3. KAPITEL
Hallo. Mein Name ist Eddie, und ich bin Alkoholiker.“
„Hey, Eddie“, grüßte die Gruppe unisono zurück. Die Stimmen klangen warm und ruhig in dem kleinen Raum im Untergeschoss der Kirche. Natürlich wussten alle, wer er war. Doch die Begrüßung war Teil des Rituals, und die stete Wiederholung bot den Teilnehmern einen gewissen Trost. Immer wenn er in Avalon war, kam er zu den Treffen, und alle kannten ihn. Jeder in der Gruppe kannte die anderen, weil sie alle regelmäßig hierherkamen. Einige von ihnen sogar schon seit Jahren. Manchmal waren ein paar neue Gesichter dabei, doch der Kern der Gruppe blieb relativ stabil. Er erkannte einen rothaarigen Collegestudenten namens Logan, einen Highschoollehrer namens Tony und einen älteren Mann, Terry D, der Eddie in den schlimmsten Jahren viel geholfen hatte.
Als Maureen Davenport gefragt hatte, ob Eddie ein Kirchgänger wäre, hatte er die Frage bejaht. Und das war keine Lüge gewesen. Dieses Gebäude war eine Kirche. Natürlich wusste er, dass sie es nicht so gemeint hatte. Er war nicht einer göttlichen Inspiration folgend in die Kirche gegangen. Nachdem Eddie richtig Scheiße gebaut hatte, hatte ein Richter ihn dazu verdonnert, das 12-Punkte-Programm mitzumachen. Er hatte nicht erwartet, dass es ihm gefallen würde. Ebenso wenig, wie er erwartet hatte, in einer Gruppe Fremder die tiefsten Erkenntnisse über sich zu gewinnen. Aber irgendetwas war passiert. Er hatte seine Erlösung nicht auf die Art gefunden wie die meisten Menschen. Sondern er fand sie in der Gemeinschaft von seinesgleichen, die jeden Tag ihr Gelübde erneuerten, trocken zu bleiben.
Im Nachhinein betrachtet, war die Nacht, in der er unter Alkoholeinfluss gefahren war, ein Segen gewesen. Für Eddie hatte ein ganz neues Leben angefangen. Eine neue Art, Weihnachten zu verbringen. Er ertrug die Feiertage immer noch nicht, aber zumindest überstand er sie jetzt mit klarem Kopf, anstatt in einen Nebel aus Alkohol gehüllt.
Er hatte seine Reise – völlig gegen seinen Willen – an einem verschneiten Weihnachtsabend angetreten. Er war nicht länger der verlorene, verzweifelte Mann mit einem Komplex beladen und dem Arm in der Schlinge. Doch egal, wo er war, in seiner Wohnung in der Stadt oder hier in Avalon, er ging immer noch regelmäßig zu den Treffen. Wegen der Unterstützung. Wegen der Freundschaft. Wegen der Chance, anderen zu helfen. Und manchmal, wie heute, kam er, um über Dinge nachzudenken, die ihm zu schaffen machten.
Wie Maureen Davenport. Er ahnte, dass die Zusammenarbeit mit ihr kein Honigschlecken würde. Sie hatte dieses etepetete Verhalten einer typischen Bibliothekarin, was ihn nur dazu reizte, sie aufzuziehen, ihre Haare zu lösen, ihr die Brille abzunehmen und zu sagen: „Wow, Ms Davenport, Sie sind wunderschön.“
So würde es zumindest im Film funktionieren. Er bezweifelte jedoch, dass Maureen ihre Rolle spielen würde. Sie würde vermutlich nur mit ihrem Stift auf ihr Klemmbrett klopfen und drauf bestehen, mit der Arbeit fortzufahren. Die nächsten Wochen versprachen, eine reine Krippenspielhölle zu wer den.
