15. KAPITEL

E s sollte genau hier sein, wo ich dich so gerne küsse“, hatte Jean-Luc gesagt und die Stelle mit seiner Zunge markiert.

Als Collegemädchen, das zum ersten Mal in Paris war, hatte Maureen sich ganz schwindelig gefühlt, von so einem attraktiven, gelehrten, unglaublich französischen Mann beachtet zu werden. Sie hatten sich im Skulpturengarten des Musée Rodin kennengelernt. Es war einer dieser klaren ersten Herbsttage gewesen, ein Tag mit traumhaftem Wetter, das man aus in Paris spielenden Liebesfilmen kannte. Es lag eine leichte Kühle in der Luft, die Blätter fingen gerade eben an, sich golden zu färben und sich auf den Kopfsteinpflasterstraßen und manikürten Rasenflächen um das historische Gebäude herum niederzulassen.

Es waren kaum Besucher im Museum, einem weißen Gipswunderland in einer ruhigen Nachbarschaft, weit entfernt von den hektischen Boulevards der Stadt. Rodins Werk hatte Maureen sofort in seinen Bann gezogen. Anders als die polierten Skulpturen der Renaissance lag Rodins Kraft in der Darstellung roher Gefühle – sei es der kollektive Schmerz der Bürger von Calais oder der tief konzentrierte Denker. Ihre Lieblingsskulptur war allerdings Der Kuss, das romantischste Kunstwerk, das sie je gesehen hatte. Sie war fasziniert von der tiefen, alles vergessenden Leidenschaft der ineinander verschlungenen Liebenden.

Während sie die überlebensgroße Bronze betrachtete, fragte sie sich, ob sie jemals so verliebt sein würde, mit dieser absoluten Hingabe. Konnten zwei Menschen wirklich so ineinander aufgehen? Und – dieser Teil war so ein Klischee, dass es ihr gleich eine Warnung hätte sein müssen – genau in diesem Moment war Jean-Luc in ihr Leben getreten.

„Sie haben meinen Lieblingsplatz gefunden“, hatte er in einem Englisch gesagt, das nur einen Hauch von Akzent trug. „Hier komme ich her, wenn ich der Welt entfliehen möchte.“

„Warum müssen Sie der Welt entfliehen?“, hatte sie gefragt. Er hatte sie auf Anhieb fasziniert.

„Das zu erklären dauert eine Weile“, hatte er erwidert, und das war der Moment, in dem sie wusste, dass sie zusammenkommen würden.

Die Affäre endete so, wie sie begann: mit einer schockierenden Wucht der Gefühle. Sie wurde davongetragen, war ein williges Opfer, das sich verzweifelt nach dem Neuen sehnte, das er verkörperte. Er war wie ein wahr gewordener Traum. Paris hatte sich für den Herbst herausgeputzt, und sie eilten, um es mit aller Macht zu umarmen. Sie liefen durch das trockene Laub, das die Alleen und Parks bedeckte und sich auf den Gehsteigen sammelte, auf denen sie saßen und in alten, versteckten Bars am Montmartre kalten Ricard tranken. Gemeinsam machten sie lange Spaziergänge, hielten an Straßenecken, um sich zu küssen, ineinander verloren, wie es nur frisch Verliebte konnten. Sie standen auf dem Pont Neuf und fuhren mit den Bateaux Mouches, und jeder Kuss war wie ein Postkartenmotiv. Außer dass Maureen sich nicht fühlte, als würde sie schauspielern. Das hier war das Leben, das hier war Leidenschaft, und sie packte es mit beiden Händen.

Im Rückblick erkannte sie, dass sie von Anfang an verloren gewesen war. Er hatte unglaublich gut ausgesehen und war mehr als charmant. Seine dunklen Augen, seine schlanke Gestalt, das alterslose Gesicht, das sie an eine Parfümkampagne in einem Hochglanzmagazin erinnerte. Er war der wunderbarste Mann, den sie je getroffen hatte. Es gab überhaupt keine Frage, dass sie sich in ihn verlieben würde.

Die Frage war nur, warum sollte er sich in sie verlieben?

