22. KAPITEL
Für eine romantische Offenbarung, überlegte Kate am nächsten Morgen, als sie wieder zu Hause war, war das alles ein bisschen diffus geblieben. Vielleicht sogar mehrdeutig. Was einer Lüge gefährlich nahekam.
„Komm schon, Kate!“, fluchte sie. „Reiß dich zusammen! Du hast jemanden gefunden, mit dem du den Sommer verbringst. Was willst du denn noch?“
Sie wusste es. Allein der Gedanke daran verzog ihre Lippen zu einem ironischen Lächeln. Es war dumm, das wusste sie, aber sie wollte ein Märchen. Sogar heute, nach all den Enttäuschungen, nach all dem Scheitern, verspürte sie diese Sehnsucht tief in ihrem Inneren immer noch. Sie träumte davon, dass ihr jemand die Sterne vom Himmel holte. Sie träumte von jemandem, der vor ihr auf die Knie sank und ihr einen Antrag machte. Und ein bisschen träumte sie auch von einem kleinen königsblauen Samtkästchen mit einem glitzernden Diamanten darin.
„Konzentrier dich!“, murmelte sie und versuchte, ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihren Laptop zu lenken. Denn darum ging es doch in diesem Sommer. Sich selbst neu zu erfinden, einen neuen Karriereweg einzuschlagen. Einem Traum zu folgen, den sie nie vergessen hatte. Und sie war so nah dran. Das hier war ihre Chance.
Doch sosehr sie es auch versuchte – sie konnte die Unterhaltung mit JD nicht aus ihren Gedanken verbannen. Sie spielte sie sich wieder und wieder vor, analysierte die Wörter, als wenn sie verschlüsselte Verse eines altertümlichen Orakels wären.
Es schadet Aaron gar nicht, zu sehen, dass jemand verrückt nach seiner Mutter ist.
Das hatte er gesagt; seine Worte hatten sich in ihr Gehirn gebrannt. Wie bedeutungsvoll war es, dass er Aaron erwähnte? Hatte es überhaupt etwas zu bedeuten?
„Morgen.“ Callie schlurfte in Bademantel und Flipflops in die Küche.
„Wie geht es dir?“
„Ich schätze, das werden wir gleich wissen.“ Callie bereitete ihr Blutzuckermessgerät für den morgendlichen Test vor. Auch wenn sie gerade erst mit ihrer Behandlung anfing, hatte sie sich bereits einen leichten Zynismus zugelegt. Diese ganze Sache war äußerst lästig. Sie musste jede Mahlzeit planen und in ein Notizbuch eintragen. Sie hatte versprochen, dabei gewissenhaft zu sein, aber Kate spürte, wie frustriert sie war.
„Ich bin es jetzt schon leid, krank zu sein!“ Callie warf einen verächtlichen Blick auf die Bedienungsanleitung des Messgeräts. „Das wird echt schnell langweilig.“
„Brauchst du Hilfe?“
Callie schüttelte den Kopf. „Ich schaff das schon alleine.“
„Ich wette, im deinem Kurs bekommst du jede Menge Tipps. Ich habe in einer Broschüre gelesen, dass du lernen wirst, deinen Blutzucker durch Sport und gesunde Ernährung in den Griff zu kriegen.“
„Ja, großartig! Ich kann es kaum erwarten, damit anzufangen.“
Kate hatte damit gerechnet, dass Callie erst einmal übellaunig sein würde. „Ich muss ein paar Dinge erledigen, während du bei deinem Kurs bist.“
Callie starrte hasserfüllt auf das Messgerät. „Was für Dinge?“
„Zum einen ein paar Nachforschungen in der Bibliothek. Ich habe nämlich folgende Idee“, erklärte Kate. „Ich habe sie meiner Redakteurin noch nicht vorgestellt, aber glaube, dass sie ihr gefallen wird. In meinem nächsten Artikel möchte ich deine Geschichte erzählen.“
Eine Sekunde lang erhellten Überraschung und Begeiserung Callies Gesicht, doch dann unterdrückte sie diese Regung schnell und stieß ein scharfes Lachen aus. „Meine Geschichte. Das Märchen der dicken Loserin, die eine unheilbare Krankheit hat. Als ob jemand das lesen will! Ich glaube kaum, dass du damit die Story des Jahres landen wirst.“
„Machst du Witze? Du bist ganz erstaunlich, Callie, und du siehst das vollkommen falsch. Du bist keine Verliererin, du bist eine Überlebende. Und du wirst die Kontrolle übernehmen, und es wird dir besser gehen. Das hast du versprochen“, erinnerte Kate sie.