Mrs Bickham fehlte ihm jetzt schon. Mit ihrer gelassenen Art hatte sie das Ableisten seiner Sozialstunden erträglich gemacht. Er hatte kaum einen Finger für das Krippenspiel rühren müssen. Diese Maureen hingegen war sicher nicht so leicht einzuwickeln. Sie würde ihn vielleicht sogar wirklich arbeiten lassen. Eddie machte es nichts aus, zu arbeiten, aber es war ihm noch nie leichtgefallen, Befehle von rechthaberischen Frauen entgegenzunehmen.
Die Menschen, die sich in dem Raum versammelt hatten, waren eine bunte Mischung aller Ethnien, Altersgruppen und Lebensstile. Sie tranken Kaffee und warteten darauf, dass Eddie sprach.
„Das Thema unseres heutigen Treffens lautet Perspektive“, fing er an. „Ja, das ist für mich im Moment genau das Richtige. Ich muss mich daran erinnern, die Dinge aus der richtigen Perspektive zu betrachten. Anfangs bin ich aufgrund eines richterlichen Urteils zu diesen Treffen gekommen. Ich dachte, ich gehöre hier nicht hin. Doch Tatsache war, dass ich hier nicht hingehören wollte. Ich wollte kein Mitglied eines Klubs sein, in dem man sich nicht jede Nacht sinnlos besaufen kann.“
Mitfühlendes Gemurmel erhob sich.
„Die Richterin kannte mich besser, als ich mich kannte. Sie kannte den Nutzen von starker Medizin – in meinem Fall eine lebenslange Mitgliedschaft in dieser feinen Gemeinschaft.“
Manchmal, wenn er die Augen schloss und an jene Nacht dachte, an diese Augenblicke des Grauens, glaubte Eddie, dass er sich an alles genauso erinnerte, wie es passiert war. Er konnte immer noch das Glas des Flaschenhalses in seiner Hand spüren – Dom Perignon natürlich. Nur das Beste an dem Abend, an dem er der Frau, die er liebte, einen Antrag machen würde. Es war Natalies Lieblingschampagner, und sie ließ keinen anderen gelten. Natalie Sweet. Sie war die perfekte Frau. Ein paar Jahre älter, wesentlich kultivierter. Eine Journalistin. Und was noch wichtiger war: Seit Wochen hatte sie „Frag mich“-Signale ausgesendet, dessen war er sich sicher.
Eddie hatte den Abend genau geplant. Avalon war der perfekte Ort. Er lag zwischen New York City und Albany, wo Natalies Familie lebte. Sie dachte, er würde sie über die Feiertage zu ihrer Familie bringen, und hatte keine Ahnung von seiner Überraschung. Er wollte sich am Heiligabend mit ihr verloben. Da seine Eltern ihn in seiner Kindheit jedes Jahr zu Weihnachten auf große Promotiontour durch das halbe Land geschleift hatten, hatte er so seine Probleme mit diesem Feiertag. Um sie zu überwinden, würde er die schlechten Erinnerungen mit einer guten neuen Erinnerung überschreiben. Er würde die Feiertage, mit denen er bisher nur schlechte Erfahrungen gemacht hatte, in etwas Fröhliches verwandeln – durch eine Verlobung und das Versprechen, zu heiraten.
Er kannte Avalon bereits. Auch das hatte er seiner Familie zu verdanken, die ihn jeden Sommer im Camp Kioga geparkt hatte, während sie durch die Lande reiste und auf Renaissancemessen auftrat. Im Laufe der Jahre war die Stadt so etwas wie ein Zuhause für ihn geworden. Er hatte sich sogar vorgestellt, dass er und Natalie sich hier ein Wochenendhäuschen zulegen könnten. An diesem Abend hatte er den besten Tisch im Apple Tree Inn reserviert, den, von dem aus man einen fabelhaften Blick über den Schuyler River hatte. Im Winter waren die Steine von Eis überfroren, und das Ufer lag unter dichtem Schnee, der im Lichterschein des Restaurants magisch funkelte. Er hatte all ihre Lieblingsgerichte bestellt und dem Restaurantmanager sogar eine Liste mit Liedern geschickt, die er an dem Abend spielen sollte.
