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Achtzehntes Kapitel

Erienne erwachte mitten in der Nacht, fuhr hoch und unterdrückte einen Schrei. Sie hatte von schrecklicher Magie geträumt, und die Schreie der Magie hallten in ihrem Kopf nach. Eine herankriechende Schwärze hatte sie gesehen, die alles verzehrte, was sie berührte, die auch die hellsten Farben dämpfte und die Lieder der jungen Leute erstickte. Sie hatte sich selbst vor den Toren des Kollegs gesehen, wie sie den Niedergang der Magie überwachte und auf die zu ihr gewandten Gesichter hinablachte.

Zu ihren Füßen waren ihre Kinder gewesen, die sie aus dem Tod zurückgeholt hatte. Jetzt befanden sie sich an einem Ort, wo sie für immer in Sicherheit waren. An ihrer Seite, wo sie sein konnten, was sie selbst war. Das Eine.

»Still, Liebste, es ist schon gut.« Densers Stimme trug nicht dazu bei, sie zu beruhigen.

»Das kann ich nicht versprechen«, sagte sie. »Niemand kann das versprechen.«

»Was denn?«

»Das würdest du nicht verstehen.« Ihre Stimme klang verbittert. »Lass mich, ich schaffe das schon.«

»Verschließe dich nicht vor mir«, drängte Denser sie. »Lass mich die Bürde mit dir teilen.«

»Was könntest du mir schon abnehmen?«, fauchte sie. »Es ist alles in mir. Ich kann es nicht abgeben, ich kann es nicht von anderen tragen lassen. Es ist in mir. Es versucht, mich zu besiegen.« Sie unterbrach sich, drehte sich zu ihm um und sah seinen verletzten Blick und das besorgte Gesicht. Leise sprach sie weiter. »Es verhöhnt mich, Denser. Aber wie kann es das tun? Es ist nicht intelligent. Wie kann ich etwas besiegen, das überhaupt nicht da ist?«

»Was du in dir einen Kampf erlebst, dann zeigt dein Geist dir zugleich das, was du besiegen musst. Es ist auch ein Kampf um die Kontrolle über deinen eigenen Körper. Ich weiß, dass ich dir eigentlich nicht helfen kann, aber sperre mich bitte nicht aus. Bitte tu das nicht.«

Sie streichelte sein Gesicht. »Ich will es versuchen«, sagte sie. »Es ist nur so schwer. Ich fühle mich, als wäre ich der einzige Mensch, der eine Flutwelle aufhalten kann, die uns alle ertränken will. Es ist so schwer, einen Raum für irgendetwas anderes zu finden.«

»Dann tu es nicht.« Denser lächelte, aber seine Augen blickten bekümmert wie zuvor. »Ich werde es verstehen.«

»Sag mir das in einem Jahr«, erwiderte sie. »Oder in ein paar Monaten.«

»Vorausgesetzt, wir leben überhaupt so lange«, antwortete Denser. »Vielleicht überstehen wir nicht einmal mehr einen weiteren Tag.«

Er rutschte im Bett zur Seite, richtete sich auf und stützte sich mit beiden Armen ab.

»Sag mir, was du heute gesehen hast«, bat er sie. »Warum hast du die Bergung unterbrochen?«

»Ihr eigener Spruch hat das Problem verursacht«, erklärte sie sofort. »Da bin ich jetzt ganz sicher. Ihr eigenes Mana hat im Stein rings um das Herz irgendetwas ausgelöst, als sie ihre Energien gebündelt haben. Es war wie ein Schmutzfleck, der sich nach oben ausgebreitet hat. Es kam mir vor, als hätten sie ihn selbst gezwungen, das Herz zu bedrängen und zu verdecken. Es wird wieder geschehen, wenn sie es noch einmal versuchen.«

»Darrick will sie mindestens bis morgen noch davon abhalten«, sagte Denser. »Er meint, wenn die Julatsaner keine Sprüche wirken, um Xetesk aufzuhalten, dann überstehen wir keinen weiteren Tag.«

»Sie können nicht warten«, entgegnete sie, ein wenig verärgert über sein mangelndes Verständnis. »Ist das nicht offensichtlich?«

»Nein«, gab Denser zu. Sie seufzte ungeduldig, beherrschte sich und verkniff sich eine scharfe Antwort.

