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Sechstes Kapitel

»Denser!« Thrauns Stimme war leise und drängend.

Es war Vormittag. Das Getöse der Schlacht am Osttor von Xetesk wehte den sanften Hang herauf und störte die Ruhe. Denser hatte im Liegen anhand der Geräusche herausgefunden, dass der Kampf hauptsächlich mit magischen Mitteln ausgefochten wurde. Irgendwann ermüdeten die Magier jedoch, und ein Patt trat ein.

Da auf der Seite von Xetesk keine Protektoren und bei den Verbündeten keine Elfen mehr kämpften, waren die Kontrahenten an Körper und Geist geschwächt. Normale Männer standen einander gegenüber, und wer den stärkeren Willen besaß und in den letzten Tagen seine Kräfte besser eingeteilt hatte, würde letzten Endes siegen.

Denser rappelte sich auf. Die Zweige über ihm regten sich kaum, die warme Sonne trocknete den nassen Boden. Während er in dem von Elfen gebauten Biwak auf Leder geruht hatte, war das Mana durch das dunkle Tor in ihn zurückgeströmt, das die Xeteskianer seit Jahrhunderten benutzten. Der Mana-Sturm war inzwischen abgeflaut.

Der Gestaltwandler saß an der Glut des Lagerfeuers, ein Bein lang ausgestreckt. Die Hose war abgeschnitten, und er trug einen sauberen Verband, durch den ein wenig Blut gesickert war.

Neben ihm lag Erienne, bleich und wunderschön im fleckigen Sonnenlicht. Thraun strich ihr die Haare aus dem Gesicht und sah Denser an.

»Sie ist stark«, sagte er. »Ich wusste es.«

Neue Hoffnung erwachte in Denser. Er sank neben ihr auf die Knie und betrachtete ihr Gesicht. Die Augen zuckten unter den Lidern.

»Erienne?«, sagte er. Er beugte sich dicht über sie und hauchte ihr einen Kuss auf die warmen Lippen. »Kannst du mich hören, Liebste?«

»Sie kämpft«, sagte Thraun.

»Wie lange geht es schon so?«

Thraun rang mit den Worten. Denser drängte ihn weiter.

»Eine Stunde? Oder erst seit gerade eben?«

Thraun nickte. »Gerade eben«, bestätigte er. »Die Sonne hilft ihr.«

Denser verstand. Thraun war nicht von ihrer Seite gewichen, als Denser gezwungen gewesen war, sein Mana wieder aufzubauen. Unter einem Schutz aus Leder und Blättern hatte sie in seinen Armen geschlafen, und er hatte seine Wärme mit ihr geteilt. Sie kannten sich schon lange. Thraun war ein guter Freund von Alun gewesen, ihrem ersten Mann, und jetzt war er, der verstörte Gestaltwandler, derjenige, der ihre Schmerzen am besten verstand. Beide waren dem Bann einer Kraft erlegen, die sie in gleichem Maße hassten und begehrten.

»Glaubst du, Cleress ist bei ihr?«, fragte er.

Wieder nickte Thraun. »Ihr Geist ist ruhig.«

»Danke, Thraun«, sagte Denser. »Was sollte ich ohne dich tun?«

Thraun zuckte mit den Achseln. »Rabe«, sagte er nur. »Du musst dich weiter ausruhen.«

Denser konnte nicht widersprechen. Er sah Thraun in die Augen und erkannte die Frustration, die in ihm kochte. Er glaubte nicht, dass Thraun sich jemals wieder völlig erholen würde. Das Schlimmste war, dass auch Thraun es wusste.

»Ich weiß, wie schwer es ist.« Mühsam richtete er sich auf und legte eine Hand auf seine Brust. »Aber da drinnen bist du alles, was du immer warst, und das werden wir nie vergessen.«

Er kehrte zu seinem Biwak zurück. Sie befanden sich mitten im Elfenlager und waren vor den neugierigen Blicken der Lysternier in der Nähe abgeschirmt. Möglicherweise ahnten die Verbündeten sogar, dass die Rabenkrieger in der Nähe waren; der Mana-Sturm hatte es ihnen sicher verraten. Doch das Lager wurde von TaiGethen und Krallenjägern bewacht, und niemand würde es wagen, seine Grenzen zu überschreiten. Die Elfen würden nicht zögern, Eindringlinge mit Waffengewalt aufzuhalten.

