wunder, dass die Julatsaner das Herz so dringend bergen wollten. Es musste an seine alte Position zurückkehren, damit es sich nicht weiter auflöste. Einer teilweise vom Schatten verdeckten Sonnenuhr vergleichbar, musste es bewegt werden, damit es wieder seinen Zweck erfüllen konnte. Anschließend mussten genügend julatsanische Magier ausgebildet werden, um seine Kraft auf Dauer zu erhalten. Pheone hatte Erienne gefragt, was sie von Gerens Theorie halte, und sie war der Meinung gewesen, dass er es beinahe richtig sah. Die Bergung des Herzens war nur der erste Schritt auf dem langen Weg der Genesung.
Mit großem Interesse beobachtete Erienne die Auswirkung des Mana auf die Elementarkräfte ringsum. Die Magie störte ihren natürlichen Rhythmus und regte die Natur an, ähnliche Formen hervorzubringen. Rings um das Herz waren diese Auswirkungen besonders stark und schwächten die natürlichen magischen Kräfte der Luft und der Erde. Auch die festen Gebäude, die den Hof umgaben, konnte Erienne als Hindernisse im Energiestrom spüren.
Es war eine starke Kombination der Elemente. Beinahe betörend. Sie konnte eines davon oder alle gleichzeitig benutzen. Auch wenn alle Kollegien untergingen, sie würde ihre Magie nicht verlieren. Sie konnte die einzige Magierin sein und den Titel tragen, der dem entsprach, was sie in sich trug. Das Eine, die Einzige.
Erienne drängte den Gedanken zurück und spürte sofort, wie der Druck des Einen nachließ. Sie beruhigte ihren Atem, bis er beinahe wieder normal ging, und konzentrierte sich auf die Magier, die inzwischen die Struktur für die Bergung schufen.
Wie viele andere Sprüche war auch diese Form im Grunde sehr einfach. Erienne nahm sie als achteckige Röhre wahr, deren Seitenflächen durch Streben aus pulsierendem Mana miteinander verbunden waren. Im Innern befanden sich ebenso viele Verbindungen zum Herzen, wie Magier am Spruch beteiligt waren.
Das Gegenstück dieser Verbindungen waren Mana-Säulen an der Außenseite des Schachts, die ebenfalls jeweils einen beteiligten Magier repräsentierten. Rasch und fehlerlos bauten sie die Struktur auf, jeder gab so viel Energie hinein wie seine beiden Nachbarn, um das Gleichgewicht nicht zu stören.
Als sie damit fertig waren, hielten sie inne. Erienne hörte, wie Pheone einige rasche Befehle gab und hier eine ausgefranste Ecke ausbesserte, dort an einer Seitenfläche die Struktur verstärkte. Als Pheone die wenigen Unvollkommenheiten behoben hatte, warteten sie wieder und beobachteten die trübe, aber immer noch machtvolle Gestalt des Herzens und vergewisserten sich, dass alles an seinem Platz war.
Jetzt wurde es schwierig. Auf Pheones Kommando strengten sich alle Magier gleichzeitig an und verstärkten den Energiestrom. Einige ballten die Hände zu Fäusten, andere hoben langsam die Arme, während sie im Geiste zupackten und das Herz quälend langsam nach oben zogen. Es bewegte sich und hob sich zögernd. Die Magier legten sich ins Zeug.
Erienne erforschte den Geist der Magier und sah, wie sehr sie dieser Aufwand an Mana-Energie erschöpfte. Sie mussten ihre ganze Kraft hineingeben, um die Gestalt zu halten, während der Schatten alles dämpfte, was sie taten. Ihre Bemühungen mussten genau aufeinander abgestimmt sein, jeder Magier musste mit genau dem gleichen Tempo ziehen, das Gleichgewicht durfte nicht gestört werden. Jeder musste darauf achten, dass sein Beitrag die Struktur nicht seitlich unter Spannung setzte. Wo immer dies dennoch geschah, griff Pheone helfend ein, glich die Fehler aus und glättete den Strom. Sie war ein Naturtalent.
Als sie einen Ruck in den Elementarkräften spürte, die das Herz umgaben, konzentrierte Erienne sich wieder. Tief unten im Stein des Gebäudes, aus dem die Magier das Herz mit seinen unersetzlichen Mana-Strukturen bargen, entstand ein dunkler Fleck.
