19. KAPITEL

E ddie träumte von dem Engel … wieder einmal. Dieses Mal war es jedoch anders. Die bisherigen Träume waren wilde Mischungen aus halb vergessenen Erinnerungen und Wunschträumen gewesen. Nun jedoch weckten ihn die Bilder in seinem Kopf, die so klar waren wie eine wolkenlose Winternacht. Der erste Teil des Traumes war wie immer gewesen – er lag nach dem Unfall halb in einer Schneewehe begraben, stumm vor Schmerzen und Schock, kurz davor, sich zu Tode zu frieren. Die Leute, die aus der Kirche geströmt waren, sahen ihn nicht … bis der Engel kam. Und anders als in seinen bisherigen Träumen, konnte er dieses Mal das Gesicht des Engels erkennen.

Er setzte sich im Bett auf, mit einem Mal hellwach. Schnurstracks ging er zu seiner Gitarre und schrieb das Lied für das Krippenspiel. Einfach so – kein Zögern, kein Herumsuchen nach den richtigen Tönen und Worten. In seinem Leben hatte er schon viele Hundert Lieder für alle möglichen Gelegenheiten komponiert, aber noch nie hatte er mit einer solchen Klarheit und Überzeugung geschrieben. Er konnte es kaum erwarten, den Song Maureen vorzusingen, ihn ihr als Geschenk zu geben. Als Versprechen.

Unglücklicherweise musste er damit noch warten. Sie war auf irgendeiner Bibliothekarversammlung auf Long Island und blieb über Nacht weg. Die vierundzwanzig Stunden ohne sie zogen sich endlos dahin. Wenn sie wieder da wäre, versprach er sich, würde er ihr jede freie Minute widmen. Sein Ziel war klar: Sie sollte sich so in ihn verlieben, wie er sich in sie verliebt hatte. Vielleicht würde er mit ihr ins Apple Tree Inn fahren und … nein. Der Ort weckte immer noch schlechte Erinnerungen in ihm. Okay, vielleicht würde er sie dann mit zu sich nach Hause nehmen, in sein Häuschen am See. Zum Teufel, vielleicht würde er sogar für sie kochen. Auf jeden Fall würde er sie erneut lieben. Sie hatte ihn von Anfang an überrascht, aber nie so sehr wie in dem Moment, wo er sie mit ins Bett genommen hatte. Sie war süß und hatte überhaupt keine Angst davor, sich verletzlich zu zeigen. Sie entlockte ihm eine Zärtlichkeit, von der er nicht gewusst hatte, dass er sie besaß.

Auch in anderen Bereichen seines Lebens forderte sie ihn heraus. Sie machte es ihm nie leicht, weil sie nicht nur an seiner Oberfläche interessiert war, wie die vielen Autogrammjäger, sondern an dem, was sich darunter verbarg. Und zum ersten Mal in seinem Leben machte ihm das keine Angst.

Wo er jetzt schon mal wach war, nutzte er die Zeit, um ein wenig aufzuräumen. Das Haus war zwar nicht in einem katastrophalen Zustand, aber er wollte, dass es ihr hier gefiel. Er wollte ihr sein Lied auf der von Les Paul signierten Gibsongitarre vorspielen, die ihm sein Großvater geschenkt hatte. Er wollte ihr Dinge erzählen, die kitschig, aber wahr waren. Dinge, die sie zum Lächeln bringen würden. Er wollte ihr ein Geschenk machen, aber das Einzige, was sie sich wirklich wünschte, konnte er ihr nicht geben – dass die Bücherei überlebte. Verdammt. Wenn er das zustande bringen könnte, wenn er ihr das schenken könnte …

Er drehte das Problem in seinem Kopf hin und her. Rief seinen Anwalt an. Wenn die Jubiläums-DVD seines Films so gut lief, wie die Verkaufscharts sagten, könnte Eddie der Bücherei vielleicht ein wenig Zeit verschaffen. Zum Teufel, vielleicht könnte er seine neu gewonnene Popularität auch irgendwie einsetzen. Seine Clips im Internet hatten Trillionen von Klicks pro Stunde, da musste sich doch was draus machen lassen. Eddie wollte nicht wieder berühmt sein, aber vielleicht konnte er seine Bekanntheit nutzen, um der Bücherei zu helfen. Das würde Maureen gefallen.

