28. KAPITEL

Kate saß mit dem Laptop auf den Verandastufen und formulierte Fragen, die sie Callies Mutter im Interview stellen wollte. Aaron spielte mit dem Hund im Garten, und Callie war mit dem Bus zu ihrem Kurs in die Stadt gefahren. In der Zwischenzeit sollte Kate ein gutes Stück mit ihrer Arbeit vorankommen, aber im Moment fragte sie sich, ob sie wirklich dafür gemacht war, ihr Geld als freie Journalistin zu verdienen. Alleine das Überlegen der Fragen bereitete ihr Bauchschmerzen. Sie konnte sich weder vorstellen, sie zu stellen, noch, ehrliche Antworten darauf zu erhalten.

Ms Evans, was hat Sie dazu gebracht, in einer Kommune zu leben, die von einem Pädophilen geleitet wurde?

Wussten Sie, dass er Ihrer Tochter nachstellen würde, sobald sie in die Pubertät käme?

Und später, als Sie sie in Tacoma zurückgelassen haben – hatten Sie da angenommen, irgendjemand würde Ihnen das als verantwortungsvolle Erziehung auslegen?

In ihrem Studium hatte sie grundsätzliche Regeln dafür gelernt, wie man sogar den widerspenstigsten Personen Informationen entlockt. Aber sie konnte sich nicht erinnern, was zu tun war, wenn das Interview selber schon widerspenstig war. Vielleicht nutzte man dann die uralte Methode, die immer funktionierte: Man ließ den Interviewpartner reden, machte sich Notizen und schrieb dann die Wahrheit.

Was wird es Callie bringen, wenn ihr Leben in der Presse breitgetreten wird? JDs Missbilligung schlich sich in ihre Gedanken und unterspülte ihre Überzeugung. Halt den Mund! wollte sie sagen. Geh weg! Seine Meinung sollte ihr nicht mehr wichtig sein. Sie war eine eigenständige Person, schon immer gewesen, und für ein paar verrückte Wochen hatte sie sich erlaubt, das zu vergessen. Jetzt war sie wieder klar im Kopf und entschlossen, über ihn hinwegzukommen. Je eher, desto besser.

„Mom“, rief Aaron aus dem Garten. „Hey, Mom, schau mal!“

Dankbar für die Ablenkung, stellte sie den Laptop zur Seite, schlang die Hände um die Knie und lehnte sich zurück, um ihrem Sohn zuzusehen. „Ich bin bereit, Großer“, rief sie ihm zu.

Er lockte Bandit in ein Kunststück, das sie den ganzen Sommer über geübt hatten. Ab und zu hatte es geklappt, aber das war mehr Zufall gewesen. Heute jedoch führte der Hund den Trick perfekt aus.

„Lass uns beten“, sagte Aaron, streckte seine Hände hoch und schaute in den Himmel.

Sofort setzte sich der Hund, streckte die Pfoten aus und senkte den Kopf, bis Aaron sagte: „Amen!“ Dann sprang Bandit auf und rannte wild im Kreis.

Kate war begeistert. Denn auch wenn Bandit ein ganz liebenswerter Kerl war, war er doch nicht der hellste Stern am Hundehimmel. Seine Fähigkeiten hatten sich bisher in dem Befolgen von einfachen, aus einem Wort bestehenden Kommandos erschöpft.

Zumindest hatte sie das gedacht. Dank Aarons Hartnäckigkeit hatte der Beagle aber doch noch einen neuen Trick gelernt. Und Kate hatte ebenfalls etwas gelernt: Man sollte niemanden vorschnell abschreiben, nur weil man denkt, er hätte keine Begabung.

„Ihr seid unglaublich, ihr zwei!“, freute sie sich. „Ich bin stolz auf dich, Aaron.“

Er richtete sich ein bisschen gerade auf und grinste ein wenig breiter. „Stolz genug, meinen Hausarrest aufzuheben?“

„Das hättest du wohl gerne. Das eine hat aber mit dem anderen nichts zu tun.“

Mom ...“

„Noch ein Piep, und ich hänge noch einen Extratag ohne Schwimmen und Radfahren daran.“

Er sackte merklich zusammen.

