17. KAPITEL

Sind Sie bereit für unser nächstes Date?“ Eddie passte seinen Schritt an Maureens an, als sie nach der Probe die Kirche verließen.

„Ich habe nicht zugestimmt, mit Ihnen auszugehen“, erinnerte sie ihn. „Das Schneeschuhwandern – damit haben Sie mich überrumpelt. Auch dazu habe ich nie Ja gesagt.“ Allerdings hatte sie auch nicht abgelehnt, wie sie zugeben musste.

„Okay, dann nennen wir es eben nicht Date. Ich habe sowieso etwas vor, das Sie lieber mögen.“

„Und was wäre das?“

„Shop ping.“

Maureen glaubte, sich verhört zu haben. „Sie wollen shoppen gehen?“

„Wollen ist vielleicht etwas zu viel gesagt. Ich muss. Ich habe noch keine Geschenke für meine Eltern.“ Er schüttelte den Kopf. „Noch etwas, was ich an Weihnachten liebe …“ Mit einer leichten Verbeugung öffnete er ihr die Beifahrertür seines Wagens.

Sie stutzte kurz, dann stieg sie ein. „Was gibt es denn daran nicht zu mögen? Weihnachtsgeschenke für die zu kaufen, die man liebt, ist doch toll.“ Sie war mal wieder unbeabsichtigt fasziniert von diesem Einblick in seine Welt. Es war irgendwie äußerst aufschlussreich – und vielleicht auch ein wenig romantisch –, mit einem Mann Geschenke einkaufen zu gehen. „Das ist der Teil, der mir an Weihnachten mit am besten gefällt.“

„Der ungezügelte Konsumterror?“

„Die Geste der Liebe. Jemandem etwas zu schenken muss nicht immer mit Geld zu tun haben. Ich habe eine große Familie und ein kleines Gehalt. Aber ich versuche immer, ein Geschenk auszuwählen, das der Beschenkte zu schätzen weiß. Manchmal kaufe ich auch gar nichts und verschenke einfach meine Zeit. Zum Beispiel letztes Jahr habe ich an Silvester auf die Kinder meiner Schwester aufgepasst, damit sie und ihr Mann zusammen ausgehen konnten.“

„Das ist aber ein verdammt großes Geschenk, die eigene Silvesternacht zu opfern.“

„Ich habe es gerne gemacht. Und ich weiß, was Sie jetzt denken. Sie glauben, es ist erbärmlich, dass ich an Silvester kein besseres Angebot hatte.“

„Ehrlich gesagt dachte ich gerade, dass ich gerne das bessere Angebot wäre.“

Sie unterdrückte das aufgeregte Flattern in ihrem Magen. Silvester mit Eddie Haven. „Ja, sicher.“

„Warum sind Sie immer so skeptisch?“

„Ich bin nicht immer skeptisch“, sagte sie. „Nur wenn es Sie be trifft.“

„Würden Sie mir verraten, wieso?“

„Weil ich Ihnen nicht vertraue. Ich versuche, Ihre verborgenen Motive herauszufinden.“

„Weil Sie überzeugt sind, dass es die geben muss.“

„Menschen wie Sie gehen nicht mit Menschen wie mir aus“, sagte sie. „Vor allem nicht am Silvesterabend.“

„Ach ja?“ Er lachte unterdrückt und lenkte den Van auf einen Parkplatz am Marktplatz, auf dem es an diesem Abend vor Kaufwilligen nur so wimmelte. „Was für ein Mensch bin ich denn Ihrer Meinung nach?“

Großartig. Er wollte, dass sie es aussprach. „Die Art Mensch, die an Silvester ausgeht und die ganze Nacht wegbleibt“, sagte sie. „Die, mit der jeder befreundet sein will. Das Herzstück einer jeden Party.“

„Und Sie sind das nicht?“

Jetzt war es an ihr, zu lachen. „Ich bin Bibliothekarin.“

„Nun stellen Sie Ihr Licht mal nicht unter den Scheffel. Die Welt ist voll mit heißen Bibliothekarinnen. Und mir gefällt, wie Sie lachen. Das sollten Sie öfter tun.“

„Es fühlt sich gut an zu lachen“, gab sie zu. Es fühlt sich gut an, in deiner Nähe zu sein. „Aber Sie haben gerade das Thema gewechselt. Wir sollten herausfinden, was Sie Ihren Eltern zu Weihnachten schenken können.“

Der Marktplatz war für die Adventszeit prächtig herausgeputzt. Als Nina Romano noch Bürgermeisterin von Avalon gewesen war, hatte sie einige Maßnahmen eingeführt, um die ortsansässigen Läden dazu zu ermuntern, ihre Dekorationen aufeinander abzustimmen. Das Ergebnis war ein Winterwunderland, das dieser Jahreszeit alle Ehre machte. Lichtergirlanden erleuchteten die Straßen und Schaufenster. Musik ertönte aus den Lautsprechern, und die gegen die Kälte dick eingepackten Passanten eilten von einem Geschäft zum nächsten. Maureen liebte dieses geschäftige Treiben. Sie kamen am Santaland vorbei, das hell unter einer zarten Decke Neuschnee strahlte. Kinder warteten in einer Reihe, um zum Weihnachtsmann vorgelassen zu werden und ihm ihre geheimsten Wünsche zu verraten. Sie warf einen Blick zu Eddie, der ungefähr so glücklich aussah wie jemand, dem gerade ein Zahn gezogen wurde.

„Da sind sie“, sagte Maureen und zeigte auf die aufgeregten Kinder; ein Anblick, der ihn doch sicher aufheitern musste. „Die echten Gläubigen. Sie werden es doch wohl nicht wagen und mir sagen, dass Sie als Kind nicht an den Weihnachtsmann geglaubt haben?“

„Ich habe nicht an den Weihnachtsmann geglaubt, als ich klein war. Nein, vielmehr habe ich aufgehört, an ihn zu glauben, als ich mir von ihm einen Hund gewünscht habe und er mich im Gegenzug um ein Autogramm bat.“

„Das ist nicht wahr!“ Maureen war empört.

„Glauben Sie, ich denke mir so was aus?“

Okay, genug vom Weihnachtsmann, dachte sie. „Lassen Sie uns über Ihre Familie sprechen. Was gefällt ihnen?“ Sie ging schon voran in einen Geschenkeladen.

„Die Happy Hour“, sagte er. „Die jeden Tag ungefähr um drei Uhr nachmittags beginnt.“

Oje. „Okay“, fuhr sie mutig fort. „Was mögen sie noch? Brettspiele? Musik? Sammeln sie vielleicht irgendwas?“ Sie machte eine Pause. „Alte Filme?“

„Einen ganz besonders.“ In seiner Stimme war kein bisschen Humor zu entdecken.