Während er das Bett neu bezog, hörte er das neue Album der Drive-By Truckers und sang lauthals mit. Es schadete nichts, optimistisch zu sein.

In der Pause zwischen zwei Liedern hörte er das Läuten der Türklingel.

„Einen Moment“, rief er. „Ich komme.“ Er erwartete niemanden. Vielleicht war es Maureen. Vielleicht dachte sie das Gleiche wie er.

Er glaubte schon fast, dass sie es war, und öffnete die Tür mit einem breiten Lächeln im Gesicht.

„Überraschung!“, riefen seine Eltern gleichzeitig.

Oh, Mann. „Barb. Larry. Was macht ihr denn hier?“, fragte er.

„Wir wollten dich sehen. Und es ist so lang her, dass wir in Avalon waren. Ich hatte ganz vergessen, wie weihnachtlich es hier ist.“ Seine Mutter war so schön wie immer, mit ihrer modischen Frisur, dem teuer aussehenden Mantel und den Lederstiefeln, die zu ihrem schmalen Gürtel passten. Doch als sie ihn anschaute, war er versucht, den Tränen in ihren Augenwinkeln und dem leichten Zittern ihrer Mundwinkel zu glauben. Sein Vater, der jünger aussah als Mitte fünfzig, umarmte ihn herzlich und schüttelte ihm dann die Hand.

„Deine Mutter hat recht, Sohn“, sagte er. „Es ist viel zu lange her.“

„Es war eine Entscheidung aus dem Bauch heraus“, fügte Barb hinzu. „Wir sind hier, um Weihnachten mit dir zusammen zu verbringen.“

Neinneinneinneinnein. „Äh … ja. Also, was das betrifft …“

„Mach dir keine Sorgen. Wir werden dir überhaupt keine Umstände machen.“ Seine Eltern traten ein und brachten einen Hauch kalter Luft mit sich. „Wir bleiben im Inn am Willow Lake – ein zauberhaftes Hotel. Kennst du es? Maureen hat das alles für uns arrangiert.“

„Maureen? Woher kennt ihr Maureen? Und was hat sie mit all dem hier zu tun?“

„Sie hat uns besucht und sich vorgestellt. Sie war wohl auf einem Bibliothekartreffen in Seaview und hat sich die Zeit genommen, uns kennenzulernen. Wir finden sie einfach wunderbar, Eddie. So ernst und voller Ideen.“

Eddie versuchte, so verlogen zu sein wie sie. Er wollte sagen: „Danke, dass ihr gekommen seid“ oder „Ich freue mich, euch zu sehen.“ Aber als er seinen Mund öffnete, erklangen folgende Worte: „Euch anzurufen, einzuladen, das war alles Maureen Davenports Idee? Ich hatte keine Ahnung von ihren Plä nen.“

Seine Mutter drückte seinen Arm. „Ich werde daran denken, ihr nach der Aufführung an Heiligabend noch einmal zu danken“, sagte sie. „Sie scheint mir ein ganz wundervolles Mädchen zu sein.“

„Das findet jeder“, sagte Eddie abwesend, während er sich fragte, was, zum Teufel, Maureen sich dabei gedacht hatte.

„Wusstest du, dass sie in der Originalbesetzung der Christmas Belles gesungen hat?“, fragte Barb.