»Entschuldige.« Sie beruhigte sich wieder. »Der geballte Einsatz der Magie verursacht das Problem. Wenn sie morgen alle da draußen sind und Schilde wirken, dann wird das Mana abermals versagen. Daran habe ich überhaupt keinen Zweifel. Geren hatte nur zur Hälfte recht. Die einzige Chance ist, das Herz zu bergen und an seinen alten Platz zu stellen, damit es den Mana-Fluss wieder in Gang bringt. Wir müssen hoffen, dass der Schatten während der Bergung unterdrückt werden kann.«

»Wie?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Tja, da muss ich mir wohl was einfallen lassen, oder?«

»Woran denkst du?«

»Woher soll ich das wissen? Bei den Göttern, Denser, ich bin doch kein Orakel.«

»Das stimmt, aber du bist die Einzige, die überhaupt helfen kann. Niemand sonst sieht das Problem, und erst recht kann niemand etwas dagegen unternehmen.«

Abrupt wandte sie sich ab und stand auf. Der Stein war kalt unter ihren nackten Füßen. »Wundervoll. Erienne, die Retterin von Julatsa. Erienne, die Retterin der ganzen verdammten Welt.« Sie drehte sich wieder zu ihm um. »Das Problem ist nur, dass ich keinen blassen Schimmer habe, wie ich das anfangen soll.«

»Also, vielleicht kann ich …«

»Nein!«, rief sie. »Niemand kann das.« Sie schlug sich die Hände vor das Gesicht. »Entschuldige, Denser. Bitte schlaf weiter. Du musst dich für den morgigen Tag ausruhen.«

»Komm wieder ins Bett«, sagte er mit der sanften Stimme, in die sie sich damals verliebt hatte.

»Ich kann nicht schlafen. Ich muss nachdenken.«

»Wann werden die Al-Arynaar wieder Sprüche wirken können?«, fragte Denser nach einer Weile.

Sie zuckte mit den Achseln. »Sie waren erschöpft, wie du weißt. Dagegen konnte ich nichts tun. Vielleicht am Nachmittag, vielleicht erst später.«

»Ich verstehe«, sagte er. »Erienne, willst du etwas für mich tun?«

»Ja, wenn ich kann«, versprach sie ihm.

»Erzähle alles, was du mir erzählt hast, auch Darrick. Ich glaube, er wird heute Nacht sowieso kaum schlafen, und er sollte es erfahren. Er müsste im Refektorium oder im Gästehaus sein.«

»Ich gehe am besten sofort zu ihm.« Sie suchte nach ihren Schuhen und einem Schal, den sie sich um die Schultern legen konnte.

»Ich liebe dich, Erienne.«

»Vergiss das ja nicht.«

 

Die Neuigkeiten waren so gut, wie Blackthorne es sich nur hätte wünschen können. Die Kommunion zwischen den dordovanischen Magiern hatte ihm Gewissheit verschafft, dass etwa zweihundertfünfzig Kämpfer nach Julatsa marschierten. Mit denen, die er bei sich hatte, waren sie dreihundert und konnten den Gegnern den entscheidenden Schlag versetzen.

Ein Magier der lysternischen Kavallerie hatte in den frühen Morgenstunden außerdem die Nachricht übermittelt, dass das Kolleg noch stand und Izack so bald wie möglich einen weiteren Angriff auf die Xeteskianer wagen wollte. Deren Kavallerie war zwar stärker, aber die Xeteskianer hatten am vergangenen Tag die Schlacht verloren und lagerten im Süden außerhalb der Stadt. Daher sollten die Verbündeten von Norden oder Westen her in die Stadt eindringen.

Die Morgendämmerung hatte noch nicht begonnen, als Blackthorne die müden, aber willigen dordovanischen und lysternischen Kämpfer und Magier weckte. Mit ihnen ritten seine paar eigenen Männer, deren Kampfgeist erheblich gestiegen war, seit ihre Wunden verheilt waren und die Schmerzen nachgelassen hatten. Einen besseren Augenblick, den Marsch zu beginnen und anzugreifen, würde es nicht geben. Er wollte den Treffpunkt eine Meile westlich der Stadt pünktlich erreichen.