Callie nickte mürrisch. „Ja, aber das reicht noch lange nicht für einen Artikel.“
„Das lass mal meine Sorge sein.“
Callie behielt den Kopf gesenkt und faltete die Bedienungsanleitung zusammen. „Und du willst wirklich alles erzählen?“
„Ich werde nichts schreiben, was du nicht willst. Und außerdem können wir dir einen falschen Namen geben, welchen auch immer du willst. Und es wird sicher auch Fotos zum Artikel geben“, fügte Kate hinzu. „Darauf habe ich zwar keinen Einfluss, aber eine Zeitschrift dieses Kalibers arbeitet nur mit den Besten. Hättest du etwas dagegen, fotografiert zu werden?“
„Hallo? Von einem Fotografen der Vanity Fair? Macht Platz da, It-Girls!“ Aufregung flackerte in Callies Augen, bevor sie sich wieder daran erinnerte, möglichst ungerührt zu tun. „Ich schätze, das würde mir nichts ausmachen.“
„Ich habe allerdings eine Bedingung“, sagte Kate ernst. „Du musst auf jeden Fall die Wahrheit erzählen. Denn das ist es, was deine Geschichte so fesselnd macht: die Tatsache, dass alles real ist.“
Callie atmete tief ein. „Ich habe jetzt nichts mehr zu verstecken.“
„Ehrlich?“
„Indianerehrenwort.“
„Verrätst du mir, wieso du mit deinem Alter gelogen hast?“, fragte Kate vorsichtig.
„Was glaubst du wohl?“ Callie war den Kopf in den Nacken, und der vertraute harte Zug grub sich wieder in ihre Mundwinkel. „Falls es dir noch nicht aufgefallen ist: Ich bin nicht das ideale Pflegekind. Ich dachte mir, je schneller ich aus dem System rauskomme, desto besser.“
„Besser für wen?“
„Für mich! Mein Gott.“ Callie schaute Kate aus zusammengekniffenen Augen an. „Stört es dich, wenn jemand lügt?“
„Natürlich. Niemand mag es, angelogen zu werden.“
„Nein, ich meine, ob es dich wirklich stört. Also ob du einen Menschen hassen würdest, wenn er dich anlügt.“
„Callie, ich könnte dich niemals hassen.“
Sie stieß ein frustriertes Seufzen aus. „Ich rede nicht nur von mir! Ich will nur wissen, ob eine Lüge für dich unverzeihlich ist.“
„Natürlich nicht! Du hast mir doch erklärt, wieso du gelogen hast.“
„Oh Gott, ich geb’s auf!“
Kate betrachtete sie einen Augenblick. Sie hatte das dumpfe Gefühl, dass ihr Schützling über zwei verschiedene Dinge sprach. „Okay, hör mal zu. Wenn wir dieses Projekt gemeinsam durchziehen wollen, wirst du dich daran gewöhnen müssen, dass ich dir eine Menge Fragen stelle. Vielleicht ist es also doch keine so gute Idee.“
„Ich hab doch gesagt, dass ich es will!“
„Aber sei dir sicher, dass du es wirklich willst. Du schuldest mir nichts, Callie.“
„Ich schulde dir alles, aber deshalb habe ich nicht Ja gesagt. Ich glaube, es wird cool, wenn du über mich schreibst.“
„Ich gebe dir mein Wort, dass ich mein Bestes gebe“, versprach Kate.