Er blieb bei Hirad, Darrick und dem Unbekannten stehen, die in tiefem Schlaf lagen. Sie waren bis an ihre Grenzen gegangen und zahlten jetzt den Preis dafür. Nach ihrer Ankunft im Lager der Elfen war sofort klar geworden, dass sie abgesehen von Erster Hilfe und Verbänden auch eine Behandlung mit Sprüchen brauchten. Der ursprüngliche Plan, schon am folgenden Morgen wieder aufzubrechen, ließ sich nicht verwirklichen.

Darrick hatte es am schlimmsten getroffen. Kaum dass sie angehalten hatten, war er buchstäblich vom Pferd gefallen. Sein Blutverlust war ernst, die Wunde in der Hüfte tief und durch die erzwungene Bewegung immer noch offen. Ein Spruch hatte das Fleisch geheilt, und jetzt hielten Bandagen die Wunde geschlossen, doch den Blutverlust konnte der Körper nur langsam ausgleichen. Darrick würde sich noch einige Tage schwach fühlen.

Hirads Rüstung wurde irgendwo repariert. Darunter war ein kaum noch als Hemd erkennbarer Fetzen zum Vorschein gekommen. Jetzt waren seine Arme mit Tüchern umwickelt, seine Brust war vom Hals bis zum Bauch verbunden, und auch auf der Stirn leuchtete weißer Stoff.

Dem Unbekannten war es in den Kämpfen etwas besser ergangen, doch er war völlig erschöpft, nachdem er Darrick inmitten eines Unwetters mehr als zwei Stunden lang praktisch getragen hatte. Die Müdigkeit seiner Muskeln ließ sich nur durch eine ausgedehnte Ruhephase beheben.

Eigenartig. Bevor sie die Al-Arynaar und TaiGethen getroffen hatten, hätte der Rabe niemals geruht, ohne mindestens einen aus ihrer Mitte als Wache aufzustellen. Die Welt drehte sich weiter, die Not schuf Verlässlichkeit und Vertrauen. Denser zog das Leder von seinem Biwak und legte sich in der warmen, frischen Luft hin. Er entspannte sich und suchte das Dämonentor, von dem aus das Mana zu ruhenden xeteskianischen Magiern strömte. Die Dämonen hätten es längst geschlossen, wenn sie es vermocht hätten, doch bis zu diesem Tag war dies für einen Dunklen Magier die beste Möglichkeit überhaupt, seine Reserven aufzufrischen.

Am Rande hörte er noch das leise Tappen eines Panthers, der zweifellos nach Thraun und Erienne sehen wollte. Deshalb konnte der Rabe ruhen. Denser schloss die Augen.

 

»Sie ist so nahe«, murmelte Vuldaroq, »und wir können nichts tun.«

Er schob sich eine Gabel voll Essen in den Mund und kaute langsam. Dabei sah er sich ausgiebig am Tisch um und blickte Heryst erst an, als er hinuntergeschluckt hatte. Er langte nach seinem Weinglas und trank.

Lysterns Lordältester Magier war am vergangenen Abend in Dordover eingetroffen, um über die nächsten Schachzüge im Krieg zu beraten. Bisher waren die Verbündeten ihrem Ziel, die Verteidigung von Xetesk zu zerschlagen, kaum näher gekommen. Die Zähigkeit des Feindes hatte sie überrascht, und sie hatten zu viele Kräfte für den Belagerungsring vor der Stadt einteilen müssen. Mit Recht fürchteten sie die Ausfälle von Hausgeistern und Meuchelmördern, die sie bisher nicht hatten unterbinden können. Auch war es ihnen nicht gelungen, die Nachschubwege des Kollegs abzuriegeln, und der Rabe war immer noch frei.

Das angespannte Verhältnis zu den Elfen war eine zusätzliche Belastung. Unbestreitbar war die Unterstützung der Elfen wichtig, wenn nicht gar entscheidend gewesen. Doch es war keine Partnerschaft, die auf gemeinsamen Zielvorstellungen beruhte. Die Elfen verfolgten ganz eigene Pläne. Inzwischen hatten sie gefunden, was sie haben wollten, und würden bald weiterziehen. Das änderte ebenso die Schlachtpläne wie der zunehmende Verfall des julatsanischen Mana.

Vuldaroq fragte sich, ob es nicht vielleicht doch von Vorteil sei, wenn Julatsa unterging. Heryst sah die Sache natürlich ganz anders.