Angezogen vom starken Mana strömten die Energien der Erde, der Luft und der Steine spiralförmig empor, als wollten sie helfen, und imitierten den Umriss des Schachts. Dort unten war jedoch ein Makel, der sich am Fuß des Herzens rasch ausbreitete.
Erienne konnte nicht sagen, ob es Zufall oder eine direkte Folge der Sprüche war. Jedenfalls wuchs das zuerst noch winzige Loch in den natürlichen Energien rasch heran, griff auf das Herz über und verformte es, langsam zuerst, aber dann immer schneller. Eine Art Kettenreaktion entstand, das Herz verdunkelte sich weiter, tiefe Schatten sammelten sich auf seinem sowieso schon trüben Körper. Ohne es zu bemerken, fuhren die Magier damit fort, das Herz Handbreit um Handbreit zur Oberfläche zu ziehen.
Nein, sie bemerkten es einfach nicht. Ihr gemeinsamer Brennpunkt kam aus dem Gleichgewicht, aber keiner spürte etwas. Im ersten Moment reagierte Erienne panisch und spielte mit dem Gedanken, das schwarze Loch der natürlichen Energien zu absorbieren, um den Strudel zu verschließen, der den Brennpunkt der Magier aushebelte. Einen Herzschlag später war ihr klar, dass sie es nicht konnte. Dunkle Linien wuchsen, Schatten sammelten sich über dem Herzen von Julatsa.
Weiter hoben sie es an, völlig konzentriert auf die Röhre und den Zusammenhalt der gemeinsamen Magie, auf die Energiemenge, die sie einspeisen mussten. So angestrengt arbeiteten sie, dass ihnen entging, was ihren Bemühungen zuwiderlief. Ihre Geister waren verbunden und allein auf ihre Konstruktion ausgerichtet, und in ihrer gemeinsamen Versunkenheit konnten sie nicht wahrnehmen, was sonst jeder von ihnen für sich allein sofort bemerkt hätte.
Erienne konnte nichts tun, um das Vorrücken des Schattens abzubremsen. Am Fuß des Herzens war das Gelb jetzt völlig verschwunden. Grau herrschte dort vor, das mit jedem Wimpernschlag dunkler wurde.
»Pheone«, sagte sie laut, um zu ihr durchzudringen. »Lasst die Struktur fallen, der Brennpunkt ist im Ungleichgewicht.«
»So nahe«, stöhnte die Magierin. »Wir schaffen das.«
Der Spruch hielt sie genau wie alle andere in seinem Bann.
»Nein«, fuhr Erienne sie an. »Vertrau mir, hör mir zu. Brecht die Bergung sofort ab.«
»Wir haben es fast vollbracht, es geht jetzt ganz leicht.«
»Verdammt!«, fauchte Erienne. Ohne nachzudenken, griff sie mit ihrer Magie ein und drängte die Elementarkräfte zurück, die den Schacht umgaben. Sofort verdichteten sie sich und bekamen eine harte Kante. Im Zentrum des Schachts drohte die Dunkelheit das ganze Herz zu überfluten. Sobald es völlig verdunkelt wäre, würde die Röhre zusammenbrechen, und die Energie würde auf jeden in Julatsa ausgebildeten Magier zurückschlagen. Damit wäre das Kolleg endgültig zerstört.
Erienne hatte keine Zeit, an die Schmerzen zu denken, die sie den Magiern kurzfristig zufügen musste. Sie verstärkte die Kante noch weiter und spürte, wie das Eine heftig in ihr aufwallte. Es kostete sie fast ihre ganze Kraft, das Eine zu bändigen und gleichzeitig die Kante wie ein Messer durch die Mana-Stränge zu ziehen, die von außen am Schacht ansetzten, um nacheinander alle Magier von der Konstruktion zu trennen.
Auf einmal ging es ganz leicht, die julatsanische Magie war schwach und konnte ihr nichts entgegensetzen. Das Eine blitzte hell auf und verschlang das freigesetzte, ungeordnete Mana. Erienne hatte alle Mühe, es gebündelt zu halten, und visualisierte mit zunehmender Verzweiflung ein Messer, das im Wasser unermüdlich hin und her glitt.
Sobald die Mehrzahl der Magier vom Schacht abgeschnitten war, glitt das Herz wieder hinab. Die Konstruktion, die es hatte bergen sollen, löste sich von der Spitze her auf. Erienne führte ihr Messer über die Streben hinweg, während die Schwärze sich auf das Herz stürzte. Abrupt brach der Spruch in sich zusammen, und Erienne konnte mit letzter Kraft ihre Schneide zerstören. Dann öffnete sie die Augen und suchte Pheone, die ganz in der Nähe stand. Die Magierin schwankte und war für Erienne nur verschwommen zu sehen.