„Das ist nicht sehr hilfreich.“ Sie überlegte weiter. „Mögen Ihre Eltern Bücher? Wie steht es mit Hobbys, zum Beispiel Kochen? Golf? Handarbeiten …“

„Ich weiß es nicht, okay?“, gab er kurz angebunden zurück. „Also hören Sie endlich auf zu fragen.“

Sie sah ihn erstaunt an. „Ich verstehe das nicht. Wie können Sie diese Dinge nicht wissen?“

„Lassen Sie es gut sein, Maureen“, warnte er sie.

Ganz eindeutig hatte er vergessen, dass das hier seinem Wunsch gemäß ein Date sein sollte. Je näher sie ihm kam, desto verärgerter wurde er. Menschen verhielten sich defensiv, wenn sie …? Sie dachte einen Augenblick darüber nach. Wenn sie sich in die Ecke gedrängt fühlten. Oder schuldig. Wenn sie Angst hatten. Natürlich, das war total logisch. Aber wovor, in Himmels Namen, sollte Eddie Haven Angst haben?

Zutiefst fasziniert sagte sie: „Versuchen wir es anders. Stellen Sie sich Ihre Mom am Weihnachtstag vor. Sie haben Ihr gerade ein eingepacktes Geschenk überreicht. Was, hofft sie, befindet sich darin?“

„Das ist doch lächerlich. Woher, zum Teufel, soll ich wissen, was sie denkt?“

„Weil sie Ihre Mutter ist? Sie kennen sie Ihr ganzes Leben. Genau wie Ihren Dad. Wenn Sie am Weihnachtsmorgen das Haus betreten …“

„Okay, ich schätze, ich habe das nicht sonderlich gut erklärt. Die Idee war, etwas für meine Leute auszusuchen, es einpacken zu lassen und per Post zu schicken. Ende der Geschichte. Es geht nicht darum, meine Familienprobleme zu lösen.“

„Also haben Sie Probleme mit Ihrer Familie“, sagte sie.

„Wer hat die nicht.“

„Stellen Sie sich vor, was passiert, wenn Sie den ersten Schritt machen. Das ist der Zauber von Weihnachten.“

„Entschuldigen Sie bitte, wenn ich kurz in ein Zuckerkoma falle.“

„Eddie …“

„Meint er das ernst?“, fragte eine bekannte Stimme. „Hat er Diabetes? Oh, Maureen, und ich hatte so sehr darauf gezählt, dass er bei der Keksbörse hilft.“

„Was für eine schöne Überraschung.“ Maureen umarmte ihre Stiefmutter.

„Ich wollte noch ein paar Einkäufe erledigen, und dann treffe ich mich mit deinem Vater zum Abendessen. Hannah Davenport.“ Sie zog einen Handschuh aus und reichte Eddie die Hand. „Und Sie sind Eddie Haven. Ich konnte es kaum erwarten, Sie kennenzulernen.“

„Es ist mir ein Vergnügen. Und nein, ich bin kein Diabetiker. Ich versuche nur, Moe den Tag zu vergraulen.“

Moe. Renée hat mir schon erzählt, dass Sie ihr einen Spitznamen gegeben haben. Das gefällt mir.“ Hannah strahlte die beiden an.

Wunderbar, dachte Maureen. Sie hat dieses verräterische Kupplerfunkeln in den Augen.

„Ich zähle darauf, Sie am Samstag in der Bücherei zu sehen“, sagte Hanna. „Zur Keksbörse.“

„Das will ich um nichts auf der Welt verpassen“, erwiderte Eddie.

Maureen war ziemlich sicher, dass er keine Ahnung hatte, was eine Keksbörse war.

„Da fällt mir gerade etwas ein“, fuhr Hannah fort. „Sie können mit dem Probiertablett herumgehen. Oh ja. Das ist perfekt. Die Verkäufe werden ins Unermessliche steigen! Vielen Dank, Eddie, dass Sie uns da aushelfen. Sie sind ein Prinz, wirklich, das sind Sie.“ Sie strahlte ihn noch einmal an, dann sagte sie: „Ich bin schon unverzeihlich spät dran. Maureen, dein Vater wird mich umbringen.“

„Ich halte Ausschau nach einer entsprechenden Meldung in den Abendnachrichten“, sagte Maureen und umarmte sie. Als Hannah davoneilte, drehte Maureen sich zu Eddie um. „Herzlichen Glückwunsch. Sie sind gerade hannahrisiert worden. So nennen wir das in unserer Familie. Hannahrisiert werden heißt, zu etwas verpflichtet worden zu sein, bevor man noch verstanden hat, worum es geht oder ob man überhaupt daran teilnehmen möchte.“

„Ich verstehe. Und wozu habe ich gerade zugestimmt? Probiertablett mit was? Keksen?“

„Ha. Um das herauszufinden, werden Sie schon persönlich aufkreuzen müssen. Menschen, die es zulassen, hannahrisiert zu werden, sind auf sich allein gestellt. Kommen Sie Samstagmorgen zur Bücherei, und Sie werden überrascht sein.“

„Ich will nicht überrascht werden.“

„Ich wollte auch nicht Schneeschuhwandern gehen. Also sind wir quitt. Und wo wir gerade über Dinge sprechen, die wir nicht tun wollen, Sie haben immer noch nichts für Ihre Eltern gekauft.“ Sie schaute sich die Auslage im Schaufenster von Zuzu’s Petals an, dem interessantesten Geschäft Avalons. Die Boutique hatte ein Schild im Fenster stehen, das ankündigte, einen gewissen Prozentsatz aller Umsätze für den Erhalt der Bücherei zu spenden. „Hausschuhe aus Kaschmir?“, schlug Maureen vor und ging voran in den Laden. „Eine Uhr mit dem Foucault’schen Pendel? Was halten Sie von diesem signierten Druck von Daisy Bellamy?“ Sie zeigte auf ein dramatisches, üppig gerahmtes Bild der Meerskill Falls, die eine bewaldete Schlucht hinunterstürzten.

„Jetzt kommen wir der Sache näher. Wie wäre es mit allem?“ Er tätigte seine Einkäufe, und wenige Minuten später standen sie mit vollen Tüten wieder auf dem Bürgersteig.