Er erinnerte sich an ihren Gesichtsausdruck, als sie das Dessert probierte – eine seidige Eierlikör-Crème-brulée –, weil sie dieses Gesicht auch ab und zu im Bett machte. Ihr träumerischer Gesichtsausdruck war sein Signal gewesen, dass es jetzt an der Zeit war.
Auch wenn sie bereits eine Flasche Wein geleert hatten, bestellte er Champagner. Er bemerkte, dass sie eine Augenbraue hob, und wertete es als gutes Zeichen.
Im Nachhinein betrachtet war es vielleicht eher ein Anzeichen von Besorgnis gewesen.
Angenehm berauscht von dem Wein, verfolgte Eddie weiter seinen Plan. Natalie spielte beinahe nur eine Nebenrolle, war ein Sidekick für seinen großen Auftritt. Diese Wahrnehmung alleine hätte ihm schon eine Warnung sein sollen. Als es anfing, nicht mehr um Natalie oder sie beide als Paar zu gehen, war der Ärger vorprogrammiert.
Der Sommelier schenkte zwei Gläser ein. Eddie sprach einen Toast – etwas über ihre Zukunft, ein Leben voller Glück. Die Zeit war reif.
Tief im Herzen war er traditionsbewusst. Ungeachtet der anderen Weihnachtsgäste sank er auf ein Knie und nahm Natalies Hand. In dem Moment erklang die Titelmelodie aus Der Weihnachtsstreich. Vielleicht hätte er das als schlechtes Omen sehen sollen.
Das Lied hatte definitiv nicht auf seiner Liste gestanden. Der Manager hatte vielleicht gedacht, Eddie würde das süßliche, sentimentale Lied gerne hören. Doch das würde Eddie nie erfahren. Viele Menschen nahmen an, dass so ein viel geliebter Film doch auch von ihm geliebt werden musste. Doch er wusste nur, dass die verhasste Melodie in diesen Moment eindrang wie ein Erstickungsanfall mitten in einem Gourmetdinner.
Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, war es auch noch die schrecklichste Version des Liedes, die überhaupt existierte. Von einer A-cappella-Gruppe namens Christmas Belles aufgenommen, die durchs Internet berühmt geworden waren. Diese Interpretation war so klebrig süß, dass er sich allein vom Zuhören schon am liebsten übergeben hätte.
Aber er kniete auf dem Boden. Er war entschlossen. Er würde das durchziehen müssen. Nun gab es kein Zurück mehr.
Er hatte die Worte sorgfältig niedergeschrieben und auswendig gelernt, damit sie nicht wie abgelesen klangen. „Ich liebe dich. Ich möchte immer mit dir zusammen sein. Willst du mir die Ehre erweisen, meine Frau zu werden?“
Das war ihr Stichwort, um in Freudentränen auszubrechen, vielleicht so überwältigt zu sein, dass sie nicht sprechen, sondern nur heftig nicken konnte. Ja, ja, ja, natürlich will ich dich heiraten. Und im ganzen Restaurant würden die Leute vor Rührung seufzen.
Dann würde er den Deckel der kleinen Schmuckschatulle öffnen, und sie würde von einer weiteren Welle der Gefühle hingerissen.
Es war perfekt. Es war unvergesslich. Es würde Weihnachten in die schönste Zeit seines Lebens verwandeln.
Es gab nur ein Problem. Natalie hielt sich nicht ans Drehbuch. Es gab keine Freudentränen. Keine wiederholten Liebesbezeugungen. Nur einen Ausdruck puren Entsetzens auf ihrem Gesicht.
„Magic can happen, if you only belieeeeve“, sangen die Christmas Belles im Hintergrund. Aber es sah nicht so aus, als ob etwas Magisches passieren würde.