Irgendwo hörte sie Menschen rennen. Anderswo ertönten wütende Rufe und schmerzvolles Keuchen.
»Was hast du getan?«, fragte jemand empört. Pheone, dachte sie. Es musste Pheone sein. »Ich habe es gefühlt, es kann niemand außer dir gewesen sein. Wir waren so nahe daran. Was hast du nur getan?«
»Was ich getan haben?« Ihre Kräfte verließen sie. »Nicht viel. Ich habe euer Kolleg und euch alle gerettet. Mehr nicht.«
Dann taumelte sie und brach zusammen.
»Wie geht es ihr?«, fragte der Unbekannte.
Denser wandte sich von Eriennes Bett in der Krankenstation ab und zuckte mit den Achseln.
»Schwer zu sagen«, antwortete er. »Nicht mehr ganz so schlecht wie vor einer Weile. Ich glaube, es ist nur die Anstrengung, aber bisher hat sie kein Lebenszeichen von sich gegeben.«
Denser stand auf und blickte zur Tür. Beide Türflügel waren geöffnet und ließen das Nachmittagslicht und eine kühle Brise in das makellos saubere Gebäude. Die Wärme erreichte auch die vier belegten Betten in der für fünfzig Patienten ausgelegten Krankenstation. Drei Elfenmagier waren verletzt worden, als Erienne die Bergung des Herzens unterbrochen hatte. Wie bei Erienne konnte man auch bei ihnen schwer sagen, was mit ihnen geschehen war, wenngleich aus ganz anderen Gründen. Die Verletzungen durch Rückschläge bei gescheiterten Sprüchen waren immer schwer einzuschätzen.
»Komm mit«, sagte er und ging los. »Ich will jetzt nicht hier drinbleiben.«
»Bleibe ruhig bei ihr, Denser«, sagte der Unbekannte. »Wir schaffen die Vorbereitungen auch ohne dich.«
»Danke«, sagte er. »Aber dieser Ort weckt so viele Erinnerungen. Ich lasse sie in unsere Zimmer verlegen.«
Der Unbekannte nickte. Ihm erging es nicht anders, wenn er sich im Kolleg bewegte. Ein altes Schlachtfeld, das sie noch einmal aufgesucht hatten. Vieles war nach der Invasion der Wesmen wieder aufgebaut worden, und kein Blutfleck war mehr zu sehen. Doch die Erinnerungen waren frisch. In der Krankenstation hatten sich diejenigen gedrängt, die auf den Mauern und an den Toren verletzt worden waren. Dort hatte der Rabenkrieger Will Begman den Kampf um sein Leben verloren. Thraun weigerte sich strikt, sich dem Gebäude auch nur zu nähern. Nicht einmal für Erienne war er dazu bereit.
»Anscheinend hat sie die Magier gerettet, nicht wahr?«, fragte der Unbekannte.
»Sie hat alle gerettet«, bestätigte Denser. »Pheone sagte, das Versagen des Mana habe den gleichen Verlauf genommen wie bei den vorherigen Ausfällen. Sie hatten Glück, dass Erienne aufgepasst hat.«
»Ist das Mana inzwischen wieder da?«
»Anscheinend funktioniert es wieder, aber das hilft uns nicht weiter. Die Julatsaner und die Elfenmagier ruhen sich jetzt aus. Vor dem morgigen Tag kann keiner von ihnen einen Spruch wirken.«
»Das könnte uns teuer zu stehen kommen. Wahrscheinlich werden wir von Hausgeistern angegriffen.«
Die Warterei setzte allen zu. Die TaiGethen, die Krallenjäger und Izack versteckten sich in der Stadt, der Bürgermeister und der gesamte Stadtrat standen unter Beobachtung. Nachdem deren Verhalten im Grunde nur noch als Verrat bezeichnet werden konnte, wollte Darrick kein Risiko eingehen. Die Tore des Kollegs blieben geschlossen, und eine Staubwolke bewies, dass die anrückenden Xeteskianer die Stadt fast erreicht hatten.
