6. KAPITEL
Daisy Bellamy setzte ih ren Zwei jährigen in Santas Schoß und trat einen Schritt zurück. Sie hielt den Atem an und hoffte das Beste. Das Setting war dieses Jahr ganz besonders bezaubernd. Eine Gartenlaube, die in ein Lebkuchenhaus verwandelt worden war, mit einem Weihnachtsmann, der auf seinem geflügelten Thron saß, den Kindern sein berühmtes „Ho Ho Ho“ schenkte und ihnen das Blaue vom Himmel versprach. Sie sprach das kleine Gebet, das Eltern von Kleinkindern überall auf der Welt in einem Augenblick wie diesem ausstießen: Bitte, lass ihn lange genug still sitzen, bis das Foto gemacht ist.
Beeil dich doch, drängte sie schweigend die Assistentin, die wie eine Elfe gekleidet war. Mach das Foto. Jetzt. Beim Fotografieren hing alles vom richtigen Timing ab.
Die Elfe hielt ein Quietschetierchen in der einen Hand und den Auslöser für die Kamera in der anderen. „Guck auf den Vogel“, sagte sie mit singender Stimme.
Charlies Augen, normalerweise zwei kleine smaragdfarbene Knöpfe voller Fröhlichkeit, weiteten sich panisch. Er sah von dem rot gekleideten, bärtigen Fremden, auf dessen Knie er saß, zu der glupschäugigen Elfe mit dem Quietschetier. Dann sog er scharf die Luft ein, und es folgte ein Moment perfekter, absoluter Stille.
Mach schon, mach schon, mach schon, rief Daisy innerlich.
Die Elfe drückte den Auslöser eine Millisekunde zu spät. In dem Moment hatte sich Charlies Gesicht schon zu einer Maske kläglicher Verzweiflung verzogen. Auf seinem kleinen T-Shirt stand „Der Weihnachtsmann liebt mich“, aber sein Gesichtsausdruck sagte: „Wer ist dieser Freak?“ Er stieß ein langes, gequältes Heulen aus, das vermutlich noch von dem Menschen ganz am Ende der draußen vor dem Lebkuchenhaus wartenden Schlange gehört werden konnte.
Daisy eilte zu ihm und rettete ihn. Er klammerte sich an sie, ein schluchzendes, zitterndes Bündel. Sein nasses Gesicht drückte sich gegen ihre Brust, die kleinen Fäuste gruben sich in ihren Pullover. Er weigerte sich, sie auch nur lange genug loszulassen, dass sie ihm seinen Parka anziehen konnte, also legte sie ihn ihm nur um die Schultern. „Du holst dir noch ’ne Lungenentzündung“, murmelte sie.
„Sündung“, wiederholte er mit einem tragischen Schnüffeln.
Sie bahnte sich ihren Weg zum Ausgang, der so gelegen war, dass sie mit ihrem gepeinigten Kind an den anderen wartenden Kindern und ihren Eltern vorbeigehen musste. Auf den ersten Blick schienen es alles wohlerzogene, ruhige Kinder zu sein, die von ihren Fußballmüttern und Pendlervätern begleitet wurden. Daisy konnte sich vorstellen, welche Kommentare den Erwachsenen zu ihrem Erziehungsstil durch den Kopf gingen. Bestimmt hatte sie ihrem Kleinkind zu viel Zucker gegeben oder seinen Mittagsschlaf ausfallen lassen. (Okay, sie war schuldig in beiden Punkten, aber trotzdem.) Das war das Problem mit Teenagermüttern, würden sie vermutlich sagen. Sie sind einfach noch nicht bereit, Eltern zu sein.
Daisy war zwar kein Teenager mehr, sah aber immer noch so aus. Vor allem mit ihrer alten Jeans und dem Snowboardparka, die sie noch trug, weil sie keine Zeit gehabt hatte, sich umzuziehen, bevor sie nach der Schule Charlie vom Babysitter abgeholt hatte. Sie war mit achtzehn schwanger und mit neunzehn Mutter geworden. Innerhalb kürzester Zeit war aus der Schülerin an einer Privatschule in Manhattan eine alleinerziehende Mutter in einer Kleinstadt geworden, in die sie gezogen war, um näher bei ihrer Familie zu sein. Jetzt war Charlie zweieinhalb, und sie ging auf die einundzwanzig zu. Das klang zwar jung, aber manchmal gab es Zeiten, wo sie das Leben als Alleinerziehende sich wesentlich älter fühlen ließ.
Sie warf einen Blick auf die Frau in den hochhackigen Stiefeln und der schicken Jacke im Hahnentrittmuster, die sich gerade vorbeugte, um noch ein letztes Mal Hand an die Schleife im seidigen Haar ihrer Tochter zu legen. Die beiden sahen aus, als wären sie direkt den Seiten einer Modezeitschrift entstiegen. Wie machen die das nur? fragte sich Daisy. Wie schafften sie es, so ordentlich und ruhig auszusehen, anstatt von hier nach da zu hasten und immer irgendwas zu vergessen?