„Was?“

Sie reichte ihm eine in Cellophan gehüllte CD. „Die haben wir dir gekauft. Ihr Name steht gleich da vorne in der Liste der Sänger. Maureen Davenport. Ist es nicht toll, dass sie in der Gruppe war, die so eine schöne Interpretation deines Liedes aufgenommen hat?“

„Das ist nicht … guter Gott. Das ist nicht mein Lied. Ich habe kein Lied. Aber wenn ich eines hätte, wäre es bestimmt nicht das.“

„Das ist doch kein Grund, eingeschnappt zu sein.“ Barb schüttelte den Kopf. „Wie auch immer, zurück zu Maureen. Wie ich schon sagte, wir finden sie ganz wunderbar. Wir drei haben gleich vor Ort die Köpfe zusammengesteckt und alles arrangiert. Als Überraschung für dich. Bist du überrascht?“

Er zwang seine Mundwinkel, sich zu einem Lächeln zu verziehen. „Darauf kannst du wetten. Total überrascht.“

„Es ist so schön, nach all den Jahren zurück in Avalon zu sein“, sagte Barb noch einmal. Sie warf seinem Vater einen liebevollen Blick zu. „Erinnerst du dich noch an das erste Mal, als wir hier waren, Larry? Wir waren noch Kinder, und unsere Familien verbrachten den Sommer im Camp Kioga.“

Larrys Augen strahlten, als er sie anschaute. „Wie könnte ich das vergessen? Damals war das Camp noch für Familien, die der Hitze der Stadt entkommen wollten. Deine Großeltern Haven sind in allen möglichen Camps in der Region aufgetreten, aber Camp Kioga hat ihnen immer am besten gefallen.“ Sein Gesichtsausdruck wurde ganz weich, als er seine Frau anschaute. „Uns auch.“

Seine Eltern waren einander die besten Freunde. Da sie mit achtzehn geheiratet hatten, hatten sie sich praktisch gegenseitig großgezogen. Es war unglaublich, dass sie immer noch zusammen waren, aber auch wenn ihr Leben sich mit jedem Jahrzehnt komplett geändert hatte, besaß es dadurch auch eine gewisse Stabilität. Sicher, sie hatten keine Ahnung von der echten Welt gehabt, da sie beide aus Showbiz-Familien stammten. Sie hatten nicht immer die besten Entscheidungen getroffen, vor allem was ihren Sohn betraf. Aber es hatte nie ein Zweifel daran bestanden, dass sie einander liebten.

„Wir sind so froh, dass du deine Meinung bezüglich Weihnachten geändert hast“, sagte seine Mutter. „Und diese Maureen – ich kann sie gar nicht genug loben. Was für eine bezaubernde junge Lady.“

„Ja“, sagte Eddie. „Bezaubernd ist sie.“

Auf dem Weg zur Probe in der Kirche brodelte es in ihm, aber in der ganzen Hektik hatte er keine Chance, Maureen zur Rede zu stellen. Zwei Tage vor der Aufführung gingen noch Millionen Kleinigkeiten schief – kranke Kinder, ein Schneesturm und das Schlimmste: die Entdeckung, dass alle gelagerten Kostüme mit irgendeinem Insektizid oder einer Chemikalie besprüht und damit untragbar geworden waren. Maureen sah aus, als wenn sie jeden Augenblick zusammenbrechen würde. Nach einer schrecklichen Probe beeilten sich alle, die Kirche so schnell wie möglich zu verlassen.

Eddie entdeckte Maureen im Altarraum, wo sie auf einer Bank saß und blicklos auf das halbfertige Bühnenbild starrte. Sie sah zu ihm auf, und einen Augenblick lang wollte er vergessen, was sie getan hatte. Oder besser noch, er wollte so tun, als würde es nicht wehtun. Sie war so verdammt … nett. Ernst. Aber sie hatte ihm eine neue Seite an sich gezeigt, eine Seite, der er nicht vertrauen konnte. Sein Ärger muss offensichtlich gewesen sein, denn sofort wich sie mit fragendem Ausdruck in ihren Augen vor ihm zurück.

„Du hast meine Eltern hergeholt.“ Er lehnte sich mit der Hüfte gegen eine Kirchenbank und funkelte Maureen wütend an.

„Ich habe sie eingeladen“, stellte sie richtig. „Sie sind von ganz alleine gekommen.“

„Sie sind deinetwegen hier“, gab er wütend zurück.