„Das bringt ja überhaupt keinen Spaß“, beschwerte sich Maureen. „Das ist nicht Einkaufen, das ist … Bestellungenaufgeben.“

„Es ist effizient. Ich bin froh, dass Sie mitgekommen sind, Moe.“

Sie fühlte sich ein wenig ernüchtert. „Sie sind so ein … Mann. Wissen Sie denn nicht, dass beim Einkaufen der halbe Spaß in der Jagd nach dem Richtigen besteht?“

„Und die andere Hälfte?“

Sie lächelte ihn an. „An Weihnachten vollbeladen mit Geschenken durch die Tür zu treten. Die Gesichter der Menschen zu sehen, wenn sie die Päckchen aufmachen.“

Er schüttelte den Kopf. „Das wird nicht passieren.“

„Wie meinen Sie das?“

„Dass ich durch ihre Tür gehe. An Heiligabend werde ich mit dem Krippenspiel beschäftigt sein, also kann ich meinen Eltern auf gar keinen Fall einen Besuch abstatten.“

„Ja, aber am Weihnachtstag …“

„Es wird nicht passieren“, wiederholte er mit grimmiger Miene. „Was?“

„Warum wollen Sie sie an Weihnachten nicht besuchen?“

„Lassen Sie es mich so ausdrücken: Meine Eltern haben etwas andere Ansichten als ich, was Weihnachten angeht.“

„Gibt es da etwas, das Sie mir nicht erzählen? Waren sie grausam zu Ihnen? Haben sie Sie gezwungen, den Film zu machen?“

„Meine Güte, nein. Ich mache ihnen keinen Vorwurf. Sie hatten ein Kind, das gut schauspielern konnte, und sahen das als Gelegenheit, Geld zu verdienen.“

„Warum fahren Sie dann über Weihnachten nicht nach Hause?“, fragte sie ernsthaft verwirrt. „Es ist doch eine so schöne Gelegenheit, zusammen zu sein, sich zu entspannen und die Freuden der Feiertage zu genießen.“

„Moe, ich freu mich, dass es Ihnen und Ihrer Familie so geht. Meine Familie ist anders.“

„Das ist traurig, Eddie“, platzte es aus ihr heraus. „Das macht mich Ihretwegen traurig.“

„Das muss es nicht.“ Er lehnte sich gegen die Außenwand des Ladens, steckte die Hände in die Taschen und schaute in die Ferne, über den Platz mit seinen bunten Lichterketten. Er stieß einen tiefen, frustrierten Seufzer aus, und sein Atem blieb in einer Wolke vor seinem Mund in der Luft stehen. „Sie wollen wissen, wieso ich an Weihnachten nicht nach Hause fahre? Weil ich es nicht ertrage, dazusitzen und zuzuhören, wie sie von der guten alten Zeit schwärmen, davon, wie toll damals alles war. Ich ertrage es nicht, den Film noch einmal zu sehen, und ich will auch nicht die Deluxe-Edition für ihre Freunde signieren.“

„Und wenn Sie einfach nur Ihre Eltern besuchen, ohne all das Drumherum?“

„Das brauchen sie von mir nicht. Wir können nicht alle so verdammt funktional sein wie die Davenports, Moe.“

„Wir sind nicht funktional.“

„Okay, tut mir leid. Was ich sagen will, es besteht ein großer Unterschied in der Weise, wie unsere Familien mit den Feiertagen umgehen. Für uns ist es nicht so wichtig, diesen speziellen Tag miteinander zu verbringen.“

„Ist es wohl“, beharrte Maureen. „Jeder Tag ist wichtig, aber vor allem Weihnachten.“ Sie zögerte und nahm all ihren Mut zusammen, denn einem Fremden die Dynamik ihrer Familie zu erklären war immer schwer. „Hannah ist meine Stiefmutter“, sagte sie. „Ich bin verrückt nach ihr, und sie hat mir in der härtesten Zeit meines Lebens beigestanden.“ Sie beobachtete Eddies Gesicht und wusste, dass er sich an das erinnerte, was sie ihm über Paris erzählt hatte.

„Ich wusste nicht, dass sie nicht Ihre echte Mutter ist“, sagte er.

„Hannah und mein Dad sind seit zwanzig Jahren verheiratet und noch länger zusammen. Wir lieben sie alle und sind unglaublich glücklich, sie in unserem Leben zu haben.“

„Ist Ihre Mutter …“ Er wollte die Frage nicht laut aussprechen.

„Sie ist gestorben, als ich fünf war. Eines von uns Kindern hat einen Virus mit nach Hause gebracht – Kinder werden ja alle naslang krank –, und den hat sie sich eingefangen. Er hat ihren Herzmuskel angegriffen. Sie ist innerhalb weniger Wochen gestorben. Das Einzige, was sie hätte retten können, wäre eine Herztransplantation gewesen, und … nun ja, das ist nichts, was man wirklich planen kann. Mit fünf Jahren habe ich das kaum verstanden. Ich wusste nur, dass ich wie jedes andere Kind meine Mutter angebetet habe. Als sie starb, haben wir alle unser Herz verloren, die ganze Familie. Es ist über zwanzig Jahre her, aber ich vermisse sie immer noch jeden Tag.“

„Oh, Mann, das tut mir leid. Das ist … Mist. Es tut mir wirklich leid.“ Mit einer Geste, die vollkommen natürlich, aber dennoch unerwartet war, zog er sie an sich und drückte seine warmen Lippen auf ihre Stirn.

Sie hatte nicht erwartet, dass sein Mitgefühl sie so sehr berühren würde. Beinahe hätte sie vergessen, wieso sie ihm das überhaupt erzählt hatte. Sie entzog sich ihm ein wenig und schaute zu ihm auf. „Wissen Sie was? Meine Mutter war nicht perfekt. Ich wette, sie hatte ihre Fehler und Macken, genau wie Ihre Mutter. Na und? Ich würde alles geben, um noch einen einzigen Tag mit ihr erleben zu können.“

„Und es wäre Ihnen egal, ob dieser Tag Weihnachten oder irgendein anderer Tag ist“, merkte Eddie an. „Verstehen Sie mich nicht falsch, ich besuche meine Eltern oft.“

„Aber Weihnachten ist etwas Besonderes.“

„Vielleicht für Sie. Für mich ist es nur ein Tag wie jeder andere auch. Und für meine Familie ist es eine gute Entschuldigung, eine Flasche Cold Duck aufzumachen und sich an all die Sachen zu erinnern, die ich schon nicht so toll fand, als sie passiert sind.“

Seine Abneigung faszinierte sie. „Und Sie würden alles tun – inklusive Jahr für Jahr Sozialdienst zu leisten –, um ihnen an diesem besonderen Tag aus dem Weg zu gehen.“

„Sie haben Ihre Berufung verfehlt, Maureen. Sie hätten Psychiaterin werden sollen.“

„Familienberaterin.“

„Wie Sie meinen.“

„Daisy, das ist einfach unglaublich“, sagte Maureen und hielt das glänzende Poster in die Höhe.

Daisy wusste nie, wie ihre Arbeit bei anderen ankam, bis sie deren ungefilterte Reaktion erlebte. Sie sah, dass Maureen feuchte Augen hatte. „Unglaublich gut oder unglaublich schlecht?“, fragte sie und spürte, wie ihr Selbstbewusstsein sich darauf vorbereitete, in sich zusammenzufallen.