Sie marschierten leise und näherten sich der schlafenden Kollegstadt, während die Sonne über den Horizont stieg. Die Feinde mussten nahe sein. Doch die Freunde waren noch näher und mussten bald in Sicht kommen.

»Es könnte ein großer Tag für uns werden, Luke«, sagte Blackthorne. »Falls der Rabe es schafft, das Kolleg den Morgen über zu halten, können wir die Feinde angreifen. Noch ist der Krieg nicht verloren.«

»Ich habe gebetet, dass wir nicht zu spät kommen, Mylord«, sagte Luke. Er lächelte, sein junges Gesicht strahlte und war voller Leben.

»Irgendwann wird jedes Gebet erhört. Vielleicht sind heute wir die Glücklichen.«

Blackthorne führte seinen bunt zusammengewürfelten Haufen einen sanften, bewaldeten Abhang hinauf. Von der Hügelkuppe aus sollten sie Julatsa sehen können. Er hoffte auch, sie könnten erkennen, wo die Verbündeten lagerten, denn er sehnte sich danach, zur Abwechslung mal wieder eine verbündete Armee vor sich zu haben.

Je weiter sie gingen, desto häufiger ermahnte Blackthorne die Männer, leise zu sein. Mit einer Hand hielt er das Zaumzeug seines Pferds, mit der anderen drückte er das Schwert an die Hüfte, damit es nicht klirrte. Es wäre gefährlich, unversehens auf einen Feind zu stoßen, mit dem sie nicht rechneten. Seine Späher, die wenigen, die er entbehren konnte, hatten jedoch berichtet, in einer Meile Umkreis drohe keine Gefahr, seit sie vom letzten Rastplatz aufgebrochen waren.

Inzwischen waren die Späher zurückgekehrt und nur noch hundert Schritte voraus. Den letzten konnte Blackthorne sogar noch sehen, als er die Hügelkuppe erreichte. Plötzlich duckte sich der Mann und ging eilig in Deckung. Sofort ließ Blackthorne seine Truppe anhalten. Die Männer kannten ihn gut genug, um seinem Befehl augenblicklich Folge zu leisten. Er musste nicht lange warten, bis der Späher wieder auftauchte, den Abhang herunterrannte und schlitternd vor ihm anhielt.

»Mylord«, keuchte der Mann.

»Immer mit der Ruhe«, antwortete Blackthorne. »Was hast du gesehen?«

»Die Verbündeten sind nicht weit vor uns, sie befinden sich höchstens eine Meile entfernt am Ufer des Flusses Talaat. Die Stadt ist nahe. Doch andere Truppen nähern sich ihnen. Ich bin nicht sicher, würde aber sagen, dass es sich um xeteskianische Magier handelt. Es sind nicht viele, sie bewegen sich jedoch sehr zielstrebig. Mylord, ich würde mein Leben darauf verwetten, dass sie angreifen wollen.«

»Sind unsere Verbündeten zahlenmäßig überlegen?«

»Zehn zu eins, Mylord.«

»Dann …« Blackthorne sprach nicht aus, was er dachte. Es lag auf der Hand. Er wandte sich an seine Männer. »Die Verbündeten sollen mit einem Spruch angegriffen werden. Teilt euch der Einfachheit halber nach Kollegien auf. Dordovaner, lauft hin und warnt sie, aber kommt ihnen nicht zu nahe. Luke, du begleitest sie. Nimm vier von unseren Leuten mit und reite, so schnell du kannst. Vielleicht sehen sie dich nicht früh genug, deshalb müssen hinter dir Dordovaner folgen, die ordentlich Lärm machen. Lysternier, ihr kommt mit mir. Wir müssen einige Magier erledigen.« Er drehte sich im Sattel um. »Oh, und auch wir werden uns schnell bewegen und rufen. Die Zeit der Heimlichkeit ist vorbei. Los jetzt!«

Die Truppe rannte den Hang hinauf, Blackthorne galoppierte an der Seite mit. Luke und die anderen Reiter waren schon über die Kuppe hinaus und hielten eilig auf die Dordovaner zu. Blackthorne folgte ihnen und sah bestätigt, was der Späher berichtet hatte. Die Verbündeten bemerkten die Gefahr nicht, die sich von Südosten näherte. Es waren Xeteskianer, die rasch zu ihrem Ziel aufschlossen und von hoch fliegenden Hausgeistern eingewiesen wurden.