Kate fühlte sich schrecklich, aber sie wusste, dass sie konsequent bleiben musste. Ihm das Radfahren und Schwimmen zu verbieten war jetzt besonders gemein, wo der Sommer sich dem Ende näherte und jeder Tag zählte.

Er sah so unglücklich aus, und für seine Ausdauer mit Bandit hatte er wirklich eine Belohnung verdient.

„Weißt du was?“, schlug Kate vor. „Lass uns mit dem Kajak rausfahren.“

„Jaaa!“ Er rannte los, um Schwimmwesten und Paddel zu holen. Wenige Minuten später paddelten sie schon in Richtung Seemitte, und die Sonne glitzerte auf den Wassertropfen, die von den Ruderblättern rannen.

Wahrscheinlich hätte sie es ihm verbieten sollen – andererseits waren ein Radfahr- und Schwimmverbot schlimm genug. Und Kajakfahren war schließlich eine relativ sichere Art, das Wasser zu genießen.

Sie saß hinter ihm in dem schmalen Boot, und ihr fiel auf, wie stark seine Arme in diesem Sommer geworden waren, wie hell die Sonne seine Haare gebleicht hatte. Sommersprossen sprenkelten seine Haut. Er war in den letzten Wochen auch größer geworden – nicht nur äußerlich, auch innerlich; er war selbstsicherer, weniger wütend. Mein Junge wird erwachsen, dachte sie.

Eine Weile ruderten sie schweigend vor sich hin. Der Schatten des Kajaks jagte die dunkelblauen Tiefen unter ihnen. Sie verspürte einen Anflug von Melancholie. Egal, wie oft sie über diesen See fuhr, er fühlte sich immer wieder neu an und überwältigte sie mit seiner Schönheit.

Den stetigen Rhythmus der Ruderbewegung beibehaltend, sagte Aaron: „Ich vermisse JD.“

Ich auch.

„Warum kommt er nicht mehr zu uns? Etwa weil ich mit meinen Fahrrad vom Steg in den See gesprungen bin?“

Kate seufzte. Aaron gab immer sich die Schuld, wenn Männer sie sitzen ließen. „Nein, das hat damit überhaupt nichts zu tun“, widersprach sie. „Sei nicht dumm!“

„Ich dachte, ihr seid so was wie Freund und Freundin.“

Kate biss die Zähne zusammen. Sie war eine Idiotin! Sie hätte es inzwischen doch besser wissen müssen! Sobald sie einen Mann auch nur zweimal anschaute, fing Aaron an, sich Hoffnungen zu machen. Wenn sie sich in jemanden verliebte, setzte sie mehr als nur ihr Herz aufs Spiel; sie riskierte, dass auch Aarons Herz gebrochen wurde. Das wusste sie. Wie hatte sie nur so sorglos sein können? Es war egal, dass sie von Anfang an immer wieder erklärt hatte, dass JD nicht dauerhaft in ihrem Leben sein würde. Aarons Vaterfantasien waren trotzdem mit ihm durchgegangen.

Als sie die Traurigkeit in der Stimme ihres Sohnes hörte, hätte sie am liebsten auch geweint. „Wir waren ... nicht füreinander bestimmt“, versuchte sie sich an einer Erklärung. „Darum gehen wir wieder getrennte Wege.“

Ihr Sohn behielt seinen stetigen Ruderschlag bei. „Das ist dumm.“

„Warum sagst du das?“

„Weil JD dich mag. Er mag sogar mich.“

„Sei nicht albern! Jeder mag dich.“

„Ja, genau. Ich weiß, in deinen Augen bin ich nur ein dummer Junge ...“

„Aaron!“

„Aber ich weiß mehr, als du denkst.“

„Ich denke, dass du eine ganze Menge weißt.“

„Wie zum Beispiel, dass er perfekt für uns ist“, offenbarte Aaron. „Und ich finde es doof, dass du ihn vertrieben hast.“

„Ich habe ihn nicht vertrieben! Er ist aus freien Stücken gegangen, und es gibt keinen Grund, darauf zu hoffen, dass er wiederkommt. Denn das wird nicht passieren – nicht mal, wenn ich es mir wünschen würde. Es ist besser so, Aaron! Besser, es passiert jetzt als später. Wir beide halten uns lieber voneinander fern.“

„Warum?“

„Das ist kompliziert.“

„Ist es nicht! Es ist einfach. Er mochte uns, Mom! Er wollte bei uns sein. Ich wette, er hatte sogar schon angefangen, uns zu lieben. Und das passiert uns nicht jeden Tag.“

Beinahe hätte Kate das Paddel fallen lassen. Wer war dieser Mensch, der so erwachsen und selbstsicher klang?