„Abgemacht.“ Callie nickte. Dann schaute sie erst auf ihr Blutzuckermessgerät und dann auf die ausgedruckte Tabelle. Kate konnte an ihrem Gesichtsausdruck ablesen, dass das Ergebnis nicht besonders zufriedenstellend war. „Ich muss mich fertigmachen“, murmelte das Mädchen. Dann verschwand sie in ihrem Zimmer.
Ein paar Minuten später kam Aaron in die Küche. „Muss ich heute mit euch in die Stadt?“
„Nein“, sagte Kate. „Ich lass dich einfach den ganzen Tag alleine hier.“
„Cool!“
Sie verdrehte die Augen. „Natürlich kommst du mit! Wir fahren in einer Stunde, also kein Getrödel. Ich will nicht, dass Callie zu ihrer ersten Stunde zu spät kommt.“
„Ich versteh sowieso nicht, wieso sie da überhaupt hinmuss“, beschwerte er sich. „Sie ist doch krank, nicht doof.“
„Der Unterricht wird ihr helfen, auf sich aufzupassen, damit sie nicht krank wird.“ Sie reichte ihm eine Vitamintablette und ein Glas Wasser. „Der Kurs ist wichtig, und sie darf ihn nicht versäumen.“
„Okay.“
Aaron kannte bisher nur die grundlegenden Fakten: Callie war ohnmächtig geworden, weil sie eine Insulinresistenz hatte. Und um zu verhindern, dass etwas Schlimmeres daraus wurde, musste sie ihren Blutzuckerspiegel regelmäßig überprüfen und ihre Ernährung umstellen. Er hatte das alles sehr gut aufgenommen, aber trotzdem spürte Kate seine Angst und Unsicherheit. „Okay, Buddy“, sagte sie. „Ich wette, du hast tausend Fragen.“
„Nicht tausend, aber ... einige.“
„Dann solltest du sie mir stellen“, schlug sie vor. „Ich habe vielleicht auch nicht alle Antworten, aber wir können es ja mal versuchen.“
„Wieso hat Callie uns nicht gesagt, dass sie krank ist?“
Treffer! dachte Kate. „Vielleicht sollten wir das Callie selber fragen. Ich vermute, es lag daran, dass wir gerade erst anfingen, uns kennenzulernen. Jemandem, den man gerade erst getroffen hat, erzählt man nicht gleich alles von sich.“
„So wie ich ihr nicht erzählt habe, dass ich Beidhänder bin.“
„Genau. Es ist kein Geheimnis, aber du bist noch nicht dazu gekommen, darüber zu sprechen.“
„Wann wird es ihr wieder besser gehen?“, wollte er wissen.
Kate lächelte. „Es geht ihr bereits besser. Unsere Aufgabe besteht nun darin, sie dabei zu unterstützen, dass es so bleibt.“
„Warum bleibt sie nicht für immer bei uns?“
Treffer versenkt! Solange Callie unter ihrem Dach lebte, konnte sie ihr helfen, aber sie hatte keine Ahnung, wie lange das so bleiben würde. Vor allem jetzt, wo sie wusste, dass das Mädchen noch minderjährig war.
„Ganz einfach: Sie soll bei uns bleiben“, entschied Aaron. „Aber wieso hat sie gesagt, dass sie fast achtzehn ist, wenn sie gerade erst fünfzehn geworden ist?“, wollte er wissen.
Dritter Treffer. „Frauen lügen immer, was ihr Alter angeht“, gab Kate leichthin zurück und stellte ihm eine Schüssel Haferflocken vor die Nase. „Ich dachte, du hättest andere Fragen – solche, die ich auch wirklich beantworten kann.“
„So was wie warum sie nicht bei ihren Eltern lebt und so?“ Aaron verdrehte die Augen.
„Äh ... ja. Wundert dich das nicht?“
„Nein.“ Er verteilte Ahornsirup über den Haferflocken. „Ich weiß es schon längst. Ihre Mutter ist im Gefängnis. Das hat sie mir gestern Abend erzählt, als ihr aus dem Krankenhaus zurückgekommen seid. Finde ich echt gruselig. Und nein, ich frage mich nicht, wo ihr Vater ist.“ Er schob sich einen Löffel mit Haferflocken in den Mund.