Tief durchatmen, befahl sie sich. Sie war reich gesegnet mit vielen Freunden und ihrer Familie, die sie alle unterstützten. Sie räumte ein, dass sie ein wenig zu kämpfen hatte, weil sie entschieden hatte, alleine zu leben. Auch wenn ihre Familie Geld hatte, besaß Daisy eine sehr unabhängige Ader und diesen Stolz, es alleine schaffen zu wollen. Charlie war gesund und sie auf dem besten Weg zu einem Collegeabschluss (auch wenn es nur sehr langsam vorwärtsging). Ab und zu konnte sie als Fotografin arbeiten, was auch ihre Studienrichtung an der State University of New Paltz war. Die Ferien standen vor der Tür, der erste große Schnee des Jahres war angekommen, ihr Leben war gut. Sie ermahnte sich, die süßen Momente des Lebens zu finden und zu genießen.
„Okay“, sagte sie zu Charlie. „Ich bin entspannt. Dann haben wir halt kein Foto mit dem Weihnachtsmann. Na und?“
„Naxmann!“, rief Charlie und warf seinen Kopf zurück, um sie aus strahlenden Augen anzuschauen. „Liebhab.“
„Richtig. Wir haben ein Foto davon, wie sehr du den Weihnachtsmann lieb hast.“ Sie zog ihm jetzt seinen Parka an, denn es war noch ein ganzes Stück über den Parkplatz zu ihrem Auto. „Ich mache selber ein Weihnachtsfoto von dir“, sagte sie. „Dafür brauchen wir keinen dummen Weihnachtsmann.“
„Naxmann!“ Er klatschte in die Hände. Offensichtlich gefiel ihm die Idee eines Weihnachtsmannes immer noch. Sich allerdings auf den Schoß eines dicken, bärtigen Fremden zu setzen – nun, das war eine ganz andere Sache.
„Wir versuchen es nächstes Jahr wieder“, sagte sie. „Dieses Jahr gibt es einen Photoshop-Weihnachtsmann.“
„Okay, Mom“, sagte er, als wenn er sie verstanden hätte.
„Kein Problem.“ Es würde nicht länger als einen Abend dauern, ein Bild von Charlie auf dem Schoß des Weihnachtsmannes zu bauen. Solange sie denken konnte, war Daisy geradezu besessen davon, Fotos zu machen und zu bearbeiten. Drei Tage die Woche pendelte sie zum College, um entsprechende Kurse zu besuchen, und die restliche Zeit arbeitete sie als Freiberuflerin und kümmerte sich um Charlie.
Sie zog den Reißverschluss seines Parkas hoch und trat dann durch die Ausgangstür in den kalten Tag.
Jedes Jahr wurde ein Teil des Blanchard-Parks in ein Weihnachtsland verwandelt. Heute war der Eröffnungstag, der von allen in der Stadt immer mit großer Freude herbeigesehnt wurde. Die Luft war kalt, aber klar; es war genau das Wetter, für das die Handelskammer jedes Jahr betete, das sie aber nur viel zu selten auch bekam. „Santaland“ war das weihnachtliche Herzstück einer Stadt, die versuchte, das Beste aus dem langen, dunklen Winter zu machen. Die freiwilligen Helfer hatten sich auch dieses Jahr mit der Dekoration wieder überschlagen. Einem Artikel in der Avalon Troubadour zufolge erwartete die Handelskammer dieses Jahr einen neuen Besucherrekord.
Kinder, die man an kalten, dunklen Schultagen normalerweise nur unter größtem Protest aus dem warmen Bett bekam, waren heute vermutlich mit großen Sätzen die Treppen heruntergesprungen und hatten das Frühstück in Rekordzeit vertilgt, um ja rechtzeitig in der Schlange beim Weihnachtsmann zu sein. Menschen, die normalerweise beim Anblick von frischem Schnee vor ihren Fenstern genervt aufstöhnten, hatten heute vermutlich innerlich jubiliert. Die Adventszeit war mit einem Pfannkuchenfrühstück in der Feuerwache offiziell eröffnet worden. Kleine Buden säumten die Straßen und boten alles von Schmalzgebäck bis Meisenknödel. Die Galahad’s Gallery, ein Zusammenschluss verschiedener Künstler, bot in ihrer Bude Glasskulpturen, Windspiele und eine Auswahl Kunstdrucke ortsansässiger Maler und Fotografen an – darunter auch welche von Daisy Bellamy. Ihre Fotos der Natur zu verschiedenen Jahreszeiten erfreuten sich wachsender Beliebtheit. Sie hielt kurz an dem Stand an und erfuhr, dass bereits jetzt, nur wenige Minuten nach Öffnung des Marktes, zwei ihrer Drucke verkauft worden waren. Ein Panoramabild von den Langlaufloipen, die sich durch die winterlichen Wälder schlängelten, und ein mit langer Belichtungszeit aufgenommenes Bild des Schuyler Rivers, wie er unter der überdachten Holzbrücke hindurchschoss.
Es war ein berauschendes Gefühl, zu wissen, dass Leute Geld für ihre Fotos zahlten. Irgendjemandem gefiel ihre Kunst so sehr, dass er bereit war, Geld dafür auszugeben – eine Vorstellung, die ihre Laune sofort hob.
„Charlie, Charlie, Charlie“, sagte sie, als sie wieder im Auto sa ßen.