»Auf geht’s!«, rief Blackthorne und galoppierte den langen Abhang hinunter auf die xeteskianischen Reiter zu.

Bald war er mit dreien seiner eigenen Leute den Fußsoldaten ein gutes Stück voraus. Es kümmerte ihn nicht, wenn er getötet wurde, solange er nur die Sprüche stören konnte, die seiner Ansicht nach bald aufgebaut würden. Er holte rasch auf, doch die Xeteskianer waren noch weit vor ihm, ihre Hausgeister flogen hoch am Himmel und kreisten über den Verbündeten, die offenbar allmählich unruhig wurden und sich umdrehten.

Links von ihm raste Luke mit flatterndem Haar dahin und wedelte wild mit einem Arm. Blackthorne glaubte sogar, die Rufe des Burschen zu hören.

»Komm ihnen bloß nicht zu nahe«, sagte er zu sich.

Die Xeteskianer stiegen nun ab und stellten sich dicht beisammen auf. Die Schwertkämpfer blieben im Sattel und ritten zum Schutz rings um die Magier herum. Die Lysternier hinter ihm bemühten sich nach Kräften, nicht zurückzufallen, doch er war bereits fünfzig Schritte vor ihnen und entfernte sich weiter.

Plötzlich hatte er ein starkes Druckgefühl in den Ohren, sein Pferd wurde schlagartig langsamer und drehte den Kopf hin und her, während seine Flanken heftig bebten. Am Himmel erschien eine schwarze Linie, die sich rasch in ein halbes Dutzend Fäden aufspaltete. So entstand ein Stern, der die Wolken anzog und einen dichten, dunklen Wirbel erzeugte.

»Nein, nein!«, rief Blackthorne und trieb sein scheuendes Pferd weiter an.

Ohne auf die Schmerzen in den Ohren zu achten, stieg Blackthorne ab und rannte auf die Reiter zu, deren Pferde sich ebenso unwohl fühlten wie sein eigenes. Die Pferde der Magier waren längst durchgegangen und hatten sich in Sicherheit gebracht.

Blackthorne konnte unten am Hang das Lager der Verbündeten beobachten. Männer rannten in alle Richtungen oder sprangen auf scheuende Pferde. Die Menschen stoben auseinander. Eine halbe Meile von ihnen entfernt hatte auch Luke anhalten müssen.

Über ihnen öffnete sich der Stern wie die Blüte einer bösen Blume. Einen Herzschlag lang hoffte Blackthorne, der Spruch habe versagt. Kein Blitz zuckte, kein interdimensionaler Energiestoß fuhr herab. Dies war jedoch kein Blauer Sturm, und im nächsten Moment zwang ihn ein schrilles Pfeifen in die Knie. Es nahm ihm jede Kraft und trübte seinen Blick.

Er presste die Hände auf die Ohren, konnte das Geräusch aber nicht dämpfen. Ein Blick nach vorn zeigte ihm, dass er noch zu den Glücklichen gehörte. Das Lager der Verbündeten war das Hauptziel gewesen, und dort entfaltete der Spruch seine ganze entsetzliche Wirkung. Der Fluss wallte auf und schäumte, Blumen und Büsche wurden zu Boden gedrückt, die Blätter und Blüten flogen davon, als risse sie eine unsichtbare Hand ab.

Und erst die Männer und Pferde. Oh, ihr guten Götter, die Männer und Pferde. Sie fielen um wie die Bäume, vor denen sie standen, und wanden sich vor Schmerzen am Boden. Wer noch dazu in der Lage war, schrie und kreischte. Es schien unmöglich, doch es sah aus, als wüchsen sie und blähten sich in ihren Kleidern auf. Männer heulten und keuchten, Pferde keilten aus, Bäume bekamen Risse, ihre Blätter fielen wie im Herbst, und wenn der innere Druck zu stark wurde, zerplatzten sie.