Auf den Kollegmauern waren Späher verteilt, die meisten am Torhaus, wo Darrick, Hirad und Thraun beim unerschütterlichen Kommandanten Vale standen. Der Unbekannte und Denser stießen zu ihnen, auch sie hatten die Veränderung der Atmosphäre gespürt. Die Zuversicht des Morgens war dahin, jetzt herrschte düsteres Brüten vor. Sie hatten den größten Teil ihrer Schlagkraft verloren, obwohl der Feind noch nicht einmal direkt vor den Toren stand. Das Herz war immer noch begraben, und ohne Schutz durch Sprüche konnten sie sich mit Schwertern und Pfeilen allein nicht lange gegen die Feinde behaupten. Deren Streitmacht würde spätestens binnen einer Stunde vor der Tür stehen. Dabei waren es nicht einmal die gegnerischen Kämpfer, die ihnen die größten Sorgen bereiteten. Die Hausgeister konnten, wenn sie richtig eingesetzt wurden, über Sieg oder Niederlage entscheiden.
Als er die Treppe zum Turm des Torhauses hinaufstieg, fiel dem Unbekannten etwas ein.
»Wie stark fühlst du dich, Denser?«
Denser bekam ein Lächeln zustande. »Dann bist du auch darauf gekommen, was?«
»In diesem Moment.«
»Glaubst du, Darrick hat es übersehen?«
»Man sollte es nicht meinen, aber selbst große Generäle machen Fehler.«
Dieser nicht, dachte Denser. Oder jedenfalls nicht in dieser Hinsicht.
»Freiwillig hätte ich diesen Plan nicht in Erwägung gezogen«, sagte Darrick, »aber uns bleibt nichts anderes übrig. Wir haben hier einen gewissen Schutz und können sie beschäftigen, solange wir Pfeile haben, aber das ist auch alles. Die Gegner werden über magische Schilde verfügen, obwohl die Soldaten womöglich nicht so gut geschützt sind wie die Magier selbst. Es kommt darauf an, wie viele Magier sie haben, und wie viele davon der xeteskianische Kommandant einsetzen will, um die Mauern niederzureißen. Unsere Leute hier sind eingewiesen und wissen, dass sie auf magische Angriffe achten und sich im Notfall sofort zurückziehen müssen. Izack und Auum kennen ihre Aufgaben. Ich musste die berittenen Magier bei Izack lassen. Solange er die xeteskianischen Reiter beschäftigt, ist er einer unserer stärksten Trümpfe.«
»Und inzwischen stehen wir bloß hier herum und geben gute Ziele ab?«, fragte Hirad.
»Nein, Hirad. Du bleibst hier und gibst uns Kraft; und den Angreifern jagst du Angst ein. Deshalb ist der Rabe hier – damit er gesehen wird. Je mehr Sprüche sie auf die Mauern verschwenden, desto lieber ist es mir. Vorausgesetzt, Pheone hat sich mit ihrer Einschätzung der Abschirmung nicht grob verschätzt.«
»Was ist mit den Krallenjägern?«, wollte der Unbekannte wissen.
»Sie sind da draußen unterwegs«, sagte Darrick. »Aber da sie nicht einmal mit den TaiGethen viel reden, konnte ich nicht viel herausfinden. Alles, was sie tun, müssen wir als zusätzliches Geschenk nehmen.«
»Du weißt doch, was die Xeteskianer tun werden, sobald ihnen klar wird, dass wir keine Sprüche haben, oder?«, meinte Denser.
Darrick nickte. »Das ist mir bewusst. Ich habe die schnellen Bogenschützen der Al-Arynaar auf den Mauern postiert. Izack weiß, worauf er achten muss. Jede Ansammlung von konventionell abgeschirmten Magiern ist ein wichtiges Ziel.«
»Und wenn sie, sagen wir mal, vier Gruppen bilden?«, fragte Hirad.
»Um die Mauern ernsthaft zu gefährden, müssen mindestens zwanzig Magier gleichzeitig Sprüche wirken. Ich glaube nicht, dass sie noch genug haben, um vier solcher Gruppen zu bilden.«
»Sagen wir lieber, du hoffst es.«
»Hirad, wenn es nur eine Unbekannte in dieser Schlacht gäbe, wäre ich sehr glücklich.«
»Wenn du meinst.«
»Wir stehen hier über dem Schwachpunkt. Wir sind, wo wir sein müssen, und hier werden sie angreifen.«
Wie vorhergesagt, waren die Feinde tatsächlich binnen einer Stunde da. Sie marschierten durch die Straßen, die Kavalleristen sorgten für Ordnung. Kein Triumphgeschrei erhob sich bei ihrer Ankunft. Keiner der Bürger, die aus den oberen Stockwerken zuschauten, winkte, jubelte oder verfluchte die Eindringlinge. Es gab keine Lieder, keine Schmähungen und keine Jubelrufe. Beide Seiten hatten zu viel verloren, um unbeschwert ihren Gefühlen Luft zu machen. Doch die Eindringlinge kamen zielstrebig und siegesgewiss, und das versetzte den Unbekannten in Sorge. Die nächsten Augenblicke würden alles entscheiden.