Sie traute sich, ihn eines Tages zu fragen, nachdem sie ungefähr seit zwei Wochen ein Paar waren. Sie waren in ihrem kleinen Studio-Apartment im 17. Arrondissement, einem bunten Viertel, in dem hauptsächlich Studenten und Künstler lebten. Sie wohnte im obersten Stock in einem Haus ohne Fahrstuhl, das einst Mönche beherbergt hatte. Um die asketische Kälte des Gebäudes zu mildern, war ihr Zimmer mit dick gepolsterten Möbeln ausgestattet, zu denen auch ein Bett mit einer Daunendecke gehörte, auf dem sie sich gemeinsam aalten, wenn er sich in der Mittagspause von der Arbeit stahl, um sie zu sehen.

Sie war niemals zuvor verliebt gewesen und somit nicht vorbereitet auf die heftigen Gefühle, die sie für Jean-Luc empfand. Es war wundervoll, wie Regenbogen und Sternschnuppen, Kometen und Sommergewitter – ein Naturphänomen, über das sie keine Kontrolle hatte, sondern das sie nur zurückgelehnt bewundern konnte.

Über den Computer in einem kleinen Internetcafé in ihrer Nachbarschaft gebeugt, hatte sie versucht, eine E-Mail an ihre Schwester zu schreiben.

Liebe Renée, ich bin verliebt.

Sie löschte den Satz und versuchte erneut, Worte zu finden für das, was ihr geschah. Doch es gab keine Worte, die erklärten konnten, wie es war, einen Traum zu leben. Es hatte sie von den Füßen gerissen und auf die andere Seite des Mondes katapultiert. Sie nahm kaum wahr, was in ihren Kursen geschah – ein Konversationskurs Französisch, Aspekte von Samuel Becketts Warten auf Godot und Die Welt der Colette. Nicht ein einziges Wort oder Thema durchdrang die regenbogenfarbene Seifenblase ihrer Glückseligkeit. Mit dem Ergebnis, dass ihre bis dahin hervorragenden Noten rapide absackten.

Es war ihr egal. Auf gar keinen Fall konnte sie sich über etwas so Banales wie Noten Gedanken machen, wenn sie doch diese monumentale, einzigartige Liebe mit Jean-Luc erlebte.

Sie sprachen über diese Sachen, wenn sie nackt in den Armen des anderen lagen. Es war stets Nachmittag, und sie trafen sich immer in ihrer Wohnung, weil die nur eine Metrostation von der Bank entfernt lag, in der er arbeitete.

Ja, er arbeitete in einer Bank, aber er hatte die Seele eines Künstlers. Ab und zu besuchte er eine ihrer Lesungen oder Vorstellungen. Dann erklärte er jedes Mal, dass sie ihn zu dem stolzesten Mann der Welt machte.

Sie lagen gemeinsam in der durch die Fenster fallenden Nachmittagssonne, ihre Körper angenehm erschöpft vom Liebemachen. Sie sprachen in ernster Weise über das Wunder ihrer Liebe und das gnädige Schicksal, das sie zueinandergeführt hatte. Jedes Mal, wenn sie in seine Augen schaute, sah sie die Ewigkeit. Es stand außer Frage, wo sie leben würden. Hier in Paris, wo ein einziger Nachmittag in einem Museumsgarten zu der Liebe des Lebens erblüht war.

Auch wenn sie es ihrer Familie noch nicht erzählt hatte, wusste sie, dass sie es verstehen würde. Sie hatte eine wundervolle Familie, die sie liebte und in allem, was sie tat, unterstützte. Sie konnte sich bereits vorstellen, wie es wäre, wenn sie sie besuchen kämen. In ihrem Kopf sah sie all die Orte vor sich, die sie mit ihnen besuchen würde: die Tuilerien und die Jeu de Paume, das Musée de Cluny und die Beaux Arts.

Dank Jean-Luc war sie von einer schlichten Studentin, die das Leben in Paris kennenlernen wollte, zu jemandem geworden, der jede Minute des Tages in vollen Zügen genoss. Sie lernte, rohe Austern zu essen, Pastis zu trinken und mit ernster Miene Sätze zu sagen wie: „Du bist mein Ein und Alles.“

In dem verwirrenden Strudel der ersten Wochen vergaß sie alles. Sie vergaß zum Beispiel, ihn nach seiner Familie zu fragen. Sie erzählte ihm alles über ihre Eltern und Geschwister. Er erzählte ihr nichts über seine, und es kam ihr nicht in den Sinn, sich darüber zu wundern. Sie fragte nicht, wieso er sie nie mit zu sich nach Hause nahm und warum ihre Stelldicheins immer am Nachmittag stattfanden.