Kate lächelte. Er wusste genau, wie ihre Gedanken funktionierten. „Nein?“
Er schüttelte den Kopf. „Väter sind vollkommen überschätzt.“
„Oh Aaron!“ Sie trat an den Tisch, beugte sich über ihn und gab ihrem Sohn einen Kuss auf den Scheitel. Sie wusste doch, wie sehr er sich einen Vater wünschte. Jemanden, der mit ihm angeln ging und der mit ihm Football spielte. Jemanden, der ihm dieses einmalige Gefühl von Sicherheit gab, das Kates Vater ihr vermittelt hatte. Aber Aaron wollte ihre Gefühle nicht verletzen und es laut aussprechen.
Was ihr Junge jedoch nicht wissen konnte, war, dass diese Sehnsucht ihr jeden Tag wehtat. Es gab keinen schärferen Schmerz als das Wissen, dass sie ihrem Kind seinen sehnlichsten Wunsch nicht erfüllen konnte.
„Hey, Familie Livingston!“ JD klopfte gegen den Rahmen der Fliegengittertür. Bandit begrüßte ihn mit einem lauten Jaulen.
„JD!“ Aaron sprang von seinem Stuhl auf und rannte zur Tür, um ihn hereinzulassen.
Kate wäre am liebsten auch zu ihm gerannt, aber sie zwang sich, still stehen zu bleiben. Sogar nach diesem Augenblick im Krankenhaus – vielleicht sogar erst recht seitdem – versuchten JD und sie herauszufinden, was zwischen ihnen vorging. Jetzt, wo sie miteinander geschlafen hatten, sollten sie ihre Beziehung ... weiterentwickeln. Doch stattdessen hatte Callies Notfall sie wieder völlig aus der Bahn geworfen.
„Du kommst gerade rechtzeitig, um mich zu retten“, grinste Aaron.
JD trat ein. „Wovor soll ich dich denn retten?“
„Vor Callies Diabetes-Kurs.“ Aaron griff sich an die Kehle und gab erstickende Geräusche von sich, während er zur Seite stolperte.
„Oh Mann!“ JD hielt sich den Kopf und ließ sich auf einen Stuhl sinken. „Sag nicht, dass sie dich in diesen Kurs mitnehmen wollen! Das ist ja total verrückt.“
Aaron nickte glücklich. Sein Sinn für Humor passte perfekt zu JDs. „Wem sagst du das.“
„Schnell, schnapp dir eine Wasserflasche und Sonnencreme, und dann verschwinden wir beide von hier“, schlug JD vor.
Kate versuchte, eine ernste Miene aufzusetzen. „In einigen Staaten gilt das als Kidnapping.“
„Ich nenne es Diabetes-Kurs-Vermeidung.“
„Wo nimmst du ihn mit hin?“
„Zum Mount Storm King. Wir werden bis zum Gipfel wandern und Fotos machen.“
Über sich hörten sie Getrappel; Aaron packte offenbar schon seine Sachen zusammen. Kate schaute aus dem Fenster auf die glühende Bergspitze. „Meinst du, das schafft er?“
„Na klar.“
Kate drehte sich zu ihm. „Das ist sehr nett von dir.“
„Schau nicht so überrascht. Ich bin gerne mit Aaron zusammen.“
Kate wusste, dass es JD nicht darum ging, Fotos auf dem Mount Storm King zu machen. Er schien Aaron auch unabhängig von ihr zu mögen. Die Vorstellung erfüllte sie mit einer so intensiven Wärme, die sie fast erschreckte. „Er kann ganz schön anstrengend sein, das weißt du, oder?“ Sie hatte das Gefühl, ihn wenigstens warnen zu müssen.
„Ich komm schon mit ihm klar.“
Ich weiß.
„Kate, ich verstehe es nicht.“ Er trat einen Schritt näher und legte seine Hände auf ihre Schultern.