»Wir werden uns in Geduld üben und auf die richtige Gelegenheit warten«, sagte Heryst. »Erienne und der Rabe werden von jedem Elf auf dem Schlachtfeld beschützt. Wir können jetzt nicht eingreifen. Falls sie sich überhaupt bewegt, dann geht sie nach Julatsa. Wir können abwarten.«

»Aber es ist doch sehr verlockend, oder?«, fragte Vuldaroq.

Heryst lächelte knapp. »Ihr und ich, wir können hier sitzen und auf diese Weise darüber reden. Meine Kommandanten an der Front am Osttor würden sich anders äußern. Obwohl wir den Elfen drei zu eins überlegen sind, haben wir vermutlich nicht genügend Krieger und Magier, um Erienne festzunehmen. Und selbst wenn, wir müssten dabei das Osttor unbewacht zurücklassen. Wie ich schon sagte, wir warten ab. Früher oder später wird sie uns in die Hände fallen.«

»Wir müssen uns aber einig sein, wie wir verfahren, wenn dies geschieht«, sagte Vuldaroq.

»Sie muss als ein gemeinsamer Gewinn betrachtet werden, Vuldaroq. Dies haben wir doch schon geklärt. Ihr könnt nicht die alleinige Macht über eine Frau beanspruchen, die sich keinem von uns zugehörig fühlt.«

Vuldaroq hob beide Hände. »Ein andermal, Lord Heryst. Es gibt Dringenderes zu besprechen.«

»Ich bin ganz Eurer Meinung.«

»Offensichtlich sind Eure Kräfte am Osttor vom Aufbruch der Elfen nach Julatsa am stärksten betroffen. Seit Izacks kluger Entscheidung, die Nordfront mit lysternischen Kräften zu verstärken, seid Ihr dort sogar noch schwächer geworden. Ich habe einige Reserven in Dordover, die ich Euch anbieten kann. Was wollt Ihr haben? Männer? Magier?«

Innerlich lächelte Vuldaroq über Herysts Reaktion. Wie leicht es doch war, einen Mann zu übertölpeln, der nichts von einem erwartete.

»Das ist ein äußerst freundliches Angebot, für das ich Euch dankbar bin.«

»Und überraschend kommt es wohl auch?« Vuldaroq konnte es sich nicht verkneifen.

Heryst zog eine Augenbraue hoch. »Ihr zeigt selten ein solches Entgegenkommen«, sagte er. »Ich glaube, wir stehen vor einer wichtigen Entscheidung. Meine Kommandanten haben mich ausführlich unterrichtet. Sie sind sicher, dass es im Krieg eine Wende geben wird. Zweifellos habt auch Ihr schon daran gedacht.«

Vuldaroq neigte den Kopf. Er ahnte bereits, in welche Richtung sich Herysts Gedanken entwickelten, und er sollte nicht enttäuscht werden.

»Xetesk will Julatsa auslöschen, und dieser Plan wird durch die Elfen gefährdet. Das Dunkle Kolleg darf nicht ungehindert nach Norden vorstoßen, also müssen wir entsprechend planen. Izack hat bereits die Stelle verstärkt, an der sie höchstwahrscheinlich versuchen werden, den Belagerungsring zu durchbrechen. Meiner Ansicht nach müssen wir jedoch weitere Faktoren berücksichtigen. Ich bin nicht sicher, ob wir unsere Kräfte wirklich klug einsetzen, wenn wir die Stellungen am Osttor verstärken, nicht zuletzt, weil die neuen Truppen ohnehin zu spät kämen. Schließlich wird wohl sehr bald ein Ausbruch stattfinden, und es besteht kein Zweifel daran, dass wir Mühe haben werden, ihn zu vereiteln, wenn unsere Informationen über die Stärke ihrer Reserve zutreffen.

Euch ist sicher bekannt, dass Baron Blackthorne auf unserer Seite in den Kampf eingegriffen und siebzig Schwertkämpfer und acht Magier mitgebracht hat. Dies ist fast seine gesamte ausgebildete Wache. Er ist das Risiko eingegangen, sein Land von Baron Gresse bewachen zu lassen, dessen kleine Miliz schon jetzt beinahe über den gesamten Süden verteilt ist. Warum tun sie das? Weil die Wirtschaft des gesamten Landes Tag um Tag leidet, solange dieser Krieg andauert.