„Niemand hat irgendetwas angefangen.“ Was bin ich nur für eine Lügnerin, dachte sie. Kein Wunder, dass Aaron alles, was sie sagte, skeptisch betrachtete. Sie nahm einen tiefen Atemzug und versuchte es erneut. „Es gibt viele verschiedene Arten von Liebe, mein Großer. Einige sind dafür gemacht, ein Leben lang zu halten, so wie meine Liebe für dich. Und manche halten nur einen Sommer lang, dann lässt man sie los und zieht weiter. Vertrau mir, es ist besser so. Nur wir beide.“

„Klar, Mom.“

In besinnlichem Schweigen paddelten sie weiter. Mit den Fußpedalen lenkte Kate das Kajak in die entgegengesetzte Richtung von JDs Haus. Sieh nicht hin! befahl sie sich. Was immer du tust – sieh nicht hin!

Aber sie schaute doch.

Auch wenn sie weiter entfernt waren, konnte sie sehen, dass JD im Garten war und den Rasen mähte. Er hatte sein T-Shirt ausgezogen und in den Bund seiner Jeans gesteckt. Sonnenlicht tanzte über seine sehnigen, braun gebrannten Arme, starken Beine, breiten Schultern. Der Anblick erinnerte sie an das Gefühl, von diesen Armen umschlossen zu werden, an sein Flüstern an ihrem Ohr und daran, wie sein Gesicht den wachsamen Ausdruck verlor, wenn er sie anlächelte. In diesem Moment wusste sie, dass Aaron recht hatte. Sie vermisste JD. Und zwischen ihnen hatte etwas angefangen – etwas Gutes, Echtes. Sie hätte es hegen und pflegen sollen, anstatt ihm zu misstrauen, es zu hinterfragen und dann wegzuwerfen. Aber jetzt war es zu spät. Oder?

„Wie auch immer“, unterbrach Aaron ihre Gedanken. „Es sind nicht mehr nur wir beide. Mit Callie sind wir zu dritt.“

„Zumindest diesen Sommer über.“

„Sie könnte länger bei uns bleiben ...“

„Ja, vielleicht“, nickte Kate. „Zumindest sollte man darüber nachdenken ...“

„Was gibt es denn da nachzudenken? Wir haben Bandit adoptiert, dann können wir doch auch Callie adoptieren.“

Obwohl Kate eigentlich wusste, dass sie von nichts überrascht sein sollte, was Aaron sagte, war sie es dennoch immer wieder. „Ich habe über das Ende des Sommers nachgedacht“, erklärte sie. „Wenn die Jugendfürsorge zustimmt, könnten wir ihre Pflegefamilie werden. Es ist bisher nur eine Idee, aber wir alle drei sollten darüber sprechen. Ob das das Richtige für Callie wäre und wie es funktionieren könnte ...“

„Es würde funktionieren!“, rief Aaron im Brustton der Überzeugung. „Kein Problem.“

Sie musste lachen. „Teenager bedeuten eine ganze Menge Arbeit.“

„So wie Bandit und wie ich.“

Kate runzelte die Stirn. „Was meinst du damit?“

„Komm schon, Mom! Du musst meinetwegen ständig irgendwelche Schultreffen, Sportveranstaltungen oder sonst was besuchen, und deswegen hast du deinen Job verloren. Aber es hat dir nichts ausgemacht, weil ich dir wichtiger bin.“ Er warf ihr über die Schulter einen wissenden Blick zu. „Wie mache ich mich?“

„Ich bin sprachlos!“

„Bist du nicht.“

„Stimmt. Du denkst also, du wärst ein ganz schönes Stück Arbeit?“

„Ich weiß, dass ich das bin.“

Kate war so jung gewesen, als sie mit ihrer Schwangerschaft konfrontiert worden war. Sie erinnerte sich noch gut an die Mischung aus Überraschung, Panik, Freude und Angst, die sie empfunden hatte, als der Schwangerschaftstest ihre Befürchtungen bestätigt hatte. Nathan war von der Bildfläche verschwunden, und für sie hatten sich weder eine Abtreibung noch die Freigabe zur Adoption richtig angefühlt. Also hatte sie Aaron mit offenen Armen empfangen, und sie war jeden Tag dankbar für diese Entscheidung. Dein Junge ist ein Geschenk, hatte JD gesagt. Egal, was danach zwischen ihnen passiert war – sie würde sich immer an diesen Satz von ihm erinnern.