„Es ist perfekt“, versicherte Maureen ihr. „Denk dir nichts dabei. Zu dieser Jahreszeit reagiere ich auf alles zutiefst emotional. Danke dir vielmals. Jeder, der das sieht, wird zum Krippenspiel kommen wollen. Es ist so einladend.“

Das Poster zeigte einen zauberhaften nächtlichen Winterhimmel. Weit unten, so klein, dass es wie ein Spielzeug aussah, stand die Kirche mit der erleuchteten Krippenszene. Das Bild war verträumt und wirkte beinahe wie gemalt, nicht wie fotografiert.

„Ich bin froh, dass es dir gefällt.“ Daisy war direkt vom Drucker aus zur Kirche gefahren. „Ich bin halb bis zum Watch Hill hinaufgeklettert, um das Foto zu machen.“

„Nachts?“ Maureen schüttelte sich. „Im Schnee?“

„Ich hatte einen Freund dabei“, beruhigte Daisy sie schnell. Sie hatte ihren guten Freund Zach überreden können, sie zu begleiten. Er studierte ebenfalls in New Paltz und half ihr manchmal als Assistent oder bei schwierigen Aufnahmen.

Zu seinem Leidwesen war Zach auch noch ihr Lieblingsmodel. Mit seinen glatten weißblonden Haaren und den nordisch-kantigen Gesichtszügen war er einfach ein unwiderstehliches Motiv. Daisy war gerne mit ihm zusammen, denn anders als die anderen Männer in ihrem Leben stürzte er sie nicht in Gefühlsverwirrungen.

„Es ist einfach wunderschön.“ In der rechten unteren Ecke stand: „Regie: Maureen Davenport und Eddie Haven“. Maureen berührte ihren Namen mit dem Finger.

„Ich dachte, ich bekomme heute während der Proben vielleicht noch ein paar ungestellte Aufnahmen zusammen“, sagte Daisy, während sie ihre Lieblingskamera herausholte, eine digitale Spiegelreflex. „Natürlich nur, wenn du nichts dagegen hast.“

„Nein, natürlich nicht.“ Dennoch wirkte ihr Gesichtsausdruck ein wenig unsicher, als sie sich im Bühnenbereich der Kirche umschaute. „Ich fürchte nur, es ist hier ein wenig chaotisch.“

„Das ist ihre höfliche Art, auszudrücken, dass es nicht so läuft, wie sie es sich vorstellt“, sagte Eddie, der gerade in diesem Moment durch die Seitentür kam. Er hatte seinen Gitarrenkoffer und einen Verstärker dabei. „Stimmt’s, Moe?“

Daisy richtete die Kamera gerade rechtzeitig auf Maureen, um ihr spontanes und äußerst attraktives Erröten einzufangen. Okay, ich verstehe, dachte sie. Und als Eddie Maureen angrinste, nahm Daisy das ebenfalls auf. Das war ein Teil ihrer Arbeit, den sie besonders liebte – die Gefühle von Menschen einzufangen, vor allem die ehrlichen, unverstellten. Vielleicht war das der Grund, warum sie eine so gute Hochzeitsfotografin war. Sie liebte das, was die Kamera über Menschen enthüllte, wenn diese einfach sie selbst waren und nicht überlegten, wie sie aussahen oder wirkten. Im Frühling und Sommer verdiente Daisy mit Hochzeitsfotos ihren Lebensunterhalt. Viele Fotografen scheuten sich davor, Hochzeiten zu fotografieren, aber Daisy liebte es. Der Hauch von Dramatik und die intensiven Gefühle, die in der Luft lagen, inspirierten sie; die übersprudelnden Glücksgefühle und selbst die angespannten Nerven. Vielleicht mochte sie Hochzeiten auch so gern, weil sie nicht erwartete, jemals selber eine zu feiern. Zumindest keine traditionelle. Dafür war ihre Vergangenheit zu kompliziert. Und ihre Gegenwart zu angefüllt mit Charlie. Die Chancen, dass sie in der Zukunft die Rolle der traditionellen Braut spielen würde, waren also sehr gering. Was nur ihren Blick für die anderen schärfte. Wie Maureen und Eddie. Zwischen den beiden stimmte die Chemie. Sie würden ein großartiges Brautpaar abgeben – was sie allerdings nicht zu wissen schienen.

„Nein, das stimmt nicht“, widersprach Maureen. „Ich bin nicht die Einzige, die glaubt, dass das Programm auf sehr wackligen Beinen steht.“

Eddie wandte sich an Daisy. „Siehst du, mit was ich mich hier herumschlagen muss?“

„Wo sind die drei Weisen?“, fragte Maureen. „Sie haben die letzten beiden Proben versäumt.“

„Ray arbeitet mit ihnen“, sagte Eddie. „Alles wird gut.“

„Und was ist mit Cecil Byrne? Wer arbeitet mit ihm?“ Sie warf Daisy einen verzweifelten Blick zu. „Er ist ein wirklich netter Junge, aber er kann einen Ton nicht mal in einem Korb mit Stützrädern halten.“

„Und Sie glauben, das ist wichtig?“, fragte Eddie.

„Wir sind da!“ Die breite Doppeltür des Kirchenvorraums flog auf, und hinein strömten die kleineren Schulkinder. „Wir sind bereit für die Proben“, sagte ein Mädchen.

„Und die Proben sind bereit für euch“, sagte Eddie. „Kommt, lasst uns gleich anfangen.“ Er berührte Maureens Arm. „Ich mach das. Schön, dich zu sehen, Daisy.“

„Mach nur mit deinen Fotos weiter“, sagte Maureen und blies sich eine Haarsträhne aus den Augen. „Wenn die Kinder eines sind, dann süß.“

„Ich weiß, was du meinst.“ Daisy wurde ernst. „Maureen, ich wollte nur Bescheid sagen, dass ich bei der Aufführung an Heiligabend nicht dabei sein kann.“

„Du hast andere Pläne?“

„Ja. Charlie und ich werden Weihnachten mit der Familie von Charlies Dad auf Long Island verbringen.“ Daisy hatte geweint, als sie es ihren Eltern erzählt hatte, aber beide waren unglaublich verständnisvoll gewesen.

„Eddies Eltern leben auch auf Long Island.“ Wie magnetisch angezogen, wanderte Maureens Blick zu ihm hinüber.

Dich hat es aber schwer erwischt, dachte Daisy und verbarg ihr Lächeln. „Hier sind noch ein paar Aufnahmen, die ich für das Poster gemacht, aber nicht genommen habe.“ Sie reichte ihr eine Mappe mit Bildern. „Wenn es dir lieber ist, können wir auch etwas Traditionelleres nehmen.“

„Nein! Mir gefällt das Bild, das du ausgewählt hast.“ Maureen blätterte die großformatigen Fotos durch. „Du bist so gut“, sagte sie. „Das ist ein beeindruckendes Portfolio.“

„Abgesehen von Charlie ist Fotografieren seit der Highschool mein Leben. Ich bin froh, dass ich diese Leidenschaft entdeckt habe. Sie verbindet mich mit der Welt.“

Maureen verweilte bei einem Bild von Daisys besten Freunden, Zach und Sonnet.