Sie sind mit ihren Ängsten nicht allein. Havern schickt Männer, ebenso Orytte und Rache. Viele andere Barone können natürlich keine Truppen entbehren. Aber wie ich schon sagte, die Verstärkung des Osttors ist möglicherweise sinnlos. Vielleicht wäre es besser, gleich nach Norden zu reiten, nach Julatsa.«

»Verzeihung«, sagte Vuldaroq mit erhobenem Finger, »aber das klingt, als wärt Ihr mit dieser Entwicklung nicht unbedingt einverstanden.«

Heryst füllte sein Wasserglas. »Es macht die Dinge komplizierter. Blackthorne war bereit, seine Männer Izacks Kommando zu unterstellen. Er hat nicht die Absicht, allzu lange selbst im Feld zu bleiben, sondern zieht es vor, seine diplomatischen Fähigkeiten im Herzen des Landes einzusetzen. Wie Ihr wisst, ist er zusammen mit Gresse eine Ausnahmeerscheinung. Beide Barone arbeiten für das Wohl des Ganzen und nicht nur aus reinem Eigeninteresse. Viele, die sich aufs Schlachtfeld begeben, verfolgen jedoch durchaus eigennützige Pläne.«

»Ihr könnt aber nicht bestreiten, dass es aus unserer Sicht in jedem Falle zu begrüßen ist, wenn wir frische Truppen bekommen, die uns helfen, Xetesk niederzuringen.«

»Seid Ihr davon wirklich überzeugt, Vuldaroq? Ich schlage vor, dass Ihr Euch mit der Vergangenheit derjenigen beschäftigt, die uns angeblich zu Hilfe kommen. Wir sind hier angetreten, um das magische Gleichgewicht wiederherzustellen, indem wir den gegenwärtigen Kreis der Sieben absetzen. Dort draußen gibt es jedoch vermögende Barone, die eher darauf aus sind, die Kollegien zu unterwerfen. Wir müssen aufpassen, dass wir in diesem Krieg die führende Kraft bleiben.«

Vuldaroq lächelte nachsichtig. Manchmal machte Heryst sich unnötiges Kopfzerbrechen. Andererseits wäre es wenig sinnvoll, ohne Not sein Misstrauen zu wecken.

»Ich war in meinen Gesprächen mit den Baronen oder Lords stets offen«, sagte er. »Alle Kräfte, die ich in Dienst nehme, dienen ausschließlich unter meinen Kommandanten. Ihr müsst Euch wegen ihres Verhaltens keine Sorgen machen. Wir verfolgen alle das gleiche Ziel.«

»Tun wir das wirklich?« Heryst lächelte humorlos.

»Wer von uns wollte denn nicht, dass Frieden in Balaia einkehrt?«

»Vuldaroq, dies steht außer Zweifel. Es ist jedoch die Art des Friedens, über die ich mir Gedanken mache.«

»Dann müssen wir dafür sorgen, dass es ein Friede wird, der uns allen Gerechtigkeit widerfahren lässt.« Vuldaroq reagierte zunehmend gereizt. »Wir kommen aber von der Aufgabe ab, die wir uns heute gestellt haben. Ihr erwähntet das Osttor, bevor Ihr mir erklärt habt, wie Ihr unsere Lage seht.«

»In der Tat«, sagte Heryst. »Wenn ich jetzt nicht genug Männer habe, um das Gleichgewicht zu halten, dann ist es sowieso schon zu spät, um Verstärkungen nachzuführen. Es gibt jedoch Hoffnung. Die Elfen habe ich vielleicht verloren, aber ich habe Blackthornes Männer und Magier bekommen, und Xetesk hat die Protektoren verloren. Uns bleibt nichts anderes übrig, als dort zu kämpfen und so viele Xeteskianer wie möglich zu binden.

Wir haben keine Männer mehr, die wir rechtzeitig einsetzen könnten. Ich bin sogar der Ansicht, dass wir die ganze Zeit über niemals genügend Kräfte hatten, um Xetesks Verteidigung ernstlich zu gefährden, obwohl wir mit aller Kraft gekämpft haben.

Ihr habt die Truppen der Barone erwähnt, die Eure Reihen verstärken. Wie ich schon sagte, bekam auch ich Unterstützung von Verbänden, die sehr überlegt eingesetzt werden müssen. Allerdings gilt es nun, taktische Entscheidungen zu treffen. Die wichtigste ist diese: Nehmen wir an, dass die Xeteskianer durchbrechen werden, egal was wir tun. Wollen wir sie lieber gleich herauslassen und auf offenem Feld angreifen? Wir hätten noch genug Zeit, um dies zu organisieren, und die Pläne sind bereits fertig.