„Du machst mir aber auch eine Menge Freude, das weißt du doch, oder?“, fragte sie ihren Sohn.

„Weiß ich, Mom. Und ich bin mir sicher, dass es mit Callie und uns als Familie funktionieren würde.“

„Meinst du, das sieht sie genauso?“

„Das kannst du sie gleich jetzt fragen.“ Aaron zeigte mit dem Paddel aufs Haus.

Callie kam gerade die Einfahrt herunter, während im Hintergrund der Bus wieder abfuhr. Bandit sprang ihr freudig entgegen und begrüßte sie mit einem lauten Bellen. Sie kauerte sich hin, streichelte ihn und ließ sich das Gesicht abschlecken. Kate beobachtete die beiden, während das Kajak langsam an den Steg glitt, und verspürte eine starke Zuneigung zu dem Mädchen. Callie hatte den ganzen Sommer über zur Familie gehört. Das sollte nicht vorbei sein.

Nach dem Mittagessen fuhr der Kurierdienst vor und brachte ein kleines, flaches Päckchen. „Das Haus hier ist aber gar nicht leicht zu finden“, bemerkte der Fahrer, als Kate den Empfang der Sendung quittierte.

„Deshalb mögen wir es ja auch so gerne“, gab sie lächelnd zurück. Doch als sie den Absender des Päckchens las, verschwand ihr Lächeln. Sie ging ins Haus, wo Callie und Aaron gerade das Geschirr vom Mittagessen wegräumten. Aaron rannte nach draußen, bevor sie ihm noch weitere Aufgaben zuteilen konnte.

„Wer war das?“, wollte Callie wissen.

Kate antwortete nicht gleich. Sie holte ihren Laptop an den Küchentisch und reichte Callie dann das Paket.

„Oh.“ Callie klang nervös, fhre Hand zitterte ein wenig, als sie den Umschlag öffnete und eine glänzende CD herausholte.

Kate vergaß beinahe zu atmen, während sie die CD in ihren Laptop steckte und öffnete.

„Das wird bestimmt ganz schrecklich, ich weiß es“, murmelte Callie.

Kate sagte nichts. Sie wusste, wie zerbrechlich Callie war, und hoffte, dass die Fotos ihr nicht noch mehr wehtun würden – aber sie wusste auch, dass die Gefahr bestand. In ihren Jahren bei der Zeitung hatte sie eine Menge schlechter, unvorteilhafter Fotos gesehen. Aber das hier ist die Vanity Fair, sagte sie sich. Das Magazin arbeitete nur mit den besten Fotografen.

Das erste Bild erschien auf dem Monitor, und Kate stieß langsam die angehaltene Luft aus. Dann warf sie Callie einen Blick zu, die wie gebannt auf das Foto schaute.

Als sie durch die Fotos blätterten, wurde es Kate warm ums Herz. Die Bilder hatten eine beinahe lyrische Qualität! Wie sie die Fülle der Landschaft in all ihrer majestätischen Pracht einfingen! Im goldenen Licht der Sonne wirkte der Hintergrund wie ein Gemälde. Doch so faszinierend der See und die Berge auch waren: Der Star der Fotos war Callie. Die Linse des talentierten Fotografen hatte eingefangen, wie hart und zäh, aber auch wie verletzlich sie war. Sie wurde mit einer schlichten Ehrlichkeit abgebildet, die zu ihr passte.

„Ich glaube, das hier ist mein Lieblingsbild“, sagte Kate und zeigte auf ein Foto, auf dem Callie leicht nach oben in die Linse schaute. Das Bild fing ihre Intelligenz ein und ihre Traurigkeit, und doch deutete das leichte Kräuseln ihrer Lippen ihren unbeugsamen Sinn für Humor an.