Sie wollte sich gegen ihn sinken, in seine Arme fallen lassen. „Ich bin es nicht gewöhnt, dass ein Mann Aaron versteht und mag, mit all seinen Macken.“
„Das solltest du aber ganz schnell ändern“, murmelte er und hielt ihren Blick mit seinem fest. „Für einen Jungen wie Aaron ist die Welt jeden Tag neu und aufregend.“
Kates Kehle schmerzte, und einen Moment lang konnte sie nicht sprechen. Er hatte es verstanden. Endlich war hier jemand, der ihren Sohn verstand und mit mitfühlenden Augen betrachtete. Dieser Gedanke war neu für Kate. Die ganze Welt sah Aaron als eine Herausforderung an, als ein Problem. Aber nicht JD. Sie konnte nicht fassen, was für eine Erleichterung es war, jemanden zu treffen, der in ihm das Gleiche sah wie sie. Endlich löste sich der Knoten in ihrem Hals, und sie konnte sagen, was ihr auf der Zunge lag. „Danke.“
Seine Hand glitt über ihren Rücken, ein süßes Echo seiner Berührungen, als sie sich geliebt hatten. „Du siehst mich immer noch so seltsam an.“
Sie lächelte. Sie wusste, dass ihr Herz sich in ihren Augen widerspiegelte. „Man trifft nicht jeden Tag auf einen Mann wie dich.“
„Das ist gut. Ich habe nämlich nur ungern Konkurrenz.“
Er beugte sich vor. Sie sehnte sich mehr noch nach seinem Kuss als nach dem nächsten Atemzug. Aber irgendwo im Haus schlug eine Tür zu und schreckte sie auf. Kate trat einen Schritt zurück und glättete mit nervösen Händen ihren Rock.
Callie kam zu ihnen, immer noch im Bademantel. „Morgen“, sagte sie und nahm sich ein Glas Wasser.
JD nickte ihr zu. „Ich hab gehört, du fährst heute in die Stadt?“
Kate konnte ihn nicht ansehen, obwohl sie den Moment von eben tief in ihrem Inneren festhielt. „Du scheinst ein bisschen nervös zu sein, Liebes“, sagte sie warm. Das hier war schließlich Callies Tag.
„Ich habe Angst“, gab das Mädchen zu und knabberte an seinem Frühstück, das aus einem gebutterten Toast bestand.
„Ich war nie sonderlich gut in der Schule. Ich hatte immer fürchterlich schlechte Noten.“
Kate versuchte, angesichts Callies mangelndem Selbstvertrauen nicht in Panik zu verfallen. Hier ging es nicht um Noten. Nur um ihr Leben. „Du wirst keine Noten bekommen, aber du musst einige wichtige Sachen lernen“, versuchte sie, das Mädchen zu beruhigen. „Vielleicht lernst du sogar ein paar Freunde kennen.“
„Oh ja, das wäre ganz toll. Eine Klasse voller fetter Loser.“ Angewidert schüttelte Callie den Kopf. „So wie ich.“
Kate ging zu ihr und nahm sie in den Arm. „Möchtest du noch ein wenig Shampoo zu deinem Bad im Selbstmitleid?“
Callie versteifte sich. „Ich habe meine Meinung geändert. Lass uns nicht hingehen. Ich habe die Broschüren gelesen, die sie mir mitgegeben haben, das reicht.“
„Nichts da! Wir gehen.“
Callie schreckte zurück. „Du kannst mich nicht dazu zwingen.“
Kate spürte Panik in sich aufsteigen. „Warum machst du jetzt einen Rückzieher? Das hier soll dein Leben retten.“
„Schwachsinn“, brach es aus Callie hervor. „Ich werde nicht gehen.“
„Du kannst das nicht einfach ignorieren.“
„Das wollen wir doch mal sehen.“
„Callie“, unterbrach JD sie mit ruhiger, aber bestimmter Stimme.
„Mein Gott, nicht du jetzt auch noch!“ Sie schaute ihn wütend an. „Du kannst mich auch nicht zwingen.“
„Das würde mir auch nicht im Traum einfallen.“
Kate wollte schon widersprechen, aber er brachte sie mit einem leichten Kopfschütteln zum Schweigen.