Als würde alles von innen heraus explodieren, flogen Fleischstücke, Knochen, Holzspäne und Hautfetzen herum. In einer rosa gefärbten Wolke schossen die Trümmer umher, und der Spruch brach immer noch nicht ab, sondern riss jetzt sogar den Boden auf und warf Steine und Erdklumpen hoch in den Himmel, ehe er endlich nachließ.

Sofort ebbten auch die Schmerzen ab, und Blackthorne wurde von wilder Wut gepackt. Er richtete sich auf und rief seine Männer zu sich. Sobald sie standen und bereit waren, griff er an. Sie brüllten ihren Zorn und ihren Unglauben über die Tat der Xeteskianer hinaus und ließen die Schwerter kreisen, auf denen das Sonnenlicht glänzte.

Die berittenen Soldaten vor ihnen richteten die Pferde neu aus und kamen ihnen entgegen. Blackthorne war von einer Kraft beflügelt wie seit seiner Jugend nicht mehr. Er rollte sich unter dem Schlag eines Reiters ab, kam auf die Knie und traf mit seiner Klinge die Beine des nächsten Tiers. Ohne einen weiteren Blick richtete er sich ganz auf und rannte weiter, schlitzte einen Reiter auf und spürte, wie seine Klinge immer und immer wieder traf. Nur ein Ziel hatte er, ein einziges Ziel.

Die Magier waren nicht mehr in der Verfassung, einen weiteren Spruch zu wirken oder sich zu verteidigen. Es hätte ohnehin nichts geändert, denn Blackthorne und seine Männer fielen wie die wilden Tiere über sie her, schnitten Hände von den Armen, die Köpfe schützen wollten, spalteten Schädel, schlitzten Bäuche auf und durchbohrten Brustkörbe, Bäuche und Rücken. Über ihnen kreischten die Hausgeister, die den Angriff dirigiert hatten, und stürzten ab, sobald ihre Meister gestürzt waren. Keiner wurde verschont, keiner entkam. Das Blut tränkte das grüne Gras und färbte es schwarz wie die Gewänder der Toten.

Aber Blackthornes Angriff war nichts gegen das, was die Xeteskianer angerichtet hatten. Als er sich wieder beruhigte und die Erschöpfung und der Schock sich über ihn legten wie ein viel zu schwerer Mantel, ging Blackthorne zum Zielpunkt des Spruchs und sah sich um. Er ließ den Schrecken nicht an sich heran, denn das war die einzige Möglichkeit, dort stehen zu bleiben, ohne auf die Knie zu sinken und sich in den Fluss zu übergeben.

Überall lagen Fleischfetzen. Es war unmöglich, die Überreste der Reittiere von denen der Reiter zu unterscheiden. Blackthorne hatte einmal eine Abdeckerei besucht. Die Abfalleimer waren voller Fleischstücke gewesen, ungefähr so groß wie diese hier. Knorpel und Knochen, mit denen man nichts mehr anfangen konnte, außer sie als Hundefutter klein zu mahlen. Er konnte kaum glauben, dass dies hier jemals Menschen gewesen waren.

Schließlich drehte er sich zu seinen Männern um, die sich hinter ihm versammelt hatten. Vielen war übel, andere hatten die Schwerter aus den tauben Händen gleiten lassen, während sie fassungslos starrten. Sie konnten nicht mehr kämpfen. Nicht in diesem Augenblick, vielleicht nie wieder. Deshalb bot er ihnen eine andere Möglichkeit an.

»Wir müssen dies hier Dordover und Lystern berichten«, sagte er mit belegter, zitternder Stimme. »Xetesk muss aufgehalten werden. Nicht nur in Julatsa, sondern in seinem Herzen, im Kolleg selbst. Diese Kräfte dürfen nie wieder eingesetzt werden. Seht nur, was sie getan haben. Hunderte von Männern, die keine Chance hatten. Vergesst nicht, was ihr hier gesehen habt. Vergesst es nicht, bis ihr wieder vor den Toren des Dunklen Kollegs kämpft.«

Er drehte sich um und führte sie fort.

 

»Wir können den Kontakt nicht herstellen«, sagte Dystran, als er am Bett seines alten Freundes Ranyl saß.