Kate verspürte den Drang, zu JD hinüberzulaufen und ihm wie eine stolze Mutter die Bilder zu zeigen. Aber natürlich unterdrückte sie den Impuls. JD würde die Bilder hassen, egal wie schön sie waren. Sein kompromissloses Missfallen stand kalt und unbeweglich zwischen ihnen. Lächerlich!

Und dennoch führte es dazu, dass sie sich selber infrage stellte. Drang sie nur in Callies Privatsphäre ein, um davon zu profitieren? Oder würde das Leben des Mädchens die Leser berühren?

„Ich bin so aufgeregt!“ Callie scrollte noch einmal durch die Bilder. „Die sind viel besser, als ich je zu hoffen gewagt hatte.“

„Du bist wunderschön“, lächelte Kate. „Die Bilder werden dir wirklich gerecht.“ Aus einem Impuls heraus berührte sie die Hand des Mädchens, und zum ersten Mal zuckte Callie nicht zurück. „Ich bin so froh, dass du langsam wieder gesund wirst.“

„Ja, das rufe ich mir auch jedes Mal ins Gedächtnis, wenn du dich wegen meiner Diät und des Sports wie ein Tyrann aufführst.“

„Ein Tyrann?“

„Na ja, du kommandierst mich schon ganz schön herum. Aber das ist in Ordnung.“

„Das ist wohl meine Art, Elternteil zu sein.“ Kate fragte sich, ob Callie bemerkt hatte, was ihr da herausgerutscht war. Falls ja, so sagte sie zumindest nichts.

Sie bestaunten noch eine Weile die Bilder, dann zogen sie sich für ihren nachmittäglichen Spaziergang um. Heute war die vier Meilen lange Strecke zum Ende der Straße und zurück bis East Beach dran. Auch wenn Aaron sich beschwerte, weil er nicht mit dem Fahrrad fahren durfte, nahm er Bandit gut gelaunt an die Leine und ging voran. Am Ende des Weges legten sie am Strand eine kleine Pause ein. Callie und Kate machten es sich nebeneinander auf einer Picknickbank bequem und tranken Wasser. Aaron konnte nicht ruhig sitzen bleiben und ging ans Wasser, um für seine Autos Tunnel und Gräben in den Sand zu buddeln.

„Er ist wirklich ein tolles Kind“, sagte Callie nach einer Weile.

Kate sah sie überrascht an und lächelte dann. „Das finde ich auch.“

„Er weiß sich immer zu beschäftigen. Die Kinder in den Pflegefamilien haben den ganzen Tag nur vor dem Fernseher gesessen.“

„Das ist einer der Gründe, wieso ich keinen Fernseher mehr habe, seit Aaron drei ist. Eines Tages stimmte er das Lied aus der Waschmittelwerbung an, als wir im Supermarkt waren, und da dachte ich, dass irgendwas nicht richtig läuft. Ich habe den Fernseher noch am gleichen Tag entsorgt, und jetzt leihe ich mir nur alle vier Jahre einen, um die Olympischen Spiele anzusehen. Kann sein, dass das ein großer Fehler ist, ich weiß es nicht. Manchmal habe ich das Gefühl, ein Kind zu erziehen ist ein einziges soziales Experiment, bei dem man leider keine Kontrollgruppe zur Überprüfung der Ergebnisse hat.“

Callie versank wieder in Schweigen, doch Kate spürte ihren Wunsch zu reden. „Wie läuft es bei dir?“

„Meine Diätberaterin findet, dass ich mein Tagebuch zu schlampig führe“, berichtete Callie. „Sie will, dass ich mich mehr anstrenge und alle meine Gedanken und Gefühle aufschreibe.“

„Und, tust du das jetzt?“

Callie zuckte die Schultern. „Meine Gedanken langweilen mich.“

„Das kann ich mir nicht vorstellen.“

„Ha! Ich sollte es ,Tagebuch einer Heulsuse’ nennen. Langweilig, ich sag’s dir. Blutzucker testen, essen, arbeiten, schlafen ... und alles wieder von vorn.“ Sie warf Kate aus dem Augenwinkel einen Blick zu, dann schaute sie zu Boden. „Ich habe auch noch etwas anderes geschrieben.“