Natalie nickte nicht. Sie sah aus, als wäre ihr übel. Sie schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht. Es tut mir leid.“ Sie stand auf und stürmte zur Garderobe.
Eddie ließ ein zu dickes Bündel Geldscheine auf den Tisch fallen, schnappte sich die Champagnerflasche und ging, obwohl er wusste, dass es verboten war, ein Restaurant mit einer angebrochenen Flasche zu verlassen.
Es war ihm egal.
Sie ging, so schnell sie konnte, in Richtung Bahnhof.
„Können wir wenigstens darüber reden?“, fragte er.
Sie ging weiter. „Es tut mir leid, wenn ich den Eindruck gemacht habe, offen für einen Antrag zu sein.“
„Verdammt, du hast Signale ausgesendet, die jeden Funkmast in den Schatten stellen“, sagte er. „Was sollte ich denn anderes denken?“
„Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.“
„Ja, entschuldige vielmals, dass ich geglaubt habe, du meinst es so, als du gesagt hast, du liebst mich.“
„Das habe ich auch“, protestierte sie. „Das tue ich noch immer. Aber ich bin nicht bereit, jemanden zu heiraten, und du auch nicht.“
„Sag mir nicht, dass ich nicht bereit bin.“
„Na gut, werde ich nicht. Aber weißt du, was ich denke? Ich denke, du willst gar nicht so sehr verheiratet, sondern einfach nicht alleine sein.“
„Hey, es ist eine Sache, mir einen Korb zu geben. Aber fang jetzt nicht auch noch an, mich zu analysieren.“
Von hier aus war ihr Streit eskaliert. Sie hatten sich gegenseitig all ihre Fehler vorgeworfen, und nachdem sie alleine in den nach Albany fahrenden Zug eingestiegen war, war er so weit, einzuräumen, dass sein Heiratsantrag vielleicht etwas übereilt gewesen war.
Als er wieder bei seinem Wagen auf dem Restaurantparkplatz ankam, war er nicht mehr verletzt, sondern wütend. Auf sie, aber noch mehr auf sich. Warum hatte er daraus eine so große, öffentliche Inszenierung gemacht? Warum hatte er es riskiert, so grandios zu scheitern?
Er fuhr nach Avalon. Der Ort lag einsam und verlassen wie eine Geisterstadt vor ihm. Die meisten Menschen waren früh nach Hause gefahren, um am Heiligabend bei ihrer Familie zu sein. Andere waren in der Kirche, erfüllten die Nacht mit Liedern und Gebeten.
Eddie plante, den Abend ebenfalls mit einem Mann der Kirche zu verbringen. Genauer gesagt mit einem Mönch namens Dom Perignon. Da die Flasche im Restaurant eh schon geöffnet worden war, trank er bereits während der Fahrt. Zum Teufel, es war der Weihnachtsabend und keine Menschenseele in Sicht. Er war gerade eben verlassen worden und suchte verzweifelt nach einem Weg, seinen Schmerz zu lindern und die Wut zu betäuben. Außerdem fuhr er ganz langsam. Er wurde ja nirgendwo erwartet. Seine Eltern hatten ihn wie jedes Jahr in ihr Haus auf Long Island eingeladen, aber Natalie hatte ihm die perfekte Ausrede geliefert, diese Einladung auszuschlagen. Jetzt hatte er keine Ausreden mehr.
Der Schneesturm begann als fedrig leichter Tanz, der die Flöckchen über seine Windschutzscheibe trieb. Innerhalb von wenigen Minuten wurden aus dem Gestöber dicke, unermüdlich fallende Flocken, die im Licht der Scheinwerfer auf ihn zurasten und eine hypnotische Wirkung auf ihn ausübten. Er entschloss sich, an der Hilltop Tavern anzuhalten und zu schauen, ob noch jemand da war. Er hatte aus seiner Zeit im Sommercamp noch einige alte Freunde in Avalon. Die kleine Stadt veränderte sich überhaupt nicht. Er fuhr an gemütlich aussehenden Häuschen mit warm erleuchteten Fenstern vorbei, an geschlossenen Geschäften, dem Country Club, der leicht erhöht auf einem Hügel thronte. Das beeindruckendste Lichtschauspiel bot allerdings die Herz-der-Berge-Kirche, die er erblickte, als er um eine Kurve der am See entlangführenden Straße bog.