Die Frage ist jedoch, ob wir einen solchen Kampf siegreich überstehen könnten. Können wir sie auf offenem Feld wirklich besiegen? Und wenn wir es können, wo bauen wir unsere Kampflinien auf? Wer soll das Oberkommando haben? Dies ist noch nicht alles, Vuldaroq, aber als Anfang soll es ausreichen.«

Vuldaroq war gleichermaßen beeindruckt wie gereizt. Seine Kommandanten hatten diese Fragen gar nicht erst aufgeworfen, obwohl sie ganz naheliegende Schwierigkeiten betrafen.

»Seid Ihr sicher, dass keiner Eurer Leute Kontakt zu Darrick hatte?«, fragte er.

»Ich denke nicht«, sagte Heryst. »Und mir ist die Vorstellung zuwider, er sei der Einzige, der vernünftige taktische Vorschläge machen kann. Viele meiner Kommandanten haben in der Vergangenheit unter Darrick gedient. Er hat sein Wissen weitergegeben. Ich will nicht bestreiten, dass wir ihn gut gebrauchen könnten, aber er hat seine Entscheidung getroffen, mit der er leben oder für die er sterben muss.«

»Welche Vorschläge haben nun Eure Kommandanten hinsichtlich unserer nächsten Aktionen?«

»Unser erstes Ziel muss es sein, den Elfen so viel Zeit wie möglich zu verschaffen, um Julatsa zu erreichen. Sie bereiten den Aufbruch vor und wollen morgen früh abziehen. Wir hoffen, die Xeteskianer innerhalb der Stadtmauern festzusetzen. Wir dürfen es nicht riskieren, dass Xetesk uns auf freiem Feld schlägt. Wenn ihnen das gelingt, haben wir ihnen nichts mehr entgegenzusetzen.«

Vuldaroq dachte darüber nach. Es war die vernünftigste Lösung, zugleich aber auch diejenige, mit der Xetesk rechnen würde.

»Da fehlt das Überraschungsmoment, um Xetesks Pläne zu vereiteln.«

»Umgekehrt lässt es auch ihnen wenig Raum, uns zu überraschen. Selbst wenn sie beispielsweise nach Osten ausbrechen, werden immer noch beachtliche Kräfte ihren Weg blockieren.«

»Habt Ihr auch die Überreste der Armee der Schwarzen Schwingen berücksichtigt?«, fragte Vuldaroq. »Soweit ich weiß, lagern sie in beachtlicher Zahl in der Nähe.«

»Sie sind ein führerloser Pöbel«, erwiderte Heryst. »Selik ist tot, und meine Spione berichten, dass Devun vermisst wird. Mit jedem Tag kehren mehr und mehr von ihnen nach Hause zurück. Wir sollten dies ermutigen. Sie sind auch zahlenmäßig nicht sehr stark. Ein paar hundert sind noch da, darunter viele, die kein Zuhause mehr haben. Für uns sind sie jedoch bedeutungslos.«

Heryst schob eine Ledertasche über den Tisch. »Hier sind unsere ausführlichen Empfehlungen und eine Lagemeldung der jeweiligen Stärke an allen Fronten. Besprecht Euch mit Euren Beratern. Meine Adjutanten stehen bereit, um alle Fragen zu beantworten, und ich kann über die Kommunion jederzeit Izack erreichen, falls es nötig sein sollte. Allerdings müssen wir die anstehenden Fragen umgehend klären.«

Vuldaroq nickte. »Ich komme binnen einer Stunde wieder zu Euch. Unterdessen könnt Ihr dort am Feuer ausruhen. Ich habe einen besonders guten Weinbrand, den Ihr kosten könnt.«

»Danke, Vuldaroq.«

Der übergewichtige Erzmagier stemmte sich aus dem Stuhl hoch. Es gab vieles zu bedenken. Heryst hatte einen vernünftigen Plan vorgelegt, der dem ganzen Land nützen würde. Vuldaroq war jedoch nicht sicher, ob er sich wirklich darauf beschränken wollte, einer unter vielen im Gleichgewicht der Kräfte zu sein. Dies war die Gelegenheit. Die Frage war nur, ob er sie sich rasch genug zunutze machen konnte.