„Ich kenne die beiden aus der Bücherei.“

„Sonnet ist meine Stiefschwester; sie macht dieses Jahr ein Praktikum im Ausland. Ich vermisse sie sehr. Und Zach … Er ist Zach Alder. Er hat auch mal in Avalon gewohnt, ist jetzt aber weggezogen.“

„Ich erinnere mich an das, was passiert ist. Er hat mir immer so leidgetan.“

„Ihm geht es gut“, versicherte Daisy ihr. „Er arbeitet und studiert in New Paltz.“

Maureen blätterte um und schaute auf ein Bild von Julian Gastineaux. „Oh.“

Ihr Tonfall sagte alles. Jeder sagte auf diese Weise „oh“, wenn er Julian sah.

„Das ist also eine Keksbörse.“ Eddie betrat das Foyer der Bücherei, in dem es nur so vor Menschen wimmelte. Am Rand waren Tische aufgebaut, die offensichtlich als Stände für einen Keksverkauf dienen sollten.

Maureen nahm ihn am Eingang in Empfang. „Richtig. Wir sind sehr froh, dass Sie gekommen sind, um uns zu helfen.“

„Mit dem Konzept bin ich allerdings nicht vertraut.“ Er trat einen Schritt zurück und musterte Maureen. Sie hatte einen Stechpalmenzweig im Haar stecken und trug eine mit Rüschen besetzte Schürze, die über und über mit Handabdrücken von Kindern bedruckt war und auf deren Rand eingestickt war: Für Miss Davenport mit ganz viel Liebe. Die meisten Frauen wären zu modisch, um diese handgemachte Schürze zu tragen, aber an Maureen sah sie süß aus. Wenn er ehrlich war, fand er irgendwie alles an ihr süß, aber jedes Mal, wenn er versuchte, ihr das klarzumachen, wurde sie misstrauisch. Nach dem, was sie ihm über ihre erste Liebschaft erzählt hatte, konnte er das verstehen – zumindest ein bisschen. Was er nicht verstehen konnte, war ihre Weigerung, der Liebe noch eine Chance zu geben. Er hatte noch nie eine Frau getroffen, die so viel Angst davor hatte, das Herz gebrochen zu bekommen. Er wollte ihr beweisen, dass nicht jede Beziehung so enden musste. Er wollte, dass sie daran glaubte, dass einige Beziehungen niemals endeten. Warum er derjenige sein wollte, der ihr das bewies, war ein Thema, das er seit dem gemeinsamen Abend in der Bibliothek in seinem Herzen trug.

„Kommen Sie, ich zeige Ihnen alles.“ Sie nahm seine Hand und zog ihn mit sich in den großen, offenen Raum. Es schien, als wäre die ganze Stadt versammelt. Maureen stellte ihm Jane und Charles Bellamy vor, die erst kürzlich nach Avalon zurückgekehrt waren, um ihre goldenen Jahre hier zu verbringen. Er erkannte einige der anderen Besucher: Noah und Sophie mit ihren beiden jüngeren Kindern. Maureens Freundin Olivia und deren Schwester Jenny aus der Bäckerei. Bo Crutchers Schwiegermutter Mrs Carminucci, die eine große Packung Kekse in der Hand hielt. Greg und Nina Bellamy – Nina war zu der Zeit von Eddies Unfall die Bürgermeisterin der Stadt gewesen und hatte dem Richterspruch laut applaudiert. Genau wie Eddie – zumindest im Nachhinein. Denn ohne die Verurteilung zum Sozialdienst hätte er keinen Ort, an den er jedes Jahr an Weihnachten zurückkehren konnte, was ihn davon abhielt, Dummheiten zu begehen.

Er merkte, dass Maureen ihn beobachtete. „Mir fällt gerade auf“, sagte er, „dass ich in Avalon mehr Leute kenne als in meiner Nachbarschaft in New York.“

„Vielleicht wohnen Sie am falschen Ort“, sagte sie und drehte sich schnell um, bevor er feststellen konnte, ob sie sich einen Spaß erlaubte oder es ernst meinte.

In der Mitte des Raumes stand der Weihnachtsbaum in seiner ganzen Pracht. Kinder aller Altersklassen hatten sich um ihn herum versammelt, mampften Kekse und bestaunten die Lichter und Dekorationen mit glänzenden Augen. Eddie dachte an das, was Maureen über Kinder und den Zauber der Weihnacht dachte. Sie wollte ihn genauso von seinem Widerwillen Weihnachten gegenüber heilen, wie er sie von ihrem Widerwillen der Liebe gegenüber heilen wollte. Vielleicht könnten sie daraus einen Deal machen.

„Wir veranstalten die Keksbörse schon seit Jahren, um Spenden für die Bücherei zu sammeln“, erklärte Maureen. „Und dieses Jahr ist sie wichtiger als je zuvor.“

„Kopf hoch, Moe.“

„Ich habe mal nachgerechnet“, sagte sie und deutete auf die ausgestellte Grafik mit dem aktuellen Spendenstand. „Und abgesehen von einem Banküberfall sehe ich keine Möglichkeit, genug Geld zusammenzubekommen.“

„Man kann das Chart auch auf andere Weise interpretieren.“ Er zeigte auf die Besucherstatistik. „Wenn jeder, der die Bücherei im vergangenen Jahr genutzt hat, spenden würde, wäre alles geritzt.“

„Da sprechen wir von einer Menge Leute.“ Maureen schüttelte den Kopf. „Tausende.“

„Und damit schließe ich meine Beweisführung ab.“

„So funktioniert das vielleicht in einer perfekten Welt, aber diese Welt ist nicht perfekt.“

„Meine Güte“, sagte Eddie. „Sie müssen mehr Kekse essen.“

Sie schenkte ihm ein zittriges Lächeln, das in ihm den Wunsch weckte, sie ganz fest in den Arm zu nehmen. „Ich werde an meiner Haltung arbeiten. Heute war kein guter Tag“, gab sie zu. „Unser Betriebsleiter ist ohne Vorwarnung gegangen. Er hat einen Job in Green Bay bekommen.“

„So, und wie war das jetzt mit den Keksen?“, wechselte er das The ma.