„Nein“, widersprach sie ruhig. „Sie sind deinetwegen hier.“

„Jesus, Maureen, ich habe dir doch gesagt, wie das für mich ist. Es gibt einen Grund, warum ich Weihnachten nicht mit meiner Familie verbringe. Ich dachte, das hättest du inzwischen verstanden.“

„Familien sollten an Weihnachten zusammen sein.“ Ein aufmüpfiger Ausdruck schlich sich in ihr Gesicht und erinnerte ihn an die verschlossene, voreingenommene Frau, mit der er sich zu Anfang in den Haaren gelegen hatte.

„Nicht jede Familie kann an den Feiertagen so perfekt sein wie deine“, sagte er.

„Perfekt?“ Sie sah ihn ungläubig an. „So denkst du über meine Familie?“

Eigentlich schon, dachte er und sah vor seinem inneren Auge Hannah und Maureens Vater, ihre Geschwister, Nichten und Neffen. „Du hattest kein Recht, dich einzumischen.“

„Ich dachte nur …“

„Nein, Maureen, du hast nicht gedacht. Du hattest diese idealisierte Vorstellung in deinem Kopf, wie Weihnachten deiner Meinung nach sein soll. Und der Rest der Welt soll sich nach dieser Vorstellung richten. Tja, rate mal? So funktioniert es nicht.“

„Es wird niemals funktionieren, wenn du es nicht versuchst.“

„Hast du denn nicht genug auf dem Zettel mit dieser Aufführung morgen Abend und der Bücherei und allem?“, wollte er wissen. „Ich sag dir was. Lass uns einfach die Show hinter uns bringen, und danach musst du dich nicht mehr mit mir herumschlagen oder versuchen, meine Familie zu retten. Macht dich das glücklich?“

„Dich interessiert es gar nicht, ob ich glücklich bin“, sagte sie schlicht. „Und das erwarte ich auch nicht. Das ist nicht deine Aufgabe. Genau wie es nicht meine Aufgabe ist, deine Familie zu kitten. Ich habe sie einfach eingeladen. An Heiligabend ist jeder willkommen.“ Sie rutschte aus der Bank, wobei sie sorgfältig darauf achtete, ihn nicht zu berühren. Mit erhobenem Haupt und erstaunlicher Würde ging sie davon und ließ ihn einfach stehen.

Eddie biss die Zähne zusammen, um ihr nicht hinterherzurufen. Es ist besser so, dachte er. Besser, es nicht noch weiter zu führen, als es schon gegangen war, denn es würde kein gutes Ende nehmen. Er war ein Idiot, zu denken, er könne etwas mit einer Frau wie Maureen haben, einer Frau, die so geerdet war, so eng verbunden mit dem Leben ihrer Gemeinde und Familie. Sie beide würden es nie schaffen. Warum, zum Teufel, wollte er auch mit einer Frau zusammen sein, die ihm einen Spiegel hinhielt, in dem seine Makel viel zu gut zu erkennen waren?

Mit steifen Schritten ging er zu seinem Van und setzte sich hinters Lenkrad. Er fuhr viel zu schnell; das Heck seines Wagens brach auf der schneebedeckten Straße immer wieder aus. Vor seiner Tür wartete ein Päckchen mit dem Vermerk „Eilzustellung“ auf ihn. Er nahm es mit hinein und öffnete den Karton. Ein kleiner Umschlag mit einer Karte darin verriet ihm, dass das Paket von der Belegschaft der Silver Creek Productions war, der Firma, die den ursprünglichen Film und die überarbeitete DVD produziert hatte. Offensichtlich war es die sich derzeit am besten verkaufende DVD des Landes, und sie hatte ihm einen ordentlichen Bonus verschafft. Er wühlte sich durch die Styroporkügelchen und zog eine Magnumflasche Champagner heraus, die von der Wartezeit vor der Tür bereits schön gekühlt war.

Alle seine Sinne waren aufs Höchste gespannt. Er erinnerte sich an Champagner. Nur zu gut. Es ist, wie Sterne zu trinken, hatte Dom Perignon es einmal genannt.