„Fein.“ Callies Stimme zitterte. „Ich lese einfach das Buch, das sie mir mitgegeben haben.“
„Tu das“, nickte JD leichthin.
Kate biss die Zähne zusammen. Er sollte doch wohl am besten wissen, wie wichtig diese Kurse waren!
„Das werde ich auch!“ Callie reckte ihr Kinn trotzig nach vorn.
„Du sollst doch aber zu den Kursen gehen“, warf Aaron ein. „Das hat der Arzt gesagt.“
„Was geht dich denn das an?“, fauchte das Mädchen. „Das ist mein Problem, nicht deins oder Kates oder von sonst wem!“
„Er macht sich eben Sorgen“, gab Kate scharf zurück. Sie konnte nicht länger schweigen. „Und JD und ich ebenfalls. Wir alle machen uns Sorgen um dich, und es ist einfach nur egoistisch von dir, die Anweisungen der Ärzte zu ignorieren.“
Callies Gesicht verlor jegliche Farbe. Sie sah aus, als wenn Kate sie geschlagen hätte. „Ich bin egoistisch? Meinst du, ich habe darum gebeten? Glaubst du, mir gefällt es, ein Freak zu sein?
„Du bist kein Freak“, erwiderte Kate. Sie war kurz davor, die Geduld zu verlieren. „Und du wirst in diesen Kurs gehen.“
„Werde ich nicht.“
„Dann komm mit uns“, schlug JD vor. „Aaron und ich wollen heute einen Berg besteigen. Du hast die Wahl: Unterricht oder Bergsteigen?“
Callie starrte aus dem Fenster auf die Berge, die sich aus den Tiefen des Sees zu erheben schienen. „Ich bin krank, schon vergessen? Ich würde zusammenklappen.“
„Ich hatte vor, heute nach dem Kurs Make-up zu kaufen“, schnurrte Kate und hielt Callie ihren Geburtstagsgutschein unter die Nase. „Und wolltest du nicht ein bisschen shoppen gehen?“
Callie wandte ihren finsteren Blick Kate zu. „Dann geh ich halt in den doofen Kurs. Jetzt geh ich aber erst mal unter die Dusche.“ Sie stapfte aus dem Zimmer.
Kate schickte Aaron los, seine Digitalkamera zu holen. „Noch nicht einmal neun Uhr, und ich bin schon erschöpft“, sagte sie zu JD.
Er legte ihr einen Arm um die Schulter. „Lass uns nach draußen gehen. Es ist so ein wundervoller Morgen.“
Wie beruhigend es war, sich an jemanden zu lehnen! Sie gingen hinaus und setzten sich auf den Steg. In der Ferne strahlten die blaugrünen Berge, und das glasklare Wasser warf ihre Spiegelbilder zurück. Jedes Mal, wenn sie zusammen waren, fühlte es sich für sie nach Schicksal an – so als wären sie füreinander bestimmt. Aber wie viel davon war Wunschdenken? Und wie viel war Dankbarkeit darüber, dass sie endlich jemanden getroffen hatte, der bereit war, sowohl mit ihr als auch mit ihrem Sohn eine Bindung einzugehen?
Dass sie so starke Gefühle für ihn verspürte, sollte sie eigentlich ruhiger machen. Doch stattdessen verstärkte es nur ihre innere Anspannung. Sie fragte sich, ob es ihm genausoging.
„Du bist so still“, bemerkte er.
Vielleicht war es doch an der Zeit, ihn zu fragen. „Du auch.“
„Ich muss für eine Weile fort.“
Oh. Das war ja mal was ganz Neues. Sie blieb stumm, wartete darauf, dass er sich erklären würde. Doch auch er sagte nichts, sondern stützte sich nur mit den Händen auf dem Steg auf und lehnte sich zurück. Okay, dachte sie. Du bist die Reporterin, Kate. Bring den Mann zum Reden.