„Mommy, Mommy, Mommy“, erwiderte er fröhlich von seinem Kindersitz auf der Rückbank. Er wusste, wie er sie um den Finger wickeln konnte, so viel war sicher.
Er war seinem Vater sehr ähnlich.
Sie ließ das Santaland hinter sich und fuhr zur Bücherei, um ein paar neue Bücher für Charlie auszuleihen. Er liebte es, wenn sie ihm vorlas, und sie mochte es, immer neues Lesefutter parat zu haben. Daisy und Maureen Davenport, die Bibliothekarin, waren dank der vielen Vorlesestunden, die Charlie besucht hatte, Freundinnen geworden.
„Bücher“, sagte er zufrieden, als er sah, wohin sie fuhren.
„Richtig. Und zwar alle, die du willst.“
„Sechs Bücher“, sagte er. Er hatte keine Ahnung, wie viele das waren, aber er kannte die Zahl sechs.
„Das stimmt. Wir dürfen sechs Bücher auf einmal ausleihen.“ Als sie aus dem Auto stieg, sah sie einen Jungen quer über das Grundstück der Bücherei gehen. Er trug einen Rucksack über einer Schulter. Seine Armyjacke und sein leichter, lässiger Gang hatten ihre Aufmerksamkeit erregt. Er ging nicht, wie die meisten Menschen es im Schnee taten, nämlich vornübergebeugt, die Hände tief in den Taschen vergraben. Nein, er ging entspannt und locker, mit einem leichten Schwung in den Schritten und mit einem Rücken so gerade wie die umstehenden Bäume. Er wirkte, als wenn die Kälte ihm überhaupt nichts anhaben könnte. Seine Jacke, die Bäume und der Schnee bildeten einen tollen Kontrast, und so holte Daisy schnell ihre Kamera heraus. Sie besuchte gerade einen Kurs zum Thema „Editorial Shoots“, und das hier könnte ein guter Schuss sein.
Charlie ließ vom Rücksitz ein ungeduldiges Jammern hören. „Einen Moment noch“, sagte sie und machte zwei weitere Bilder. Dann steckte sie die Kamera weg und holte ihren Sohn aus dem Kindersitz. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zum Eingang der Bücherei, wobei Charlie seine Arme ausbreitete und so tat, als wäre er ein Flugzeug.
Direkt hinter der Tür stand ein großes Plakat mit einem dringenden Spendenaufruf. Helfen Sie uns, unsere Bücherei zu erhalten, stand da. Ohne Sie schaffen wir es nicht. Daisy wühlte in ihrer Tasche und hole eine Zehndollarnote heraus, die sie in die bereitstehende Spendenbox steckte. Sie hatte mehr als das gespart, weil sie nicht das Weihnachtsmann-Deluxe-Paket gekauft hatte. Und noch viel mehr, weil sie alle und so viele Bücher leihen konnte, wie sie wollte.
Sie brachte Charlie direkt in das Kinderzimmer und schälte ihn dort aus seiner Jacke. Im Moment waren sie die einzigen Besucher in diesem Bereich. Was gut war, denn in Gegenwart von anderen Kindern neigte Charlie dazu, zwar sehr freundlich, aber auch sehr laut zu sein – ein weiteres Erbe seines Vaters und dessen irischer Familie. In Büchereien und in der Kirche musste sie ihren Sohn andauernd ermahnen, leise zu sein.
Genau wie seinen Vater.
Maureen kam mit einem Rollwagen voller Bücher auf sie zu. Die Bücherei von Avalon hatte keine spezielle Kinderbuch-Bibliothekarin, was, wie Daisy nach dem Aufruf am Eingang vermutete, einen einfachen finanziellen Grund hatte.
„Hey, Maureen“, flüsterte Daisy. „Wie läuft’s?“
„Gut, danke.“ Maureen lächelte, doch sie wirkte ein wenig müde. Vielleicht auch besorgt. Maureens Alter war schwer zu schätzen. Sie konnte irgendwo zwischen vierundzwanzig und fünfunddreißig sein, das war anhand ihrer Kleidung schwer zu sagen. Twinsets und leicht ausgestellte, knielange Röcke ließen alle Frauen gleich alt aussehen. Maureen war eigentlich eine sehr hübsche Frau, doch sie machte sich nicht viel aus ihrem Aussehen. Was Daisy bewunderte. Bevor sie Charlie bekam, war Daisy ein Musterbeispiel für einen von Unsicherheiten geplagten Teenager gewesen. Sie hatte Stunden damit zugebracht, das perfekte Outfit herauszusuchen, sicherzustellen, dass ihre Haare richtig saßen und ihr Make-up eines Covergirls würdig gewesen wäre. Wenn sie sich nicht so wichtig genommen und stattdessen einfach die Haare zusammengebunden und ein Twinset angezogen hätte, wäre ihr Leben vielleicht ganz anders verlaufen.
Natürlich wäre es das. Mit Sicherheit hätte sie dann Charlie nicht. Logan hätte sie keines weiteren Blickes gewürdigt, wenn sie sich ihm nicht an diesem einen verrückten Wochenende an den Hals geworfen hätte.
Da der bloße Gedanke an ein Leben ohne Charlie für sie vollkommen unerträglich war, erlaubte sie sich auch nicht, ihn weiterzuverfolgen.