Am Dachrand des rechteckigen Gebäudes funkelten kleine Lichter. Eine lebensgroße Krippe war auf der schneebedeckten Fläche vor der Kirche aufgebaut. Eddie kurbelte das Fenster ein Stück herunter, um die eisige Luft auf dem Gesicht zu fühlen. Dicke Schneeflocken wehten durch den Schlitz ins Auto.
Das leise, entfernte Klingen der Glocken drang an sein Ohr, und es war das einsamste Geräusch, das er je gehört hatte. Er verdrängte den traurigen Klang, indem er das Radio lauter stellte, in dem gerade „Never Say Die“ von Black Sabbath gespielt wurde.
Für Eddie war Musik mehr als nur ein Klang. Es war ein vertrauter Ort, an dem er sich sicher fühlte. Inmitten des Chaos und der Unsicherheiten seiner Kindheit war Musik sein Rückzugsort und sein Trost gewesen. Über die Jahre war diese Verbindung nur noch stärker geworden. Als Teenager bot Musik ihm eine Möglichkeit, der Verwirrung in seinem Inneren Herr zu werden. Sie war beinahe so beruhigend, wie ein Sixpack Bier zu trinken, das er seinen Eltern aus dem Kühlschrank geklaut hatte. Später, als Student am Juilliard Konservatorium, war es eine Ausdrucksform, die für ihn endlich Sinn ergab. Die perfekte Begleitung zu dem Wein, den er vor, während und nach den Aufführungen zu trinken beliebte.
Er hörte die ganze Zeit über Musik in seinem Kopf. Es überraschte ihn, dass es anderen Menschen nicht so ging. Vielleicht war es eine Art von Geisteskrankheit.
Jahre später, als er die Ereignisse jener Nacht noch einmal Revue passieren ließ, gelang es ihm nie, die Geräusche und Bilder in seinem Kopf von denen zu trennen, die wirklich existiert hatten. Er erinnerte sich an ein seltsam rhythmisches Schlagen, wie der Rotor eines Helikopters, und ein Dunklerwerden des bereits tiefschwarzen Himmels. Und dann mit einem Mal – ein Tier, ein Ast?
Aus reinem Reflex heraus verriss er das Lenkrad, um ihm auszuweichen.
Mission erfüllt.
Aber im nächsten Augenblick verlor er komplett die Kontrolle. Der Wagen traf auf ein Stück überfrorene Nässe und schlingerte von der Straße. Er durchbrach eine Schneewehe und holperte einen Abhang hinunter. Die Bremsen und das Lenkrad waren vollkommen nutzlos. Er schlug eine tiefe Schneise durch den Kirchgarten. Alles im Auto – Aufnahmegeräte, CDs, Sportsachen, die leere Champagnerflasche – wirbelte wie im Sturm herum.
Als das Fahrzeug in die Krippe raste und weiter auf die Kirche zu, ging Eddie nur ein Gedanke wieder und wieder durch den Kopf. Bitte, Gott, mach, dass ich niemanden verletze.
„Diese Nacht hat alles für mich verändert“, erzählte er den Menschen in dem Raum. „Und dafür bin ich dankbar. Ich werde mich in den kommenden Wochen immer wieder daran erinnern. Denn irgendetwas sagt mir, dass ich mich einigen Herausforderungen werde stellen müssen. Wie immer zu dieser Zeit des Jahres.“
„Danke, Eddie“, murmelten alle im Chor und wandten sich dann dem nächsten Sprecher zu.