„Wohin gehst du?“
„Nach L. A.“
Sie verspürte einen Hauch Aufregung in seiner Stimme, auch wenn er sich betont locker gab. „Hast du ein Aufnahmegespräch?“
Er blinzelte verwirrt, dann schenkte er ihr ein strahlendes Lächeln. „Genau.“
„Ich wette, sie werden so beeindruckt von dir sein, dass sie dich gleich dort behalten wollen.“
„Ich glaube nicht, dass das so funktioniert, Kate, aber danke für dein Vertrauen.“
„Damit stehe ich nicht allein da.“ Sie sah ihn nachdenklich an. „Du bist sehr gut in deinem Job. Als ich dich mit Callie gesehen habe, kamst du mir wie ein anderer Mensch vor“.
„Was soll das heißen?“
„Ich meine nur ... ich habe eine andere Seite an dir gesehen, eine, die ich noch nicht kannte. Als du Callie geholfen hast, habe ich den Menschen gesehen, der du in deinem echten Leben bist.“
„Ich bin nur ein Mann, der seine Arbeit macht. Zu Callies Glück war ihr Notfall keine große Herausforderung.“
„Du bist viel zu bescheiden“, widersprach Kate. „Warum?
„Ich bin nicht bescheiden, und was sollen überhaupt all diese Fragen?“
Sie lächelte schief. „Wir schieben diese Unterhaltung schon zu lange vor uns her.“
„Meine Güte, Kate, was für eine Unterhaltung?“
„Die, mit der wir uns auf einem tieferen Level kennenlernenen.
Er schenkte ihr ein verschmitztes Lächeln. „Das muss nicht unbedingt was mit Reden zu tun haben.“
„Heute Morgen schon.“ Sie zog ihre Knie an und stützte ihr Kinn darauf. „Ich meine es ernst. Hier am See sind wir alle weit weg von unserem Alltag. Aber nachdem ich dich mit Callie gesehen habe ... bin ich, na ja, neugierig, wer du in deinem wahren Leben bist.“
„Also ist das hier für dich nicht real?“, fragte er mit einem amüsierten Funkeln in den Augen.
„Das hier ist der See.“ Kate sah ihn aufmerksam an. „Wenn du nicht hier bist, wie sieht dein Leben dann aus? Wer spielt darin eine Rolle? Ich will wissen, was dir wichtig ist.“
„Du bist mir wichtig“, erwiderte er. „Also, was bist du, wenn du wieder in die Zivilisation zurückkehrst? Eine aufgemotzte Großstadttussi in hochhackigen Pumps?“
Sie lachte und biss sich dann auf die Lippe. „Eine arbeitslose Großstadttussi, auch wenn ich meine Stilettos durchaus liebe.“
„Entschuldige. Ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen.“
„Ist schon okay. Das wird wieder. Ich war in meinem Job bei der Zeitung eh nicht sonderlich glücklich.“
Die Wärme verschwand aus seinen Augen. „Die Zeitung.“
Sie nickte. „Die Seattle News. Nicht gerade die New York Times, aber ... Ich bin ... war ... Autorin. Ich hatte eine Kolumne.“ Er antwortete nicht, und sein Schweigen machte sie nervös. „Sieh mich nicht so enttäuscht an!“, bat sie ihn. „Ich war ja keine Klatschreporterin.“
„Ich dachte, du würdest für National Geographie schreiben.“
„Du hättest genauer zuhören sollen. Ich habe gesagt, dass ich einen Artikel für den Smithsonian geschrieben habe“, sagte sie. „Ich bin Freiberuflerin.“
„Wieso hast du mir nie erzählt, dass du Reporterin bist?“
Sein Ton ließ sie zurückzucken. „Weil ich das nicht bin. Ich war das mal.“ Sie atmete tief durch. „Okay, ich habe nichts zu verbergen. Ich habe fünf Jahre für die Zeitung gearbeitet und bin Anfang des Sommers gefeuert worden.“ Es hatte keinen Zweck, um den heißen Brei herumzureden. „Meine Chefin dort war zweifache Mutter und geschieden. Sie hatte keine Probleme, Familie und Arbeit unter einen Hut zu kriegen, und im Vergleich zu ihr sah ich aus wie die totale Versagerin. Es gab vorher ein paar Verwarnungen wegen verpasster Deadlines.“ Sie sah die Frage in seinen Augen.