„Gerade ist ein neues Buch von Jan Brett reingekommen“, sagte Maureen und nahm es von dem Rollwagen. „Ganz wunderbare Schneebilder.“
„Danke.“ Daisy nahm das Buch und bewunderte die feinen Zeichnungen. Charlie schob eine Ausgabe von Thomas, die kleine Lokomotive auf dem Boden herum und machte Zuggeräusche mit seinen Lippen.
„Ich sehe schon, Charlie ist gerade an schwerem Gerät interessiert“, bemerkte Maureen.
„Oh ja.“
„Wie geht es dir?“, fragte Maureen.
„Gut, danke. Ich habe die Zwischenprüfungen überstanden. Das ist der Zeitpunkt, an dem ich es immer bereue, mich für so viele Kurse eingeschrieben zu haben.“
„Hast du irgendwelche Pläne für die Feiertage?“
Daisy zögerte. Um diese Jahreszeit wurde es zwischen ihrer und Logans Familie immer ein wenig kompliziert. Als Charlie geboren wurde, wollten die O’Donnells erst nichts mit ihm zu tun haben, was die Entscheidung, bei wem sie die Feiertage verbringen würden, sehr einfach machte.
Doch entgegen allen Erwartungen hatte Logan sich mit Feuereifer in seine Aufgabe als Vater gestürzt. Er respektierte Daisys Rolle als Hauptverantwortliche, aber er bestand darauf, Charlie regelmäßig sehen zu dürfen. Das erstaunte alle, die ihn als gereizten, undisziplinierten Teenager kannten, der sich alleine auf sein Aussehen und seinen Charme verließ und seine Persönlichkeit mit Alkohol und verschreibungspflichtigen Medikamenten aufputschte. Als Charlie auf die Welt kam, war Logan jedoch bereits clean und nüchtern – und nahm seine Vaterrolle sehr ernst. Und dann dauerte es nicht mehr lange, und die O’Donnells waren genauso verrückt nach Charlie wie die Bellamys.
Für Charlie war das großartig – fantastisch sogar. Aber es war manchmal schwer, alle unter einen Hut zu bringen. Und für Daisy oft auch unangenehm. Denn sosehr die O’Donnells Charlie liebten, waren sie, was Daisy anging, weit weniger enthusiastisch. Als Mutter ihres geliebten Enkelsohnes wurde sie toleriert. Doch als Mädchen, das – ihrer Meinung nach – ihrem Sohn die Zukunft gestohlen hatte, hatte sie keinen rechten Platz in ihren Herzen. Sie waren eine Familie mit hochfliegenden Hoffnungen für ihren einzigen Sohn. Sie hatten von einer exzellenten Ausbildung für ihn geträumt. Er sollte einmal das Reedereigeschäft der Familie übernehmen und einen luxuriösen Lebensstil mit seiner eigenen Familie genießen.
Stattdessen hatte ihr Goldschatz jedoch irgendein Mädchen geschwängert, war in den Entzug gegangen und ein Teenager-Vater geworden.
Daisy betrachtete ihren Sohn. Rote Haare, strahlende Augen, rote Apfelbäckchen. Die pure Unschuld. Dir wird das nicht passieren, schwor sie sich stumm.
Sie wusste, dass die O’Donnells vor Jahren vermutlich das Gleiche über ihren rothaarigen kleinen Jungen gesagt hatten. Es war nur verständlich, dass sie von Daisy nicht allzu begeistert waren. Sie hatte ihnen ihre Ablehnung immer übel genommen, aber jetzt, wo sie selber einen zauberhaften rothaarigen Jungen hatte, wusste sie, woher die Abneigung kam. Der Gedanke, dass ein Mädchen – irgendein Mädchen – irgendwann mal mit Charlie zusammen sein würde, machte Daisy jetzt schon wahnsinnig. Es war total irrational, aber sie konnte nicht anders. Wenn man jemanden so liebte, wie sie Charlie liebte, gab es keinen Platz für logische Argumente. Sie nahm an, dass es den O’Donnells mit Logan genauso ging.
„Ach, irgendwie häng ich noch ein wenig in der Luft, was die Feiertage angeht“, sagte sie zu Maureen. „Wie sieht es bei dir aus? Hast du schon was geplant?“
„Wir feiern ja immer groß im Kreis der Familie. Dieses Jahr werde ich schwer beschäftigt sein. Ich leite ja das Krippenspiel in der Herz-der-Berge-Kirche.“
„Wow, das klingt nach einem großen Projekt.“
„Riesig. Aber ich freu mich. Das wollte ich schon immer mal machen. Während meiner Kindheit und Jugend habe ich jedes Jahr mitgespielt, und als Erwachsene war ich dann im Chor. Als Mrs Bickham sich zur Ruhe gesetzt hat, war ich die Erste, die angeboten hat, den Job zu übernehmen.“
Daisy fand, das weihnachtliche Krippenspiel zu betreuen stand auf gleicher Stufe wie Nachprüfung in der Fahrschule, aber das sagte sie nicht. Jedem das Seine.
„Ich schätze, die Bücherei hält dich auch ganz schön auf Trab“, sagte sie stattdessen.