„Stimmt, tut mir leid.“ Sie machte sich ein wenig gerader und glättete ihre bunte Schürze. „Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.“

Er betrat das Atrium und war sofort umgeben von einem süßen Duft. In der Luft lag das Aroma von selbst gebackenen Keksen, von Butter und Zucker, Zimt und Schokolade. Alles wurde auf langen Tischen angeboten, und Freiwillige gingen mit Tabletts umher, auf denen sie Proben anboten. Lebkuchenengel, Zitronenriegel, Schokoladen-Minz-Plätzchen, Pekannuss-Maronen. Daisy Bellamy war auch da und machte Fotos – Nahaufnahmen von mit Leckereien gefüllten Tellern, Fotos von staunenden Kindern und lachenden Erwachsenen. So sollte Weihnachten sein, dachte Eddie. Aber all die guten Geister der Welt würden die Bücherei nicht retten können.

„Ich sterbe hier drinnen, Maureen“, sagte Eddie. „Wissen Sie, wie gut das riecht?“

„Es ist schwer zu widerstehen, oder? Der Tisch der Davenports ist hier entlang.“

Es war verdammt lange her, dass eine Frau ihn ihrer Familie vorgestellt hatte. Normalerweise vermasselte er es lange vorher. Das war das Schöne daran, das Krippenspiel zusammen mit Maureen auf die Beine zu stellen. Bis Weihnachten gab es für sie kein Entkommen. Wenn er es also mit ihr auch vermasseln sollte, blieben ihm noch ein paar Wochen, um es wiedergutzumachen.

Die Davenport-Familie kümmerte sich um einen langen Tisch an der Rückseite der Bücherei. Maureens Vater Stan war ein silberhaariger Patriarch in einem schlichten roten Hemd, dessen Ärmel er aufgerollt hatte. Seine Frau Hannah strahlte wie die Frau vom Weihnachtsmann, während sie Probierstückchen von Nusskeksen und verzierten Rosinenschnitten austeilte. Die Schwestern – Renée, die er schon einmal kurz getroffen hatte, Janet und Meredith – waren offen und lustig, und Guy, der Bruder, nahm es gutmütig hin, dass seine Frau Mindy ihn herumkommandierte.

„Versuchen Sie die mal“, sagte Meredith. „Das ist nach einem Rezept von unserer Großmutter.“

Eddie biss in einen Keks aus weißer und dunkler Schokolade und verdrehte verzückt die Augen. „Mein Gott“, sagt er. „Ich glaube, das ist das Beste, was ich jemals in meinem Leben gegessen habe.“

„Oh, wir fangen gerade erst an“, sagte Janet. „Rumkugel?“

„Danke, aber von Rum halte ich mich fern“, erwiderte er. „Wie wäre es mit einem von denen hier? Was ist das?“

„Ein weicher Keks mit Sirup, der Ihr Leben für immer verändern wird“, sagte Mindy.

Eddie probierte einen. „Wenn Ihnen das kein Vermögen einbringt, weiß ich es auch nicht.“

„Nett ge sagt.“

„Nein, ich meine das ernst. Diese Kekse könnten die Bücherei wirklich retten. Vielleicht sogar die ganze Welt.“

„Für die Keksbörse kramen die Leute ihre besten Keksrezepte heraus“, erklärte Janet. „Alle sind verdammt ehrgeizig.“

Maureen nahm Eddie beiseite. „Also, was denken Sie über meine ‚funktionale‘ Familie?“

„Ich habe das nicht böse gemeint“, verteidigte Eddie sich mit einem Grinsen. „Eher im Gegenteil. Ich habe noch nicht viele Familien getroffen, in denen alle miteinander klarkamen.“

„Das heißt, in Ihrer Familie ist es nicht so?“

„Es geht“, sagte er. „Na ja, es ist kompliziert.“

Sie schaute ihn einen Augenblick lang an, in ihren Augen sah er Mitgefühl. „Dann sollten Sie etwas unternehmen“, sagte sie leise. „Und zwar eher früher als später.“

Er hob seine Hand und strich vorsichtig über ihre Wange. Die leichte Berührung ließ sie erröten. „Hoffen Sie nicht zu sehr darauf, Moe.“

„Aber …“

„Wir freuen uns schon alle darauf, Sie besser kennenzulernen, Eddie“, sagte Hannah in dem Moment und trat neben ihn. „Maureen hat uns schon so viel von Ihnen erzählt.“

„Hat sie? Was Sie nicht sagen.“ Er war überrascht.

„Wow, nicht so schnell. Sie wissen, dass das nicht stimmt“, protestierte Maureen und errötete noch mehr.

„Unsinn, natürlich stimmt das.“ Hannah strahlte Eddie an. „Seit kurz vor Thanksgiving spricht sie von nichts anderem mehr.“

„Bitte erschießt mich gleich hier und jetzt“, sagte Maureen zu niemand Speziellem.

„Mit Amors Pfeil“, verkündete Hannah und streckte ihre Hand mit dem Silbertablett aus, auf dem eine verlockende Auswahl an Keksen lag. „Nehmen Sie doch einen Nusskeks, Eddie.“

„Danke, gerne.“ Er nahm sich ein Stückchen und kaute es genüsslich mit geschlossenen Augen. Er war sehr zufrieden – sowohl mit dem Keks als auch mit dem, was Hannah gerade enthüllt hatte. „Um auf die Sachen zurückzukommen, die Maureen Ihnen erzählt hat …“

Maureen sah mit Bestürzung zu, wie Eddie sich problemlos in ihre Familie einfügte. Sein natürlicher Charme kam ihm dabei zu Hilfe. Sie umrundeten ihn wie ein warmer Kokon: Hannah, die Schwestern, die verschiedenen Nichten und Neffen. Sogar Maureens Vater und Bruder wurden sofort mit ihm warm. Es dauerte nicht lange, und man bot sich das Du an. Was für eine ideale Kombination, dachte sie. Eddies Charme und die Offenheit ihrer Familie waren wie füreinander gemacht. Der einzige Fehler in der Gleichung war … sie. Sie fühlte sich in seiner Gegenwart einfach nicht wohl – und zwar aus Gründen, denen sie sich lieber nicht stellen wollte. Denn sie hatte sich schon halb in diesen Mann verliebt. Vielleicht sogar mehr als halb. Und es wurde immer schwerer, ihre Gefühle zu verbergen. Doch das musste sie. Es war zu riskant, sich von dem, was auch immer da zwischen ihnen war, mitreißen zu lassen.

Sie betrachtete ihre Familie mit einer Mischung aus Zuneigung und Verzweiflung. Hannah war die Anführerin, wie immer. Maureens Stiefmutter war sehr glücklich in ihrer Ehe und der Meinung, es wäre jedem bestimmt, den passenden Partner zu finden.