Nichts davon war wichtig. Nur Jean-Luc und ihn zu lieben und Paris im Herbst.

Sogar als sie ihn eines Tages zufällig auf der Straße traf, in Begleitung einer hübschen Frau und zweier kleiner Kinder, begriff Maureen die Situation nicht sofort. Sie dachte, es wären Verwandte oder Kunden der Bank, in der er arbeitete.

Erst als er die Frau auf den Mund küsste und von dem älteren Kind mit „Adieu, Papa“ verabschiedet wurde, zwang Maureen sich endlich, dem Offensichtlichen ins Auge zu sehen.

Die Liebe zerbarst in tausend Stücke, die auf die Straße fielen, als sie sie überquerte, um ihn zur Rede zu stellen. Anfangs sah er Maureen nicht, weil er seiner Familie in ein wartendes Taxi half und ihnen nachwinkte, als sie sich in den starken Verkehr einfädelten. Maureen spürte jeden einzelnen Augenblick wie einen Schlag in die Magengrube.

Als sie endlich vor ihm stand, da auf dem Bürgersteig vor der Crédit Lyonnais, war sie so verletzlich und ungeschützt wie ein Unfallopfer.

Jean-Luc war ungerührt. Er hatte die Seelenruhe eines Roboters. Kurz musterte er ihr Gesicht und schenkte ihr dann ein charmantes Lächeln. „Maureen. Was für eine Überraschung.“

„Ja“, stimmte sie zu, „was für eine Überraschung.“

Er zeigte keine Spur von Reue, als er sagte: „Ich nehme an, du hast sie gesehen?“

Einen wilden Moment lang stellte sie sich vor, er würde zusammenbrechen, vor ihr auf die Knie sinken, ihr erklären, dass er es nicht ertrüge, ohne sie, Maureen, zu sein; dass er allem den Rücken kehren würde, um an ihrer Seite zu leben. Sie stellte sich vor, wie er ihr sagte, ihre Liebe wäre zu stark, um verleugnet zu werden.

Aber stattdessen sagte er: „Ich möchte mich gerne weiter mit dir treffen.“

Abscheu erfüllte sie. Ihm gegenüber, aber auch sich selbst gegenüber, dass sie überhaupt in Betracht zog, das Leben seiner Kinder zu ruinieren. Ein Teil von ihr – und kein kleiner Teil – sehnte sich danach, weiterzumachen, so wie er es vorschlug. Auch wenn es sie beschämte, weinte sie und weinte. Und unternahm zu ihrem eigenen Entsetzen einen letzten Versuch, ihren Traum zu retten. „Heißt das, du wirst sie verlassen?“

Er erwiderte nichts. Das musste er auch nicht. Die Antwort stand klar und deutlich in seinem Gesicht.

Er drehte sich um und ging los.

„Warte“, sagte sie. „Warte.“

Er blieb stehen, kehrte um.

Sie hielt ihre Hand hoch, damit er nichts sagen würde. Dann ging sie fort, ließ ihn allein auf dem regennassen Bürgersteig stehen. Es war eine kleine, unbedeutende Geste. Aber sie wollte, dass sie diejenige war, die ging, nicht er.

Sie dachte, dass sie an diesem Tag die Mutter aller Herzschmerzen kennengelernt hatte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es noch schlimmer kommen könnte.

Doch sie irrte sich. Der tiefste Abgrund, der größte Schmerz von allem, kam später.

Eine Woche nachdem sie ihn verlassen hatte, quälte sie sich an einem für diese Jahreszeit ungewöhnlich heißen, nebligen Tag aus dem Bett, um einen Panikanfall zu bekommen. Ihre Periode war ausgeblieben.