Maureen schlug die Augen nieder. „Ja, an der Front läuft es gerade nicht so gut. Die Bücherei soll zum Ende des Jahres geschlossen werden.“
„Geschlossen? Auf gar keinen Fall.“ Daisy konnte sich die Stadt ohne eine Bücherei gar nicht vorstellen. „Tut mir leid, aber das ist nicht richtig.“
„Jeder, mit dem ich darüber spreche, denkt so. Aber die wirtschaftliche Realität sieht anders aus.“
„Ich werde versuchen, alle in meiner Familie zu einer Spende zu animieren.“
„Danke. Trotzdem muss ich mich vorsichtshalber auf das Schlimmste vorbereiten.“
„Das Schlimmste wäre …?“
„Dass wir wirklich schließen müssen und ich ohne Arbeit dastehe.“
„Was willst du deswegen unternehmen?“
Maureen schenkte ihr ein angespanntes Lächeln. „Ich könnte einen Job im Bücherbus bekommen, aber mir wird während der Fahrt immer schlecht. Ich hab meinen Lebenslauf online gestellt. Mal sehen, vielleicht kommt ja was dabei herum. In der Zwischenzeit versuche ich, mich auf das Krippenspiel und die Feiertage zu konzentrieren. Weihnachten hat mich noch nie im Stich gelassen.“
„Ich weiß, dass du das großartig machen wirst“, sagte Daisy, um ihrer Freundin Mut zu machen. „Wenn ich dir irgendwie helfen kann – hinter den Kulissen natürlich –, sag Bescheid. Ich bin Fotografiestudentin und arbeite nebenbei freiberuflich. Wie wäre es mit einem Poster?“
„Wirklich? Wow, das ist so nett von dir. Ich hätte gerne ein paar Fotos von dem Ereignis. Und ein Poster oder Flyer wäre großartig.“
„Damit kann ich dir helfen.“ Daisy wühlte in ihrer Tasche und holte eine Visitenkarte heraus, die sie Maureen gab.
„Toll. Und ich werde für dich und Charlie VIP-Plätze beim Krippenspiel reservieren.“
Daisys Magen zog sich zusammen. „Da werde ich leider alleine kommen“, sagte sie. „Charlie wird Weihnachten bei seinem Dad verbringen.“ Es tat weh, es laut auszusprechen.
„Oh. Ich schätze, das bedeutet Charlie und seinem Dad sehr viel“, erwiderte Maureen diplomatisch. Sie schaute zu Charlie, der das Buch weiterhin zu Motorgeräuschen über den Boden schob. „Er ist einer meiner liebsten Besucher, weißt du.“
Als wenn er spürte, dass über ihn gesprochen wurde, schaute Charlie zu ihr auf, streckte seine Arme aus und schenkte ihr sein strahlendes Lächeln, das schon auf eine Zukunft als Herzensdieb hinwies.
„Du hattest mich schon beim ersten Hallo um den Finger gewickelt“, sagte Maureen.
Er hielt das Buch hoch, als wäre es der Heilige Gral. „Lesen“, sagte er.
Daisy ging zu ihm. „Wir nehmen das Buch mit und lesen es zu Hause, okay?“
Er verzog das Gesicht. „Lesen.“
„Ich habe noch ein paar Minuten“, versicherte Maureen ihr und schob den Bücherwagen beiseite. „Für eine Geschichte ist immer Zeit. Das ist eine der vielen Regeln einer Bibliothekarin.“
„Bist du sicher?“
„Vertrau mir. Das ist mein Beruf.“ Sie hob den Jungen auf ihren Schoß.
In ihren Augen lag ein sehnsüchtiger Ausdruck, als sie sich mit Charlie und dem Buch hinsetzte. Beinahe wie Traurigkeit. Daisy fragte sich, woher die stammte.
„Dann gehört er ganz dir“, sagte sie. Ihr Handy vibrierte und kündigte eine eingegangene SMS an.
Einen Augenblick später war Charlie glückselig in Maureen Schoß gekuschelt und sang gemeinsam mit der kleinen Lokomotive „Ich glaub, ich kann das.“
Daisy ging nach draußen, um die SMS zu lesen. Sie war von Lo gan.
HEY DU. WIE GEHT ES MEINEM JUNGEN?
IM SCHWARZEN BUCH DES WEIHNACHTSMANNES, schrieb sie zurück. ER MOCHTE ES NICHT, AUF SEINEM SCHOSS ZU SITZEN.
DAS IST MEIN SOHN! ICH HABE MICH VOR DEM DICKEN MANN AUCH IMMER GEGRUSELT. WOLLTE MIT DIR ÜBER WEIHNACHTEN SPRECHEN: WANN?
HEUTE ABEND. GEGEN 7. DANN KANNST DU IHN NOCH BADEN.
Leicht besorgt steckte sie das Telefon weg. Sie und Logan hatten keine offizielle Sorgerechtsvereinbarung; sie beruhte alleine auf der gemeinsamen Liebe zu ihrem Sohn. Logan lebte und studierte in New Paltz, was mit dem Auto nicht allzu weit von Avalon entfernt war. Entgegen den Wünschen seiner Eltern hatte er sich für das staatliche College entschieden, um näher bei Charlie sein zu können.