 

Sha-Kaan war zu seinem Lieblingsplatz auf den oberen Hängen von Herendeneth zurückgekehrt. Von dort aus konnte er die Terrassen und das Haus beobachten. Ruhe herrschte jetzt auf der Insel. Die Protektoren reparierten bereits die Schäden, die durch Kampf und Überschwemmung verursacht worden waren. Cleress war wach und half Erienne, soweit ihre Kräfte reichten, und Diera und Jonas waren in Sicherheit. Außer der Al-Drechar gab es keinen lebenden Magier mehr auf der Insel.

Diera kam zu ihm, ihren Jungen, der aus Leibeskräften strampelte, unter den Arm geklemmt. Sha-Kaan konnte gerade eben seine frustrierten Schreie im warmen Wind hören. Sorge erfüllte ihn. Wie leicht es den Menschen fiel, sich fortzupflanzen. Ganz anders als den Drachen. Auf Beshara stand die Zeit der Geburt bevor. Er sollte dort sein und seine Brut in der gefährlichsten Zeit beschützen.

Er wusste, was er tun musste. Auch Diera wusste es, und deshalb kam sie jetzt zu ihm. Er wartete, bis sie ganz nahe war und ihren Sohn abgesetzt hatte. Normalerweise starrte der Kleine Sha-Kaan an, bis er sicher war, den Drachen schon einmal gesehen zu haben, ehe er sich seinen viel interessanteren Gehversuchen zuwandte.

»Er ist ein bemerkenswertes Kind«, sagte der Große Kaan.

»Ich glaube, er weiß, dass du ein Freund und keine Bedrohung bist. Du warst so gut zu uns«, sagte Diera.

»Wir haben uns gegenseitig geholfen«, erwiderte er. »Dein Kind war in den letzten Tagen eine Quelle des Lichts, die meinen Geist erfreut hat, während ich auf die Neuigkeiten wartete, die ich so dringend hören will.«

»Nun hast du sie gehört«, sagte Diera.

»So ist es«, erwiderte er. »Ich spüre schon fast wieder die Luftströmungen über meinem Brutland. Ich rieche beinahe die Düfte meiner Welt.«

»Du verlässt uns jetzt?«

»Ich muss«, sagte der Große Kaan, nicht ohne leise Schuldgefühle. Es überraschte ihn, aber eigentlich war es doch kein Wunder. In der letzten Zeit hatte er viel über menschliche Emotionen gelernt. Warum sollte er nicht ein wenig empfinden wie sie? Er konnte sich kaum erinnern, wie er über solche Dinge vor seinem Exil gedacht hatte, und nahm sich vor, diese Erfahrungen nach seiner Rückkehr nicht zu vergessen.

»Jonas wird dich vermissen«, sagte sie. »Ich auch.«

»Auch ich werde euch vermissen«, entgegnete Sha-Kaan. »Doch ich sterbe hier. Im Morgengrauen fliege ich nach Balaia. Ich muss dem Raben helfen. Ich darf nicht zulassen, dass sie scheitern.«

»Gerade deshalb will ich doch, dass du diese Reise unternimmst.« Diera lächelte. »Die Gewissheit, dass du über meinen Mann wachen wirst, wird mir ein großer Trost sein.«

»Du wirst jedoch deine Verbindung zu ihm verlieren«, sagte Sha-Kaan.

»Ich weiß. Das ist ein Preis, den ich mit Freuden zahle, wenn er nur überlebt und wir uns wiedersehen.«

»Ich werde noch einmal mit Hirad sprechen, bevor ich aufbreche. Es gibt einige Dinge, die er über die xeteskianischen Eingriffe in den interdimensionalen Raum wissen muss. Sei hier bei mir, dann kannst du Sol eine Nachricht übermitteln.«

»Danke, Sha-Kaan«, sagte sie und streckte die Hand aus, um seinen Mund zu berühren. Durch seine dicke Haut spürte er die Berührung kaum, doch die Geste war genug.

Jonas hatte die Veränderung der Atmosphäre gespürt. Er krabbelte eilig zu seiner Mutter und zog sich an ihrem Bein hoch, um dem Drachen in die Augen zu sehen.

»Kaan!«, sagte er auf einmal, deutete auf ihn und lächelte.

Diera lachte. »Genau, mein Lieber. Und bald müssen wir Lebewohl sagen.«

»Lebewohl«, sagte Jonas.

Auf den Ebenen von Teras riefen ihn die Brutmütter. Sha-Kaan konnte es fühlen.