„Und was?“

„Es ist einfach nur dumm.“ Sie knetete ihre Hände. „Manchmal wünsche ich mir, ich hätte ein Leben wie Aaron und du. Ein Leben, das mir eine Chance gibt.“ Ihre Stimme wurde noch leiser. „Und die ganze Liebe.“

Kate hielt den Atem an und hielt die Worte zurück, die sie so gerne sagen wollte. Mach langsam! ermahnte sie sich. „Du musst bald ein paar Entscheidungen treffen“, sagte sie stattdessen. „Im Herbst fängt die Schule wieder an.“

„Auf gar keinen Fall. Ich suche mir einen Job.“

„Dein Job ist es, eine gute Schülerin zu sein.“

„Als wenn mir das helfen würde.“

„Besser, als schwarzzuarbeiten und sich zu verstecken“, erwiderte Kate. „Ich weiß, dass es schwer ist, Callie, aber du musst dich den Tatsachen stellen. Am Ende des Sommers musst du dich entscheiden, was du bezüglich deiner Wohnsituation unternehmen willst.“

„Ich muss gar nichts entscheiden. Ich nehme jeden Tag so, wie er kommt. Genauso wie ich es gemacht habe, bevor ich euch getroffen habe.“

„Du schläfst also in ungeheizten Häusern“, erinnerte Kate sie. „Hungerst den einen Tag, isst zu viel am anderen.

Laut Dr. Randall ist das einer der Hauptauslöser für deinen Zustand gewesen.“

„Ich bin es leid, ständig meinen verdammten Zustand unter die Nase gerieben zu bekommen“, gab Callie wütend zurück. „Ich habe es satt, über meine verdammte Zukunft nachzudenken.“

„Hast du Angst?“

„Ach, vergiss es, Kate ... vergiss es einfach.“ Callie sprang auf und stapfte davon.

Kate weigerte sich, sich davon verletzen zu lassen. Stattdessen stand sie auf und ging langsam auf Callie zu. Sie berührte sie nicht, aber stellte noch einmal ihre Frage: „Hast du Angst?“

Callies Schulter sackten nach unten. „Ständig.“ Sie drehte sich um, ihr Gesicht war bleich und vor Furcht ganz starr. „Hör zu. Ich habe gestern sehr lange mit meiner Beraterin gesprochen. Sehr, sehr lange.“

Endlich kommt die Wahrheit ans Licht, dachte Kate. Jetzt war es so weit.

„Wir haben über meine Möglichkeiten für das kommende Jahr gesprochen. Sie will, dass ich über eine betreute Wohngemeinschaft nachdenke.“

Kate ließ sich keine Regung anmerken, auch wenn ihr Herz hämmerte. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, Callie mit anderen Jugendlichen zusammenwohnen zu lassen, die sicher noch zäher waren als sie. „Was denkst du darüber?“, fragte sie ganz ruhig.

„Jetzt klingst du wie die verdammte Psychologin.“

„Ich versuche nicht, dich zu psychologisieren. Ich will es einfach nur wissen.“

Callie tigerte am Strand auf und ab. „Immerhin muss ich mich dann nicht wieder an eine neue Familie gewöhnen. Das ist gut, denn ich bin nicht sonderlich gut darin, mich in Familien einzuleben.“

Kate zwang sich, ruhig zu bleiben. Es war an der Zeit. Sie betete, dass sie es schaffen würde, Callie von ihrer Idee zu erzählen, ohne das Mädchen gleich zu verschrecken. „Nun, dem würde ich widersprechen.“

„Tja, danke ... Aber ich schätze, bis ich das Geld zusammen habe, um mir was Eigenes leisten zu können, wird es die Wohngemeinschaft. Alle, mit denen ich gesprochen habe, sagen, dass das gar nicht so schlimm ist, wie es sich anhört.“ Sie klang, als wäre sie ganz fürchterlich bemüht, es nicht an sich heranzulassen.

„Das Einzige, was zählt“, erwiderte Kate, „ist, die richtige Entscheidung für dich zu treffen.“

„Ich weiß aber nicht, wie man das macht.“ Die Stimme des Mädchens zitterte.

„Was ist los, Callie?“, fragte Kate. „Irgendetwas liegt dir doch auf der Seele. Und es ist nicht nur die Wohngemeinschaft.“

Callie starrte auf den Boden und murmelte etwas Unverständliches vor sich hin.