Und trotz ihres etwas holprigen Starts als Großeltern waren die O’Donnells inzwischen in ihre Aufgabe hineingewachsen. Dieses Jahr hatten sie zum ersten Mal gefragt, ob Logan Charlie an Heiligabend mit nach Long Island bringen und am nächsten Tag zurückfahren könnte.
Daisy hatte lange darüber nachgedacht. Charlie am Heiligabend abgeben? Den magischsten Abend des Jahres ohne ihren Zweijährigen verbringen? Könnte sie das wirklich tun?
Schlussendlich war es Charlie, der ihr die Entscheidung abgenommen hatte. Er betete seinen Vater geradezu an, und er verdiente es, genauso ein Teil der O’Donnell-Familie wie der Bellamys zu sein.
Trotzdem tat der Gedanke weh, den Heiligabend ohne ihn zu verbringen. Daisy erinnerte sich daran, dass sie eine großartige Familie hatte, die sie auffangen würde. Ihre Eltern und Stiefeltern waren die besten. Aber früher am Tag hatte sie heute eine schlechte Nachricht erhalten. Sonnet, ihre beste Freundin, die in Deutschland studierte, hatte sich entschieden, noch ein Semester in Übersee zu bleiben und Weihnachten mit ihrer Gastfamilie zu verbringen.
Daisys Handy klingelte erneut, dieses Mal mit einer Melodie, die ihr Herz schneller schlagen ließ: „You’ve Got to Hide Your Love Away“ in der Version von Eddie Vedder. Das war der Klingelton, den sie für einen ganz besonderen Menschen in ihrem Leben reserviert hatte: Julian Gastineaux.
Julian war der Mann.
Der, an den sie seit der zehnten Klasse dachte. Der, den sie nie ganz vergessen konnte.
Sie nahm den Anruf an. „Hey.“
„Selber hey. Ich bin in Avalon. Bin letzte Nacht angekommen. Haben Olivia und Connor dir davon erzählt?“
Sie lehnte sich gegen das Bibliotheksgebäude. Ein Lächeln breitete sich langsam auf ihrem Gesicht aus. „Ich habe noch nicht mit meiner Cousine gesprochen. Gott, ich kann nicht glauben, dass sie es mir nicht erzählt hat. Ich kann nicht glauben, dass du es mir nicht erzählt hast.“
„Ich muss heute wieder zurück. Wann kann ich dich sehen? Die Fahrt nach Cornell dauert vier Stunden, also je eher, desto besser.“
Daisy schlang ihren freien Arm um ihren Oberkörper. Die Worte waren ein Lied, das durch ihren Körper brandete. Julian. Einen Sommer lang, vor all dem Chaos, vor Charlie, vor allem, war Julian das Beste in ihrem Leben gewesen. Sicher, sie waren beide noch sehr jung gewesen, Highschoolschüler, aber jedes Mal, wenn sie zusammen waren, merkte sie, dass sie „für immer“ dachte. Da war ein Funkeln zwischen ihnen … etwas Mächtiges und Seltenes. Eine Leidenschaft. Vielleicht sogar eine Zukunft.
Aber wenn man sechzehn ist, tut man dumme Sachen. Zumindest hatte Daisy das getan. Am Ende des Sommers hatten sich ihre Wege getrennt. Ihrer hatte sie zurück zu ihrer so unglaublich exklusiven Privatschule in Manhattan geführt und seiner zu einem Leben in Chino, Kalifornien, über das er sich weigerte zu reden. Trotz der großen, uneingestandenen Sehnsucht zwischen ihnen hatten sich ihre Lebenswege danach nur ganz selten gekreuzt.
Aber wenn sie es taten … Zum Glück war sein Halbbruder Connor Davis mit Daisys Cousine Olivia verheiratet. Denn so gehörten sie und Julian zu einer Familie, egal, was kommen würde. Und er wusste es noch nicht, aber er würde ihr Weihnachten retten.
Er hatte die Angewohnheit, unangekündigt aufzutauchen – und oft dann, wenn sie ihn am meisten brauchte. Das Funkeln zwischen ihnen war nie ganz verloschen. Sie sagte sich oft, dass sie das endlich hinter sich lassen sollte. Ihn hinter sich lassen sollte. Er studierte an der Cornell und finanzierte sich sein Studium durch ein Stipendium der Air Force. Ihr kam es immer so vor, als wenn jede freie Minute bei ihm mit Training und Übungen verplant war.
Daisy beschloss, sich darüber keinen Kopf zu machen. Julian war in der Stadt. „Wo bist du?“, fragte sie. „Wie schnell können wir …“
„Dreh dich um, Daze.“
Ihr Herz sprang ihr beinahe aus der Brust. Sie ließ ihre Handtasche fallen und rannte zu ihm. Mit einem Mal sehnte sie sich so verzweifelt danach, seine Arme um sich zu fühlen.
„Hey“, sagte er lachend. Sein Atem strich warm über ihr Haar, als er sie an sich zog. „Hey, du.“
Sie entzog sich ihm. Da war er wieder, dieser heikle, schwerfällige Moment, der immer zwischen ihnen entstand. Bleiben wir in der Umarmung stehen? Lassen wir einander los und treten einen Schritt zurück? Geben wir uns einen Kuss auf die Wange? Sie war sich nie sicher, was sie tun sollte, weil sie sich nie sicher war, was sie füreinander waren. Sie trat zurück und spürte, wie der kalte Wind sich zwischen sie schlängelte. Sie musste ja nicht gesehen werden, wie sie in der Öffentlichkeit mit ihm rummachte. Die Leute klatschten gewiss auch so schon genug über sie. Das arme Bellamy-Mädchen, so eine Enttäuschung für ihre Familie …
„Wie hast du mich gefunden?“, fragte sie.