Außerdem sah sie es nicht nur als ihr Recht, sondern sogar als ihre Pflicht an, sich in das Leben ihrer Stiefkinder einzumischen. „Als ich jünger war, war ich eine überzeugte Junggesellin“, erzählte sie Eddie, froh, endlich mal wieder jemand Neuen gefunden zu haben, dem sie ihre Geschichte erzählen konnte. „Mit Heiraten und Ehe hatte ich nichts am Hut. Und Kinder? Vergiss es. Dann hab ich diesen Mann kennengelernt.“ Sie strahlte Maureens Vater an. „Einen Witwer mit fünf kleinen Kindern. Wie wahrscheinlich war das bitte?“

„Ziemlich wahrscheinlich“, schaltete Maureens Dad sich ein, „weil ich dich schon ungefähr ein Jahr lang im Auge hatte.“ Er zwinkerte Eddie zu. „Jetzt mal ernsthaft. Sie hat einen riesigen Sprung ins eiskalte Wasser gewagt. Sie dachte, dass ich vielleicht beschädigte Ware war, nachdem ich meine Frau so plötzlich verloren hatte. Um ehrlich zu sein, waren wir alle beschädigt. Und dann kam Hannah und hat unsere Familie wieder aufgebaut.“

„Eine nie endende Arbeit“, sagte Hannah. „Vor allem du, junge Frau. Ich bin froh, dass du mit Eddie ein wenig Spaß hast. Den solltest du dir warmhalten.“

Maureens Wangen brannten. „Wirst du es denn nie leid, solche Sachen zu sagen? Wieso kommst du damit immer durch?“ Sie wandte sich an Eddie. „Tut mir leid.“

„Machen Sie Witze? Ich kann es kaum erwarten, mehr zu hören.“

„Und ich kann es kaum erwarten, dass ihr endlich aufhört, euch so förmlich zu verhalten. Meine Güte, jetzt lasst doch mal das dämliche Sie.“

Maureen starrte Hannah böse an. „Du musst Kekse verkaufen.“ Und mit einem ebenso finsteren Blick zu Eddie sagte sie. „Und du sollst mit dem Probiertablett herumlaufen und die Leute dazu bringen, reichlich zu spenden.“

„Kein Problem, dazu brauche ich nur ein Tablett.“ Sobald er es in Händen hielt, glitt er wie ein gelernter Ober durch die Menge. Innerhalb von Minuten war er von Menschen umringt. Hauptsächlich von Frauen, wie Maureen auffiel. Nicht, dass sie es ihnen übel nehmen konnte. Eddie besaß eine Anziehungskraft, die weit über sein Aussehen hinausreichte. Es wurden Fotos gemacht, und nicht einmal wurde er müde zu lächeln. Das war das Problem mit Männern, die schauspielern konnten. Man konnte nie sicher sein, was echt und was gespielt war. Sein lautstarkes Anpreisen der Kekse führte zu einem Ansturm an Hannahs Tisch, und schnell war nichts mehr übrig.

Der Präsident des Ausschusses trat an Eddie heran, und sie sprachen eine Weile miteinander. Dann ging Mr Shannon zum Podium und tippte gegen das Mikrofon, um die Aufmerksamkeit aller zu erwecken. Er hielt eine kurze Rede, in der er die schwierige Lage der Bücherei erklärte. Dann sagte er: „Und nun heißen Sie einen ganz besonderen Gast willkommen, der unser Anliegen unterstützt: Mr Eddie Haven!“

Eddie trat aufs Podium und justierte das Mikrofon. Er lächelte und ließ seine weißen Zähne und blauen Augen strahlen.

„Danke für den herzlichen Empfang“, sagte er. „Ich muss zugeben, das hier ist meine erste Keksbörse, und jetzt, wo ich endlich weiß, was das ist, werden Sie mich vermutlich nicht mehr loswerden. Als Kind bin ich mit meiner Familie viel herumgereist, und an den Feiertagen sind wir jeden Abend in einer anderen Stadt aufgetreten.“

Maureen stellte sich das bildlich vor, und sofort wurde sie unendlich traurig. Sie schaute sich im Raum um, ob sie die Einzige war, der es so ging, und bemerkte dabei überrascht eine ungewöhnliche Besuchergruppe, bestehend aus den Veltry-Brüdern, Jabez und Cecil Byrne. Zwischen diesen so unterschiedlichen Jungen hatte sich eine unerwartete Freundschaft entwickelt. Sie ging zu ihnen hinüber, um sie zu begrüßen und ihnen einen Flyer von der Keksbörse zu überreichen.

„Wir haben keine Kekse zum Tauschen mitgebracht“, sagte Randy Veltry mit leiser Stimme, da Eddie immer noch sprach.

„Sie nehmen stattdessen auch gerne Bargeld“, flüsterte Cecil und zog sein Portemonnaie heraus.

Maureen spürte einen Anflug von schlechtem Gewissen. Sie überlegte, ob es nicht doch ein Fehler gewesen war, nicht auf das Angebot von Cecils Großvater einzugehen und ihm die Hauptrolle zu geben. Doch nun war es zu spät, und Cecil war ein netter Junge, der mit seinem Part im Stück vollkommen zufrieden schien. Sie hoffte nur, dass er seinen Großvater ebenfalls davon überzeugen konnte.

Jabez war sehr still und hörte Eddie aufmerksam zu. Als er ihre Aufmerksamkeit auf sich spürte, dreht er sich um und nickte ihr grüßend zu. „Das macht einen irgendwie traurig, oder?“, sagte er. „Ich meine, das mit seiner Familie.“

„Ja, das stimmt.“ Maureen musterte Jabez genauer. Er war schnell zu einem ihrer Lieblinge geworden, auch wenn sie ihn gar nicht gut kannte. „Wie steht es mit deiner Familie, Jabez?“, fragte sie und hoffte, nicht zu neugierig zu klingen.

Sein Gesichtsausdruck wurde ganz weich, auch wenn er seine Augen immer noch auf Eddie gerichtet hielt. „Jeder sollte an Weihnachten mit seiner Familie zusammen sein“, sagte er. „Menschen, die Weihnachten lieber alleine verbringen möchten, sind diejenigen, die am meisten eine Familie brauchen.“

Das ist typisch für Jabez, dachte Maureen. Dinge zu sagen, die nicht wirklich etwas über ihn verrieten. Das, was er eben gesagt hatte, war viel mehr auf Eddie gemünzt als auf Jabez. Er schien so geerdet und weise, was für jemanden seines Alters wirklich ungewöhnlich war. Hannah würde sagen, er ist eine alte Seele. Er strahlte eine unglaublich beruhigende und stille Sicherheit aus, eine Art Frieden, die jeden in seiner Nähe erfasste. Weltliche Sorgen schienen Jabez nicht so wichtig zu sein, wie jemandem zum Lächeln zu bringen.