Der Meister schwand jetzt rasch dahin und würde vielleicht nicht einmal mehr bis zum Ende der Schlacht durchhalten. Seine Stimme war brüchig, er spuckte Blut, und sein Gesicht war grau und eingefallen. Seit zwei Tagen hatte er nichts gegessen, und selbst ein Schluck Wasser bereitete ihm schon Schmerzen. Doch er hielt verbissen am Leben fest, und seine scharfen Augen zeigten, dass in seinem hinfälligen Körper immer noch ein kluger Geist wohnte.

»Aber sie haben die Druckglocke gewirkt?«, fragte er. Dystran musste sich dicht über ihn beugen, um das heisere Flüstern überhaupt zu verstehen.

»Ja, sie wurde gewirkt. Wir haben es von hier aus überwacht«, erklärte Dystran. »Allerdings wissen wir nicht, wie gut sie gewirkt hat. Anscheinend haben nicht genügend überlebt, die stark genug sind, eine Kommunion mit mir aufzubauen.«

Ranyl nickte. »Geht besser davon aus, dass sie alle tot sind, junger Spund.«

»Und wir sollten beten, dass die Verbündeten vernichtet wurden. Gestern mussten wir schwere Verluste hinnehmen. Die Wände und Tore sind jedoch geschwächt, und wie es scheint, sind die Julatsaner nicht fähig, Sprüche zu wirken. Wir können heute durchbrechen. Es muss uns einfach gelingen.«

Dystran blickte durch Ranyls Balkontür hinaus. Es versprach ein schöner Tag zu werden, die Schäfchenwolken lösten sich bereits in der Sonne auf. Ein schöner Tag für einen Sieg.

»Wir stehen so dicht vor dem Ziel.« Eine Träne quoll aus einem Auge, als ihn eine neue Schmerzwelle durchflutete. Er hustete und spuckte Blut auf das Tuch, das er sich vor den Mund hielt. »Allerdings lebe ich vielleicht nicht mehr lange genug, um es zu sehen.«

»Das werdet Ihr, alter Knochen, Ihr werdet leben«, sagte Dystran. Allmählich begann er sogar selbst zu glauben, dass die Schlacht noch an diesem Tag gewonnen werden konnte.

Jemand klopfte vorsichtig an die Tür.

»Ich hoffe, es ist wirklich wichtig«, murmelte Dystran. Er stand auf und schritt zur Tür, riss sie auf und sah Suarav vor sich stehen. Der Hauptmann der Wache schien besorgt. »Ja, bitte?«

»Es tut mir leid, Mylord, aber Ihr müsst zu den Mauern der Stadt kommen.«

»Gibt es dafür einen bestimmten Grund?«, fragte Dystran. »Eine seltsame Wolkenformation vielleicht oder ein paar Rehe, die über das gestrige Schlachtfeld springen?« Er senkte die Stimme und flüsterte scharf. »Seht Ihr nicht, dass ich mit einem sterbenden Mann rede?«

Auch Suarav sprach jetzt leiser. So leise, dass Dystran ihn kaum verstehen konnte. Nur ein Wort schnappte er auf und wünschte sich sofort, er hätte sich verhört.

»Wie bitte?«, sagte er.

 

Die Gesänge der Wesmen hatten einen neuen Höhepunkt erreicht, nachdem die Krieger im Osten den Understone-Pass verlassen hatten. Beflügelt von ihrem erstarkten Glauben an den Sieg, hatten sie die Schritte beschleunigt. Understone hatte in Trümmern gelegen, der Gestank des Todes war schon aus hunderten Schritten Entfernung zu ihnen herübergeweht. Aasvögel hatten sich kreischend um verwesendes Fleisch gezankt.

Wie die Späher berichtet hatten, war niemand mehr da, der gegen die Wesmen kämpfen konnte. So erhoben die viertausend Krieger unter der Führung Tessayas, des Lords der Paleonstämme und Herrschers aller Wesmen, ihre Stimmen und schlugen den Weg nach Norden ein, wo der ruhmreiche Sieg auf sie wartete.

Tessaya spürte die Kraft in jedem Muskel, als er rannte. Auch er sang, und sein Bass ergänzte das Stimmengewirr, das seine Ohren entzückte und jeden Feind, der es hörte, in Angst und Schrecken versetzte. Die Wesmen waren wieder im Osten Balaias, und dieses Mal würden sie bleiben. Er konnte es fühlen.