„Ich habe dein Auto auf dem Parkplatz stehen sehen.“ Er grinste. „Es ist ja auch kaum zu übersehen.“
Als sie angefangen hatte, als Hochzeitsfotografin zu arbeiten, hatte ihr Dad ihr Magnetschilder mit ihrem Logo geschenkt, die sie an die Türen ihres Autos heften konnte. Daisy fand die Logos nicht ganz so prickelnd, aber da ihr Vater ihr das Auto geschenkt hatte, wollte sie nicht zu kritisch sein.
„Also, hast du Zeit für einen Kaffee“, fragte Julian. „Oder …“
Sie wollte den Kaffee. Sie wollte das Oder. Aber beides war im Moment leider keine Option. „Ich wünschte, ich hätte“, sagte sie und zeigte in Richtung Bibliothek. „Charlie ist da drin und bekommt gerade eine Geschichte vorgelesen.“
„Dann heute Abend“, sagte Julian. „Hast du heute Abend Zeit? Mir ist es egal, wie spät ich aufbreche, um nach Cornell zurückzufahren.“
Sie dachte an Logans SMS von vor wenigen Minuten, und ihr wurde das Herz schwer. „Unglücklicherweise habe ich heute keine Zeit.“ Verdammt, dachte sie. Verdammt. „Und ich will nicht, dass du bei diesem Wetter spätnachts noch fährst. Trotzdem, ich wünschte, wir hätten ein wenig mehr Zeit füreinander.“
„Du meinst, mehr als fünf Minuten?“, fragte er. „Ja, das wünsche ich mir auch.“
Er hatte ein magisches Lächeln. Wenn sie so darüber nachdachte, war eigentlich alles an ihm magisch. Er war groß und unglaublich gut aussehend, sogar nachdem er sich für die Air Force die Dreadlocks abgeschnitten hatte. Doch es war nicht nur sein Aussehen, was sie so anzog. Er faszinierte sie einfach, und er war ihr gegenüber immer unerschütterlich loyal und beschützend.
„Na ja, zumindest sehe ich dich dann an Weihnachten, oder?“, sagte Daisy. Gott sei Dank, dachte sie. Mit Charlie bei den Großeltern hatten die Feiertage schon gedroht, eine große Katastrophe für sie zu werden. Aber wenn Julian da war … Sie stellte sich vor, wie sie sich zusammenkuscheln und Musik hören würden, endlich einmal Zeit fänden, ungestört miteinander zu reden, oder einander einfach nur zu halten und näherzukommen. Sie konnte ihre Gefühle nicht unterdrücken, deshalb sagte sie: „Du hast keine Ahnung, wie sehr ich dich am Heiligabend brauche, Julian. Ich hatte schon Angst, dass ich ihn ganz allein verbringen müsste.“
„Daisy …“
„Ich habe mich so davor gefürchtet“, fuhr sie schnell fort. „Logan nimmt Charlie Heiligabend zu seiner Familie nach Long Island mit, was für mich wirklich grausam ist, weißt du, so ohne ihn, selbst wenn es nur für eine Nacht ist. Aber der Gedanke, am Weihnachtsmorgen ohne ihn aufzustehen …“
„Daisy, da kann ich dir leider auch nicht helfen.“ In Julians Gesicht zeigte sich sein schmerzhafter Ausdruck.
„Ich weiß, aber wenn du hier bist, wird es erträglicher.“
„Das versuche ich dir ja gerade zu erklären. Ich werde nicht hier sein. In den Weihnachtsferien habe ich ein Training in Florida.“
Sie brauchte einen Augenblick, um diese Nachricht zu verdauen. „Training. Du trainierst an Weihnachten.“
„Das ist eine Pflichtveranstaltung“, erklärte er.
„Über Weihnachten?“
„Das ist der Preis für ein Stipendium der Air Force“, sagte er. „Ich habe achtundvierzig Stunden frei, aber das reicht nicht, um nach Hause und zurück zu fahren. Sieh mal, ich erhalte eine kostenlose Ausbildung, und dafür muss ich ein paar Nachteile in Kauf nehmen. Ich finde, es ist ein fairer Deal. Ich wäre Weihnachten wirklich gerne hier, aber das geht nun mal nicht. Ich muss an meine Zukunft denken. Ich habe mit nichts angefangen und könnte mir Cornell ohne dieses Programm niemals leisten. Es ist das einzige Ticket für ein gutes Leben, das ich habe. Du weißt, wie wichtig das für mich ist.“
Und wann werde ich mal wichtig sein? fragte sich Daisy. Oder passiert das niemals?
Sie schaute zu Boden, weil sie ihn nicht mit ihren Unsicherheiten belasten wollte. „Du hast recht“, sagte sie leise. Sie riss sich zusammen, um ihre Sehnsucht und ihr Bedauern nicht zu zeigen. „Du musst tun, was du tun musst. Und ich genauso.“
„Es tut mir leid“, sagte er.