„Es tut mir leid“, hakte Kate nach, „aber ich habe dich nicht verstanden.“

„Luke hat mich fallen lassen.“

Kate blieb ganz ruhig stehen. Sie zeigte keine Reaktion, während sie über diese Entwicklung nachdachte. Noch vor Kurzem war Callie ganz verrückt nach Luke gewesen. Sie dachte, er wäre ihr Chance auf ein normales Leben.

„Das habe ich nicht gewusst.“ Kate wählte ihre Worte sorgfältig. „Und es tut mir leid.“

Callie zuckte mit den Schultern. „Ist schon okay.“

„Das ist es nicht“, widersprach Kate.

„Stimmt.“

„Geht es dir gut?“

„Ich schätze schon. Wir waren nur Freunde. Ist ja nicht so, dass er die Liebe meines Lebens gewesen wäre oder so.

Aber es ist doof, dass er der einzige Freund war, den ich hatte. Und nun habe ich nicht einmal mehr das.“

Kate verstand sie. Callie war ein Mädchen, das keine Bindungen eingehen wollte. Das Leben hatte ihm gezeigt, dass emotionale Verbindungen sehr zerbrechlich waren. Man konnte ihnen nicht vertrauen. „Oh, Liebes ...“

„Ist keine große Sache“, versuchte Callie, sie zu beschwichtigen. Doch ihre Miene war so übertrieben lässig, dass Kate wusste: Ihr Herz war gebrochen. „Ich habe eh nicht erwartet, dass er bei mir bleibt.“ Sie setzte sich und zog die Knie an die Brust. „Das tut niemand.“

„Er ist ein Idiot!“ Kate versuchte, leicht und sarkastisch zu klingen, aber sie wusste, wie sich Callies Schmerz anfühlte. Sie hatte ihn schon oft genug am eigenen Leib erfahren. „Das sind alle Jungs! Wenn du darüber reden willst ...“

„Ich brauche keine ...“ Callie unterbrach sich mitten im Satz. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und Kate tat es in der Seele weh, zuzusehen, wie sie versuchte, alles mit sich alleine auszumachen. Sekunden später schluckte Callie schwer, dann wurde auch schon ihr gesamter Körper von heftigen Schluchzern erschüttert. Einige Leute schauten zu ihnen herüber, aber Callie bemerkte es nicht, und Kate war es egal. Sie nahm das Mädchen in den Arm, strich ihm über das Haar und ließ es weinen. In diesem Augenblick war ihre Verbindung so stark, dass Kate Callies gesamte Trauer, ihre Zweifel und ihre Ängste spüren konnte.

Callie versuchte zu sprechen, während sie sich das Gesicht mit einem Zipfel ihres T-Shirts abwischte. „Ich will doch nur einmal in meinem Leben ganz normal sein. Ich will mit einem Jungen ins Kino gehen und mit meiner besten Freundin am Telefon quatschen und ... einfach nur normal sein.“

„Du bist mehr als normal“, widersprach Kate sofort. „Du bist ein ganz tolles Mädchen, Callie, wirklich.“

„Du weißt, was ich meine.“

Ja, Kate wusste es. Auch wenn sie es nicht aussprach – sie wusste, dass Callie über die Tatsache nachdachte, dass ihr Leben niemals ihr gehört hatte. Sie hatte eine bizarre Kindheit überlebt und war danach von einem Pflegesystem hin und her geschoben und im Stich gelassen worden. Und nun stand sie da, mit einer Furcht einflößenden Krankheit, niemandem, der sie unterstützte, und einer mehr als düsteren Zukunftsperspektive.

„Wir sollten uns auf den Heimweg machen.“ Callie stand auf.

Kate rief nach Aaron, der mit einer Gruppe Kinder spielte. Er nahm Bandits Leine und rannte ihnen voran die Straße entlang. Kate passte sich Callies Schritten an. Es war längst an der Zeit, etwas zu sagen. Aber will ich das wirklich? fragte sie sich. Kann ich das überhaupt? Würde Callie Ja sagen?.

Sie spürte, wie ihre Kehle eng wurde. Callie wäre wie ...

eine Tochter. Eine Schwester für Aaron.