Nachdem sie hastig die Wochen überschlagen hatte, rannte sie zu einer Apotheke. Der Schwangerschaftstest bestätigte ihre schlimmsten Befürchtungen. Sie dachte, dass sie vorsichtig gewesen wären. Sie hatten verhütet. Aber irgendwie war ihnen ein Fehler unterlaufen.

Sie rief zu Hause an – ihre Schwester, ihre Stiefmutter –, aber legte jedes Mal auf, bevor das Telefon klingeln konnte. Sie wusste nicht, wie sie ihnen sagen sollte, was passiert war. Sie konnte es sich selber ja kaum erklären. Laut ausgesprochen klang die Geschichte so unglaublich erbärmlich. Ich hatte eine Affäre mit einem Mann, von dem ich nicht wusste, dass er verheiratet war. Und jetzt bin ich schwanger.

Sie fing an zu weinen und konnte nicht wieder aufhören. Vielleicht war das der Auslöser für das, was dann geschah. Vielleicht hatten die Liter an bitteren Tränen das eingeleitet, was der Arzt später eine unvollständige Einnistung nannte – ein häufiger Grund für Fehlgeburten. Immer noch weinend – es schien, als hätte sie seit Tagen nicht mehr damit aufgehört –, ging sie blutend und unter Krämpfen leidend in eine Klinik. Das neue Leben, kaum mehr als eine geheime Zellteilung, war auf einem Strom bitterer Tränen davongeflossen, bevor sie noch wirklich begriffen hatte, was passiert war.

Einige Stunden später hatte der Arzt ihr etwas gegen die Blutungen und die Schmerzen gegeben und ein Antibiotikum gespritzt. Er hatte sie freundlich angeschaut und gesagt: „Il n’était pas destiné.“

Ja, dem stimmte sie zu. Es hatte nicht sein sollen.

Danach war sie eine tote Frau, die die Straßen von Paris heimsuchte. Sie lebte in der schönsten, lebendigsten Stadt der Welt, und doch war sie nicht mehr als ein Wrack. Sie ertrug es nicht, in die Nähe der Orte zu gehen, die sie mit Jean-Luc besucht hatte. Und sie waren überall hingegangen. Sie ertrug es nicht, irgendetwas zu tun.

Maureen merkte, wie sie den Bezug zur Realität immer mehr verlor. Es handelte sich vermutlich um einen Nervenzusammenbruch. Und so hinterließ sie eine Nachricht beim Registrierbüro des Austauschprogramms, packte ihre Sachen und fuhr nach Hause. Sie hatte all ihre Ersparnisse eingesetzt, um in Paris studieren zu können. Als sie ging, nannte sie kaum noch einen Penny ihr Eigen, aber das war nicht ihr größter Verlust.

Sie hatte ihrer Familie nie davon erzählt. Alles, was sie sagte, war: „Paris war nicht das, was ich dachte. Ich gehöre hier hin.“ Renée ahnte wohl, dass es eine unglückliche Liebesgeschichte gegeben hatte, aber Maureen erzählte ihr so wenig wie möglich. Es war einfach zu schmerzhaft, darüber zu spre chen.

Zurück am College, hatte sie ihr Hauptfach geändert und damit auch ihre Träume. Sie musste einen Traum finden, der zu ihrem Leben passte – nicht zu dem Leben, was sie sich einst für sich erträumt hatte, sondern zu dem neuen Leben eines erwachsenen Menschen, dessen jugendliche Illusionen zerschmettert worden waren. Dieses neue Leben war eines, über das Maureen die Kontrolle hatte, in dem ihre Bestätigung nicht von anderen Leuten abhing. Sie wollte nicht länger auftreten und von anderen beurteilt werden. Himmel, was hatte sie sich nur dabei gedacht? Sie war keine Schauspielerin. Warum hatte sie jemals einen Beruf ausüben wollen, der erforderte, sich vor einem Publikum verletzlich zu machen? Beim Schauspielern ging es nur darum, zu fühlen – Liebe, Wut, Euphorie, Schmerz und Leid. Diese Dinge musste sie jetzt wieder verlernen. Sie musste sich beibringen, nichts zu fühlen. Die Weigerung, etwas zu fühlen, bedeutete natürlich auch, keine wirkliche Freude mehr empfinden zu können, aber das Opfer war es ihr wert.