Das Kolleg von Julatsa war eine Insel, umgeben von einem Meer aus Pflastersteinen. Vom Platz vor dem Kolleg führten Straßen zum Zentralmarkt, dem Kornspeicher, dem Händlerviertel und den Wohnbezirken im Norden. Ohne großes Aufhebens umzingelten die Xeteskianer unter den wachsamen Augen der Rabenkrieger, des Kommandanten Vale, seiner kleinen, aber treuen Garde und einer Handvoll Freiwilliger ihr Ziel. Die Al-Arynaar sahen mit unverhohlener Verachtung zu.
Darrick richtete sich unwillkürlich auf, als der feindliche General zum Torhaus geritten kam. Zwei Reiter mit weiß und dunkelblau geviertelten Parlamentärsflaggen begleiteten ihn, hinter ihm kam ein Schildmagier. Dieser General befehligte eine disziplinierte Truppe. Kein Getuschel gab es in seinen Reihen, die Kämpfer starrten nur auf ihr Ziel, und ihr Vertrauen in ihre überlegene Zahl war nicht zu übersehen.
»Ich dachte, wir sollten uns an Kommandant Vale oder eine Magierin namens Pheone wenden«, erklärte der Xeteskianer. »Jetzt aber, und dies ist keineswegs herabsetzend gemeint, stehe ich vor viel berühmteren Persönlichkeiten. General Darrick, es ist mir eine Ehre, die Bekanntschaft mit Euch zu erneuern.«
»Ich erinnere mich gut an Euch, Kommandant Chandyr«, erwiderte Darrick. »Allerdings spreche ich nicht für das Kolleg von Julatsa. Kommandant Vale steht hier rechts neben mir.«
»Ich bin Vale«, sagte der Kommandant. »Worüber wünscht Ihr mit mir zu sprechen?«
»Kommandant Vale, ich habe eine einfache Bitte. Öffnet Eure Tore. Führt alle, die dort drinnen sind, vom Gelände des Kollegs herunter. Euch wird nichts geschehen, Ihr sollt nur entwaffnet werden. Wir sind hier, um die Kontrolle über Julatsa zu übernehmen.« Chandyrs Stimme hallte weit durchs Kolleg. Vales Antwort war nicht minder energisch.
»Ihr müsst verstehen, dass es uns unmöglich ist, Eurer Aufforderung zu entsprechen« erwiderte Vale.
Der Unbekannte beobachtete den Wortwechsel. Dieser Mann würde sich keine Blöße geben. Bei den Beratungen hatte sich gezeigt, dass er genau wusste, was auf dem Spiel stand – nicht nur für Julatsa, sondern für ganz Balaia. Eine Schande, dass seine ehemaligen Ratsherren weit weniger gut im Bilde gewesen waren.
»Wer die Geschichte der Magie kennt, weiß genau, wie wichtig es ist, das Gleichgewicht zwischen den Kollegien zu erhalten«, fuhr Vale fort. »Jede Spielart der Kunst unterstützt alle anderen und schafft einen Ausgleich zwischen ihnen. Würden wir unser Kolleg verlassen, dann würde dies das Gleichgewicht unwiderruflich zerstören.
Unsere Gegenforderung ist ebenso einfach. Wir rufen dazu auf, diesen Konflikt zu beenden, und bitten alle um Hilfe, unser Kolleg wieder auf eine solide Grundlage zu stellen. Wir bitten für uns selbst darum, aber auch für unser ganzes Land, das, wie uns allen schmerzlich bewusst ist, wahrlich genug gelitten hat. Wenn wir nicht zusammenarbeiten, wie wir es bis vor gar nicht so langer Zeit noch getan haben, dann wird die Magie in unserem Land letzten Endes sterben.