„Ich habe nachgedacht“, begann Kate. Sie warf Callie aus dem Augenwinkel einen Blick zu und hoffte, dass ihre nächsten Worte das Mädchen nicht vertreiben würden. Schluss jetzt mit dem Herumeiern! mahnte Kate sich. Sprich es einfach aus. „Ich habe mich als Pflegemutter beworben. Ich muss noch ein Gespräch mit dem Amt in Seattle führen, aber sobald sie mich zulassen, könntest du bei uns wohnen.“

Callie stolperte über einen Riss im Asphalt, ging aber weiter.

Kate betrachtete ihren geschockten, ungläubigen Gesichtsausdruck. Das Mädchen sagte kein Wort.

„Natürlich nur, wenn du willst“, fuhr Kate fort. „Ich weiß, ich bin nicht alt genug, um wirklich deine Mutter sein zu können, aber ich kann dir ein stabiles Zuhause und meine uneingeschränkte Unterstützung bieten. Das verspreche ich dir.“ Sie versuchte, nicht zu sehr zu drängen, aber sobald die Worte ausgesprochen waren, merkte sie, wie sehr sie für Callie in den entscheidenden Highschooljahren da sein wollte. Es wäre für alle Beteiligten nicht einfach, aber es war das Richtige, das spürte Kate in jeder Faser ihres Herzens.

Callie ging schneller, und Kate beeilte sich, mit ihr Schritt zu halten. „Ich weiß, dass mein Angebot für dich ein wenig plötzlich kommt, aber nicht für mich. Der Gedanke geht mir schon seit einer ganzen Weile durch den Kopf.“

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“

„Du musst jetzt erst einmal gar nichts sagen. Ich hoffe aber, dass du ernsthaft darüber nachdenken wirst.“

„Ich werde an nichts anderes denken können.“

„Natürlich kannst du auch andere Alternativen in Erwägung ziehen. Wie dir sicher nicht entgangen ist, bin ich weit davon entfernt, perfekt zu sein. Ich habe keinen Ehemann ...“

„Und machst deine Sache ziemlich gut“, sagte Callie loyal.

„Danke. Aber ich will ehrlich zu dir sein: Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht darüber nachdenke, dass Aaron ohne Vater aufwächst.“

„Wie inzwischen die meisten Kinder“, murmelte Callie.

„Ich habe keinen geregelten Job“, führte Kate an.

„Versuchst du gerade, mir dein Angebot auszureden?“

„Nein, ich sage dir nur, wie es ist, damit du eine gute Entscheidung treffen kannst. Ich bin alleinstehend und arbeitslos.

„Du arbeitest jeden Tag. Du schreibst. Und außerdem hast du gesagt, dass du Immobilien in Seattle hast.“

Die Mietwohnungen. Für Callie musste sich das wie eine Goldmine anhören. Kate war beschämt. Als alleinerziehende Mutter hatte sie sich immer als vom Schicksal herausgefordert gefühlt, als wenn das Leben ihr nicht genug gegeben hätte. In Callies Augen hatte sie jedoch alles. „Lass dir Zeit mit der Entscheidung“, sagte Kate. „Ich will nur, dass du eines weißt: Solange du uns brauchst, wärst du ein Mitglied unserer Familie, und ich hoffe, das wäre für immer.“

Callie starrte geradeaus auf den gepflasterten Pfad. „Du musst das nicht tun.“

„Ich will es aber tun.“ Kate unterdrückte den Drang, sie zu schütteln. „Was ist los?“

„Ich mag es nicht, Bindungen einzugehen, weißt du?“ „Nein, weiß ich nicht. Was ist falsch daran?“ „Es ist doof, wenn es nicht funktioniert.“ „Dann sorgen wir eben dafür, dass es funktioniert.“ „Ich versteh dich nicht.“ Callie behielt ihren Stechschritt bei, doch in ihrer Stimme klang etwas Weiches mit. „Du bist so ... wie aus dem Bilderbuch. So fröhlich und gut und so was alles.“

„Würdest du lieber bei einem Grufti wohnen?“ „Was ist ein Grufti?“, wollte Aaron wissen. Er war im Kreis gelaufen und trabte nun hinter ihnen her.

„Jemand, der immer Schwarz trägt und selten spricht“, antwortete Kate. Sie schaute Callie an. „Stimmt das so ungefähr?“

Callie kämpfte gegen ein Lachen an. „Ja, schätze schon.“