Nur sechs Meilen vor den Mauern von Xetesk lagerten sie und tanzten in Erwartung des Ruhmes am Feuer. Ihre Destranas heulten und gingen auf die Jagd, und die Schamanen übertrugen die Kraft der Geister auf alle versammelten Krieger. Sie waren geeint und bildeten ein Heer, das niemand aufhalten konnte.

Vor Beginn der Morgendämmerung erhoben sie sich wieder voll Eifer, zufrieden mit wenigen Stunden Schlaf. Sie hörten Tessayas Ansprache und rannten weiter, schneller als je zuvor, weil sie glaubten, hinter der nächsten Hügelkuppe das Ziel zu erblicken.

Endlich kam es in Sicht. Drunten konnten sie einige Häuser ausmachen – Bauernhöfe, die zweifellos ihnen dienen würden, wie sie zuvor Xetesk gedient hatten. Sie würden die Häuser nicht beschädigen und den Bewohnern nichts antun, denn so hielten es die Wesmen jetzt. Sie hatten nur ein Ziel und wollten ihre Kräfte nicht verschwenden.

Die Armee sammelte sich etwa zwei Meilen vor den beeindruckenden Mauern und Türmen der Kollegstadt. Rauch stieg im Morgennebel auf, die Sonne glänzte auf den sieben Türmen, dem Machtzentrum des Kollegs. Es war ein Ehrfurcht gebietender Anblick, der die Wesmen früher eingeschüchtert und an viele Niederlagen in vielen Jahrhunderten erinnert hatte.

Diesmal jedoch war es anders. Dieses Mal waren die Felder vor der Stadt schon mit xeteskianischem Blut getränkt, und die Erde war zertrampelt und so tot wie der Geist hinter den Mauern. Tessaya stieg auf einen abgestorbenen Baum in der Nähe und stellte sich, eine Hand an den Stamm gestützt, auf einen nackten Ast. Alle Wesmen-Krieger sahen ihn erwartungsvoll an.

»Meine Brüder aus den Stämmen, nun sind wir am Ziel.« Ohrenbetäubende Schreie antworteten ihm. Tessaya bat mit erhobener Hand um Ruhe. »Vor euch seht ihr den Berg, auf den wir steigen müssen. Ihr seht die hohen Mauern und die starken Tore. Auf diesen Mauern werden Magier, Bogenschützen und Schwertkämpfer stehen. Doch es sind nicht viele, und auch wir haben Bogenschützen. Sie können uns mit ihrer Magie nicht mehr vernichten.

Wir werden nicht versuchen, die Wälle zu erstürmen, denn das wäre unser sicherer Tod. Wir werden warten, und wir werden töten, und wenn die Mauern geräumt sind, werden wir unsere Enterhaken auf die Zinnen und Tore werfen, und dann werden wir hinaufsteigen. Fällt die Bäume, die ihr hier seht. Das Holz ist noch stark. Wir können Leitern bauen und die Tore einschlagen. Die Natur schenkt uns alles, was wir brauchen, und die Geister beschützen uns und spenden uns ihren Segen.

Meine Brüder, in den nächsten Tagen werden wir die Früchte unserer Pläne ernten. Der Tod unserer Brüder soll gerächt werden, und wir werden dafür sorgen, dass die Wesmen den ihnen gebührenden Platz als die Herrscher ganz Balaias einnehmen werden!«

 

Dystran beobachtete die Angreifer von der Südmauer des Kollegs aus. Eine halbe Meile entfernt verstreuten sich die letzten Aufrechten aus der Armee der Schwarzen Schwingen. Dystran konnte sich gut vorstellen, wie sie sich fühlten. Dann sah er, wie Baum um Baum gefällt wurde. Einhundert Fuß hohe Eichen, Kiefern mit dicken Stämmen. Alles, was den Stürmen widerstanden hatte, wurde abgeschlagen. Und als sie fertig waren, marschierten die Wesmen auf Xetesk zu.

Es waren tausende.

»Ihr macht wohl Witze«, schnaufte Dystran.