Sein Leben hatte in der Nacht, in der es beinahe geendet hätte, tatsächlich erst wieder begonnen. Als er endlich zugeben musste, dass Trinken bei ihm nicht funktionierte. Er hatte sich komplett neu erfinden müssen. Musik war immer noch sein Leben, aber jetzt arbeitete er hinter den Kulissen, als Komponist und Produzent, und stellte ehrenamtlich ein Musikprogramm für gefährdete Kinder in Lower Manhattan auf die Beine. So war das Leben gut für ihn, abseits vom Rampenlicht und der öffentlichen Aufmerksamkeit.
Der uralte, aber immer noch aktive Vertrag mit der Produktionsgesellschaft gewährte ihm nur einen Hungerlohn aus den Erlösen des Films. Bis heute hatte er keine Ahnung, wieso seine Eltern das zugelassen hatten. Der gleiche Vertrag verpflichtete ihn, für sämtliche Promotionaktivitäten zur Verfügung zu stehen. Zum Beispiel für Extrabeiträge auf den DVDs. Das Drehen dieser Beiträge früher im Jahr hatte ihn daran erinnert, was ihm am Ruhm nie gefallen hatte: zu wissen, dass er nicht der Mensch war, den die Leute auf dem Bildschirm sahen und liebten. Verbergen zu müssen, wer er wirklich war.
Als Komponist zu arbeiten bot ihm die Möglichkeit, weiterhin Musik zu machen. Aber er tat es hauptsächlich anonym, komponierte Filmmusiken und Werbejingles für zahlende Kunden. Es machte ihn wahnsinnig, dass Leute ihn wiedererkannten und dank der Jubiläums-DVD das öffentliche Interesse an ihm erneut aufgeflammt war. Er hoffte, dass der Sturm sich bald wieder legte.
Den Teil von ihm, der gerne auftrat, konnte er jedoch auch befriedigen. Er kam regelmäßig nach Avalon, um mit einer Gruppe von Freunden zu spielen, die sich Inner Circle nannten. Ab und zu traten sie auf kleinen Festivals in der Umgebung oder in dem einen oder anderen Club in der Nachbarschaft auf. Dieses Jahr hatte er zugesagt, Gastmoderator in einer Radiosendung zu sein. Fünf Tage die Woche würde er für „Catskills Morning“ eine Mischung aus Nachrichten, Gesprächen und Musik seiner Wahl moderieren, solange die Hauptsprecherin im Mutterschaftsurlaub war.
Sein Leben hatte keinerlei Ähnlichkeit mehr mit der Orgie aus Ruhm und Reichtum, die er einst für sich vorhergesehen hatte, aber es passte viel besser zu ihm.
Das Treffen endete wie immer mit dem Gelassenheitsgebet und einem schnellen Aufräumen der Kaffee-Ecke. Dann fuhr Eddie los, um den Rest des Abends zu Hause zu verbringen. Er hielt kurz bei Wegmans und nahm sich eine Portion seines Lieblingsessens mit: ein Sandwich mit Käse und Nelkenpfeffer, eine dicke Gewürzgurke, eine Tüte Chips und eine Dose Rootbeer. Als er aus dem Laden kam, traf er auf den frühesten Boten der nahenden Weihnachtszeit – den Glockenläuter der Heilsarmee.
Das hartnäckige Läuten der Glocke war nervtötend und unmöglich zu ignorieren. Eddie holte einen zerknüllten Dollarschein aus seiner Jeans und steckte ihn in den rot angemalten Ei mer.
„Danke“, sagte der Glockenläuter. Er war jung, noch beinahe ein Kind. Irgendetwas an ihm kam Eddie vage bekannt vor. Der Teenager erinnerte ihn an einen seiner Studenten in der Stadt – hungrig, aber stolz. Vielleicht war der Junge bei einem der vergangenen Krippenspiele dabei gewesen. Aber nein. Eddie war sich ziemlich sicher, dass er sich an das lange, dunkle Haar, die seelenvollen Augen und das verträumte Lächeln erinnern würde.