„Das muss es nicht. Es ist ja nicht deine Schuld. Wir sehen uns dann … wenn wir uns sehen, stimmt’s?“ Sie zwang sich zu einem strahlenden Lächeln. Dann schaute sie auf ihre Uhr. „Hör zu, ich will nicht, dass die Bibliothekarin denkt, ich hätte Charlie ausgesetzt. Also mach ich mich besser mal wieder auf den Weg.“
„Okay.“ Er nahm ihre Hand und drückte sie kurz auf seine Brust, nah an seinem Herzen. Seine Augen erzählten ihr Dinge, die er ihr niemals sagen würde, das wusste sie. Dann beugte er sich schnell vor und berührte ihre Lippen mit seinen. „Bye, Daisy. Ich hoffe, dass du und Charlie ein schönes Weihnachten habt.“
Noch mal, dachte sie. Küss mich noch mal.
Das tat er jedoch nicht, also trat sie einen Schritt zurück. „Du auch, Julian. Ruf mich an, okay?“
„Na klar.“
Oder noch besser, dachte sie, bitte mich, jetzt mehr Zeit mit dir zu verbringen. Doch auch das tat er nicht. Sie versuchte, nicht zu schnell zur Bücherei zu laufen, weil es nicht so aussehen sollte, als würde sie fliehen. Im Foyer blieb sie kurz stehen, um sich zu sammeln. Sie schloss ihre Augen und unterdrückte ein Seufzen. Ich hoffe, dass du und Charlie ein schönes Weihnachten habt. Sie würde ihren Sohn an Weihnachten zu seiner anderen Familie schicken. Sonnet kam nicht nach Hause. Julian war nicht da. Wie gut könnte Weihnachten da werden?
Oh, und Logan wollte heute Abend auch über Weihnachten sprechen. Sie fragte sich, was es damit wohl auf sich hatte.
Daisy hatte es mittlerweile aufgegeben, Pläne zu machen, die über die nächsten paar Stunden hinausgingen. Mit einem kleinen Kind war das einfach unmöglich. Sie war in einem Alter, in dem ihre Freunde die Welt bereisten, neue Leute trafen, ihren Träumen nachgingen, die sie seit frühester Kindheit gehabt hatten.
Daisys Leben war da ganz anders. Es drehte sich um Charlie, und alles andere kam mit weitem Abstand an zweiter Stelle. Ihre Träume waren jedoch immer noch da, tief in ihrem Inneren und doch irgendwie weit von ihr entfernt. Sie wollte immer noch ihrer Leidenschaft für Fotografie und Kunst fol gen.
Und sie wollte verliebt sein. Sie wollte die Art Liebe, die so stark war, dass sie schon beinahe schmerzte. Sie wollte die Gefühle, die sie spürte, wenn Julian ihre Hand auf sein Herz drückte und alles, was er fühlte, in seinen Augen zeigte. Aber es war ein dünner Grat zwischen Liebe und Schmerz.
Die Menschen sagten, wenn die echte Liebe vorbeikäme, würde man es wissen.
Aber stimmte das?
Eines hatte sie von Charlie gelernt: Es gab viele verschiedene Arten von Liebe. Da war die Liebe zu ihrem Kind, die aus einer so übersprudelnden, hellen Freude bestand, die aus sich selbst heraus zu leuchten schien. Und die sich in Sekundenschnelle in pure Panik verwandelte, wenn Charlie krank wurde, und einen so starken Beschützerinstinkt in ihr hervorrief, dass sie ihren Sohn zur Not mit ihrem Leben verteidigen würde.
Und dann waren da ihre Gefühle für Logan. Auch wenn er der Vater ihres Kindes war, war er nie ihr Freund gewesen. Eine Mischung aus Hormonen und Verwirrung und der für Teenager üblichen Angst hatte sie zusammengebracht; dazu waren diverse Tabletten und Hasch gekommen. Und ein paar Wochen später wurde Daisy von morgendlicher Übelkeit geplagt, und Logan fand sich in einer Entzugseinrichtung wieder.
Niemand, am wenigstens Daisy, hatte erwartet, dass er Verantwortung übernehmen und ein Vater werden würde. Doch Logan hatte alle überrascht, indem er genau das getan hatte. Sie musste ihm Anerkennung zollen für seine Hingabe und sein Engagement. Aber war das das Gleiche wie Liebe? Sie waren durch ein starkes Band verbunden, das daraus bestand, dass sie Charlie gemeinsam gezeugt hatten und ihn beide abgöttisch liebten. Also waren ihre Gefühle für ihn doch irgendwie Liebe. Aber sie wusste nicht, ob es die Liebe war, die so notwendig war wie die Luft zum Atmen, die Liebe, die ein Leben lang hielt.
Sie hatten nie darüber gesprochen. Zumindest nicht direkt. Seltsam, genauso ging es ihr auch mit Julian. Es gab eine stillschweigende Übereinkunft, ihre Beziehung undefiniert zu lassen. Wenn man nicht wusste, was etwas war, wenn man seine Gefühle nicht zugab, konnten sie einem auch nicht wehtun.
Oder?