Träume konnten sich ändern, sagte sie sich. Im Angesicht von schmerzhaften Ereignissen mussten sie sich sogar ändern. Ihre Liebe zu Büchern und Geschichten stellte sich als perfekte Lösung für die neue Maureen heraus. Eine Geschichte, die sich nur im Geist abspielte, war emotional wesentlich ungefährlicher als eine, die auf einer Bühne aufgeführt wurde. Nachdem sie das erst einmal erkannt hatte, war ihr die Entscheidung leichtgefallen. Sie hatte nicht ein einziges Mal zurückgesehen.

In den dunkelsten Tiefen ihrer Verzweiflung hatte sie gedacht, nie wieder lächeln zu können. Sie hatte befürchtet, ihr Herz für immer verloren zu haben.

Und dann kam Weihnachten. In jenem Jahr hatte sie den Feiertagen mit Grauen entgegengesehen. Sie hatte sich gewappnet gegen die neugierigen Fragen von Verwandten, wie denn ihre Reise nach Paris gewesen sei – was sollte sie ihnen nur antworten?

Dann hatte Stella Romano, die Leiterin des Kirchenchors, sie gefragt, ob sie Weihnachten im Chor mitsingen wolle.

Nein, hatte Maureen sagen wollen. Nein, ich werde nie wieder singen. Aber aus irgendeinem unerfindlichen Grund hatte sie dann doch zugestimmt.

„Klar“, hatte sie gesagt. „Ich fühle mich geschmeichelt, dass du fragst.“

Sie tat das, wozu ihr Vater sie erzogen hatte: Sie fand Trost darin, anderen Menschen zu helfen. Was zur Weihnachtszeit leicht war. Es kam ihr egoistisch vor, ihr gebrochenes Herz zu betrauern, während sie einer Familie half, deren Haus gepfändet worden war, oder sich mit einer Frau traf, die aus einer gewalttätigen Beziehung kam, oder mit einem Teenager sprach, der versuchte, seine Sucht zu bekämpfen. Anderen mit ihren Sorgen zu helfen rückte ihre eigenen Probleme in die richtige Perspektive.

Für sie war die Erlösung kein dramatischer, mit Musik unterlegter Augenblick. Sie wachte nicht eines Tages auf und entschied, dass sie über ihn hinweg war. Es war vielmehr der kumulative Effekt, aus sich und ihrem Schmerz herauszugehen und für andere da zu sein. So einfach war das. Auch wenn es für sie zu der Zeit als ein Ding der Unmöglichkeit erschienen war, verebbte der Schmerz nach und nach. Den größten Fortschritt machte sie an Weihnachten, als sie sich voller Elan darauf stürzte, sich auf andere zu konzentrieren.

Sie lernte, dankbar zu sein für die tiefgreifenden und doch einfachen Dinge in ihrem Leben. Ihre Familie, die sich um sie versammelte, die verstand, dass in Paris etwas vorgefallen war, sie aber nicht drängte, darüber zu sprechen.

Ihr Vater sagte immer: „Sei ein Teil von etwas Größerem, als du alleine es bist.“ Und endlich, in diesem Jahr, erkannte Maureen, wie recht er hatte. Es war einfach nicht möglich, in Selbstmitleid wegen einer zerbrochenen Liebe zu schwelgen, wenn man einer Frau Kaffee einschenkte, deren Kind sich einer Krebsbehandlung unterzog.

Und das war das wahre Geschenk der Weihnachtszeit. Deshalb liebte Maureen sie und glaubte so sehr an ihre Macht. Wenn das jährliche Krippenspiel ein wenig von dieser Kraft übermitteln könnte, wäre sie schon zufrieden.

Auf diese Art war das Wunder geschehen. Es war ein stummes, geheimes Wunder. Niemand konnte es sehen oder hören, aber Maureen spürte es in ihrem Herzen, in diesem tiefen Gefühl der Heilung und des Friedens.

Das Licht kehrte in ihr Leben zurück, flackerte auf wie ein glimmendes Scheit unter einem leichten Lufthauch.

Weihnachten war wirklich die Zeit der Wunder. Und jedes Jahr wuchs ihre Liebe zu diesem Feiertag nur noch mehr.