„Ich bin Eddie Haven“, sagte er aus einem Impuls heraus.
Der Junge nickte. „Jabez Cantor.“
„Bist du neu hier?“, fragte Eddie.
„So in der Art. Ich war eine Weile fort und bin gerade erst zurückgekehrt.“
„Ha, genau wie ich.“
Ein weiteres Kind kam aus dem Laden. Den Blick fest auf seinen Gameboy geheftet, nahm es nichts um sich herum wahr und ging wie in Trance die Straße hinunter. Als Eddie merkte, in welche Richtung es ging, war es zu spät. Er und Jabez riefen gleichzeitig: „Pass auf“, aber das Kind war bereits gegen den Ständer gelaufen, auf dem der Sammeleimer stand, der prompt mit einem Riesengetöse zu Boden fiel.
„Sorry“, sagte der Junge. Er steckte seinen Gameboy weg und ging auf die Knie, um die verstreuten Münzen aufzusammeln. „Ich habe nicht aufgepasst, wo ich hingehe.“
„Kann passieren“, sagte Jabez und machte sich ebenfalls daran, das Geld aufzusammeln.
Eddie ging ihnen zur Hand und nahm ein paar Münzen vom Bürgersteig auf. Er konnte die Narben auf Jabez’ Hand nicht übersehen. Sie hatten den straffen Glanz sehr alter Verbrennungen, die nicht gut geheilt waren.
Ein älterer Mann mit eisengrauen Haaren und einem langen Mantel kam auf sie zu. „Cecil“, sagte er mit Missbilligung in der Stimme. „Was ist hier los?“
„Ich habe den Ständer umgestoßen“, sagte der Junge namens Cecil. „Tut mir leid, Grandpa.“
Der ältere Mann sah verärgert aus. Cecil arbeitete noch schneller und schob die verstreuten Münzen mit den Händen zusammen, während Jabez den Ständer wieder aufrichtete. Ein paar Minuten später war alles wieder an Ort und Stelle. Der Großvater ging mit großen Schritten auf einen wartenden Maybach zu. Das Kind lief ihm hinterher, zögerte dann und holte eine Dollarnote aus seiner Hosentasche, die es schnell in den Sammeleimer steckte. Jabez dankte ihm, aber vermutlich hörte der Junge das gar nicht mehr, so schnell wie er lief, um seinen Großvater einzuholen.
Eddie musterte den Jungen namens Jabez, der dem ungleichen Paar nachdenklich hinterherschaute. Ehrlich gesagt schauten eine Menge Leute dem Maybach nach, denn so ein Auto sah man hier nicht jeden Tag. Aber Jabez schien sich mehr auf den älteren Mann zu konzentrieren.
„Er kommt mir irgendwie bekannt vor“, sagte er.
„Alles in Ordnung?“, fragte Eddie.
„Sicher“, erwiderte Jabez.
„Hast du Hunger?“ Eddie hielt ihm seine Tüte hin.
„Nein, aber danke.“
Eddie hatte gelernt, auf Jugendliche keinen Druck auszuüben und nicht zu stark nachzufragen, denn das endete meist nur damit, dass das Kind weglief und für immer verschwand. „Arbeitest du gerne ehrenamtlich?“
Der Junge zeigte auf den kleinen Blecheimer der Heilsarmee. „Sieht so aus.“
„Gut. Wir werden am Freitagabend eine Krippe aufbauen – weißt du, was das ist?“
Der Junge kicherte. „Ja, ich weiß, was eine Krippe ist.“
„Ich frag ja nur. Wie auch immer, wir könnten noch ein paar Freiwillige gebrauchen.“ Er schrieb Zeit und Ort auf seine weiße Papiertüte, riss das Stück ab und reichte es Jabez. „Vielleicht sehe ich dich dort?“
Jabez nahm das Stück Papier und steckte es in seine Brusttasche. „Ja, vielleicht werden Sie das.“