Schließlich möchte ich auch alle xeteskianischen Magier an die persönlichen Konsequenzen für jeden julatsanischen Magier erinnern, falls Ihr das Herz des Kollegs zerstört. Ich spreche nicht aus eigener Kenntnis, doch ich habe die bedrückten Gesichter derjenigen gesehen, die sich ein Leben ohne Magie vorzustellen versuchten. Fragt Eure Magier, was sie am meisten fürchten. Es ist für alle das Gleiche. Können sie denn sehenden Auges ihre magischen Brüder diesem schrecklichen Schicksal ausliefern?«
Chandyr antwortete nicht sofort. Er war sich seiner Stellung als Kommandant sicher, aber dennoch klug genug, stets ein offenes Ohr für die Stimmung unter seinen Männern zu haben. So drehte er sich im Sattel um und wollte sehen, wie seine Magier reagierten. Als er sich wieder nach vorn drehte, verriet sein Gesicht nicht, was er dachte. Er zuckte mit den Achseln.
»Der Krieg ist brutal, Kommandant. Die Sieger bekommen, was sie haben wollen, und die Besiegten müssen leiden. Manchmal erleiden sie den Tod, manchmal Gefangenschaft oder Sklaverei. Was die an diesem Konflikt beteiligten Magier angeht, so wird es der Verlust ihrer Lebensaufgabe oder gar Schlimmeres sein.
Ich kann es mir nicht erlauben, sentimental zu werden. Ein Krieg wird immer von mindestens zwei Parteien geführt. Keine ist frei von Schuld, keine begrüßt die Schmerzen, die sie einander zufügen, doch beide erkennen, dass es keinen anderen Ausweg gibt. Der Krieg beginnt, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Kommandant, ich wiederhole mein Angebot. Übergebt uns das Kolleg. Niemand muss sterben. Der Konflikt wird enden, und Julatsa wird sich selbst regieren können.«
»Wir werden uns nicht ergeben«, erwiderte Vale. »Das können wir nicht.«
»Ich weiß, dass Ihr es nicht könnt, Kommandant. Aber ich wäre kein ehrenhafter Soldat, wenn ich Euch keine ehrenhafte Kapitulation anbieten würde. Ich kann Euch noch etwas anbieten. Eine Stunde bekommt Ihr, um zu reden und nachzudenken. Wenn die Tore bis dahin nicht geöffnet sind, greifen wir an.«
Vale nickte. »Schärft Eure Schwerter, Kommandant Chandyr. Ihr werdet sie brauchen. Falls wir dieses Kolleg überhaupt aufgeben müssen, so wird es um den höchsten Preis geschehen, den wir Euch dafür auferlegen können. Und wir haben Verbündete. Seid Ihr wirklich sicher, dass Ihr Euch auch gegen sie verteidigen könnt, nachdem Ihr unseren Preis bezahlt habt?«
»Eine Stunde«, sagte Chandyr.
Er zog sein Pferd herum und kehrte mit seinen Begleitern zu seiner Truppe zurück. Der Unbekannte sah ihm nach, dann stieg er mit Vale und den Rabenkriegern zum Innenhof hinunter.
»Wir könnten etwas Kühles zu trinken gebrauchen«, sagte Vale, während er sie zum Refektorium führte.
»Das war ein beeindruckender Auftritt«, lobte ihn der Unbekannte. »Jetzt hat er Stoff zum Nachdenken.«
»Noch mehr als das«, ergänzte Darrick. »Eure Bemerkung über seine Schwierigkeiten, nachdem er gesiegt hat, war ein kluger Schachzug. Das wird ihn vorsichtig machen.«
»Es fiel mir erst im allerletzten Augenblick ein«, gab Vale zu.
»Solche Einfälle können Schlachten entscheiden«, sagte Darrick.
»Nun, General«, schaltete sich Hirad ein. »Wie gut hast du ihn eigentlich ausgebildet?«
»Er war ein guter Schüler«, sagte Darrick. »Aber die lysternischen Soldaten bekommen immer einige zusätzliche Lektionen. Es wäre ja nicht gut, den anderen alles zu verraten, nicht wahr?«
»Und ob«, stimmte Hirad zu. »Also wirst du sie doch nicht ganz so bekämpfen, wie du es sie gelehrt hast.«
»So ist es, Hirad«, bestätigte Darrick und schob ihn ins Refektorium. »Außerdem lernen wir etwas über ihre Schwächen. Chandyr wird uns bald eine zeigen.«
»Welche denn?«
»Ungeduld.«