„Aber in jeder Stadt, die wir besucht haben“, sagte Eddie gerade, „konnte ich immer eine Bücherei finden. Sie ist ein Ort, an dem die Fantasie von Kindern Flügeln bekommt und wo die intellektuelle Freiheit der Menschen ungestört ausgelebt werden kann. Es gibt keinen Wert, mit dem sich das beziffern lässt, was eine Bücherei für eine Stadt bedeutet. Aber es gibt Kosten. Diese Bücherei soll zum Ende des Jahres schließen. Die einzige Hoffnung, sie am Leben zu erhalten, ist, wenn jeder Mensch aus dieser Gemeinde seinen Teil dazu beiträgt. Darum geht es heute. Und um Kekse. Also sollten wir diese alle genießen. Und wenn Sie dieses Jahr spenden, dann denken Sie bitte auch an die Bücherei.“

„Wow, Hannah hat zum ersten Mal recht behalten“, flüsterte Janet ihrer Schwester ins Ohr. „Ich liebe ihn einfach.“

Ich auch, dachte Maureen und überraschte sich selber mit diesem stillen Eingeständnis.

Schnell riss sie sich von diesem Gedanken los und sah, wie eine Frau Eddie mit ihren Blicken verschlang, während sie sich ein Probierstückchen von seinem Tablett aussuchte.

Maureen schüttelte den Kopf. „Ich frage mich, wie das ist, so beliebt zu sein.“

„Frag ihn einfach“, schlug Janet schulterzuckend vor.

„Frag ihn was?“ Meredith gesellte sich zu ihnen.

„Ich dachte nur gerade darüber nach, wie schwer es wäre, mit jemandem wie ihm zusammen zu sein“, gab Maureen zu. „Mit jemandem, der so attraktiv und beliebt ist. Wann hätte er Zeit für jemand anderen? Ich würde mich immer so fühlen, als stünde ich in Konkurrenz mit der ganzen Welt.“

„Schreibst du ihn ab, weil er zu berühmt ist?“

„Nein, weil wir nicht zusammenpassen.“

Jemand zupfte an ihrem Rock, und als sie nach unten schaute, sah sie einen ihrer jüngsten Besucher, ein Kindergartenkind namens Toby. „Hallo, Ms Davenport“, sagte er und schaute sie aus großen Augen bewundernd an. „Das hier ist für Sie.“ Er bot ihr einen Keks mit neonfarbenem Guss und bunten Streuseln an.

„Danke, Toby.“ Maureen umarmte ihn. „Ich wünsche dir eine ganz schöne Weihnacht.“

„Weißt du, du siehst das falsch“, nahm Meredith den Faden der Unterhaltung wieder auf, nachdem der Kleine davongesaust war. „Du bist genauso beliebt wie er, nur sind deine Fans kleiner.“

„Stimmt.“ Maureen lächelte.

„Und es gibt noch was, womit Hannah recht hat“, sagte Janet. „Du wirst eines Tages eine großartige Mutter sein.“

„Wow, nun aber mal langsam. Wie bin ich vom Keksverkauf zur kurz bevorstehenden Mutterschaft gelangt?“

„Willst du keine Kinder?“

„Natürlich. Ich will auch Millionärin werden, aber das heißt ja nicht, dass es auch geschieht.“

Maureen behielt einen leichten Tonfall bei und verdrängte alle Gedanken an die Vergangenheit. Ihre Schwestern wussten nichts davon. Niemand wusste es. Sie war versucht gewesen, es Eddie zu erzählen, an dem Tag, als sie Schneeschuhwandern waren. Ausgerechnet Eddie. Aus irgendeinem Grund hatte er sich an dem Tag wie ein bester Freund angefühlt.

„Du bist zu jung, um so zynisch zu sein“, fand Meredith.

„Ich bin auch zu jung, um übers Kinderkriegen nachzudenken.“

„Aber du kannst so gut mit Kindern umgehen“, sagte Janet.

„Ich kann auch Chopins Nocturnes gut spielen, bin aber trotzdem nicht bereit für ein Leben als Konzertpianistin.“ Maureen gefiel die Richtung nicht, die die Unterhaltung nahm. „Warum kann sich niemand vorstellen, dass man keine Ehe und Kinder braucht, um ein erfülltes Leben zu haben?“

„Doch, das kann man“, stimmte Janet ihr loyal zu. „Aber stimmt das auch für dich?“ Der Blick, den Janet mit Meredith tauschte, war voller Zweifel.

„Ich habe Freunde“, sagte Maureen. „Ich hab meinen Lesekreis. Mein wöchentliches Mah-Jongg-Spiel. Und ich kann so viel Zeit, wie ich will, mit meinen Nichten und Neffen verbringen. Ich bin in der Kirche aktiv und habe ein Abo in der Met. In meinem Leben ist eine ganze Menge los. Dieses Wochenende halte ich eine Rede bei einer Versammlung der Bibliothekare auf Long Island.“ Sie traute sich nicht, zu sagen, dass diese Veranstaltung in Seaview stattfand, dem Ort, in dem Eddie Havens Eltern lebten. Es war vielleicht nicht richtig, aber sie musste die beiden unbedingt kennenlernen. Sie hatte das Gefühl, sie hatten überhaupt keine Ahnung, warum Eddie ihnen an Weihnachten aus dem Weg ging.

„Es ist befreiend, oder?“, sagte Meredith und knabberte an einer Polvorone, die mit reichlich Puderzucker bestäubt war. „Zu wissen, dass man keinen Mann in seinem Leben braucht? Das lässt einem Raum für die wichtigen Dinge.“

Wie Kardiologie, dachte Maureen. Das war Merediths Leidenschaft. Die älteste der Davenport-Schwestern war wundervoll, aber sie hatte auch ihre Probleme. Über die sie allerdings nie direkt sprachen. Meredith konnte einfach nicht vergessen, dass sie diejenige gewesen war, die vor so vielen Jahren krank aus der Schule heimgekommen war und den Virus mitgebracht hatte, der ihnen die Mutter nahm.

„Ja, aber sie will gar nicht von Eddie Haven befreit werden“, wandte Janet ein.

Renée gesellte sich zu ihnen. „Ihn umgibt irgendwie eine gewisse Traurigkeit, oder?“

„Er fährt an Weihnachten nicht nach Hause“, sagte Maureen.

Ihre Schwestern wirkten erschüttert. „Das ist ja grausam“, sagte Renée.

„Es ist … kompliziert.“ Maureen verspürte einen leichten Schmerz, als sie an das dachte, was Eddie ihr erzählt hatte.

„Das ist einfach nicht richtig“, sagte Janet. „Deswegen musst du etwas unternehmen.“

„Ich habe versucht, mit ihm zu reden, aber er wollte nichts davon hören.“

„Nein, ich meine etwas tun.“

„Und was?“ Maureen betrachtete ihre drei Schwestern und bereute schon, ihnen überhaupt von Eddie erzählt zu haben. Alle drei hatten dieses verräterische Glitzern von Frauen mit einer Mission in den Augen.