„Nenn mich verrückt, aber ich neige dazu, alles fallen zu lassen, wenn Aaron mich braucht. Jedes Mal, wenn ein Babysitter oder die Schule angerufen hat, hab ich mich sofort auf ihn konzentriert. Eigentlich ist es ein Wunder, dass ich nicht schon eher entlassen worden bin.“
„Vermisst du deinen Job?“
„Natürlich. Aber als ich mich zwischen meinem Sohn und der Arbeit entscheiden musste, habe ich mich für Aaron entschieden. Ich bereue es nicht, aber Tatsache ist, dass meine Prioritäten dazu geführt haben, dass ich rausgeschmissen wurde.“
Er stieß den angehaltenen Atem aus. „Also bist du keine Reporterin.“
„Nicht mehr.“
Er nickte, und sie sah, dass er sich ein wenig entspannte. „Ich kriege das schon hin“, erklärte sie. Ob er Probleme damit hatte, eine arbeitslose Freundin zu haben? „Ich sehe es als Chance, mich als freie Journalistin zu etablieren. Ich schätze, meine Entlassung ist der Weg des Universums, mich sämtlicher Ausreden zu berauben.“ Sie spürte, wie ihr unvermittelt ganz warm ums Herz wurde, als sie ihm von diesem sehr persönlichen Traum erzählte. „Der Artikel im Smithsonian wird nächstes Jahr veröffentlicht. Ich hatte wirklich Glück mit der Redakteurin. Sie hat ihren Traumjob bei Vanity Fair bekommen und ist sehr an meinem nächsten Thema interessiert.“
„Das dawäre ...?“
„Callies Geschichte. Ich bin noch ganz am Anfang, aber wenn es gut läuft, schickt das Magazin einen Fotografen aus Seattle, um Fotos zu machen.“
„Weiß Callie davon?“
„Natürlich! Ich kann ihre Geschichte ja schlecht ohne ihre Unterstützung schreiben.“
„Und sie ist damit einverstanden?“
„Mehr als das. Sie scheint richtiggehend fasziniert zu sein.
Ich habe das Gefühl, dass sie ihre Geschichte erzählen will. Vielleicht um sich die Last von der Seele zu reden, vielleicht um ihrem Selbstbewusstsein einen Schubs zu geben. Sie hat noch eine Menge Heilungsarbeit vor sich.“
„In der Presse?“, fragte er skeptisch.
„Warum bist du so komisch, was dieses Thema angeht?“
Seine Reaktion war kaum wahrnehmbar, und vielleicht bildete sie es sich ja nur ein. Aber sie hatte das Gefühl, dass er sich unmerklich versteifte und ein wenig von ihr abrückte, obwohl er sich nicht von der Stelle bewegte. „Ich bin nicht komisch. Ich frage mich nur, ob das tatsächlich in Callies Interesse ist.“
„Sie ist ganz aufgeregt. Warum sollte es nicht in ihrem Interesse sein?“
„Weil es Menschen gibt, die nicht wollen, dass ihr Leben in der Presse breitgetreten wird?“
„Das hier wird kein Schmierenartikel.“ So langsam nahm sie seine ablehnende Haltung persönlich. „Im Gegenteil – das Ganze hat sogar hoffentlich etwas Gutes.“ Sie warf ihm einen Blick zu. „Du klingst wie ein Skeptiker.“
„Ich bin ein Skeptiker.“
„Warum?
„Sie mag die ganze Aufmerksamkeit genießen. Aber was wird es ihr wirklich bringen?“
„Dass sie anerkannt wird“, erwiderte Kate in scharfem Ton. „Es wird ihr zeigen, dass sie eine Bedeutung hat. Wie kann das schlecht sein?“
„Um das zu erreichen, braucht es kein Foto in einer albernen Zeitschrift.“
Sie bewunderte ihn ebenso, wie er sie verärgerte. Wie er es geschafft hatte, eine Frage über sich in ein Verhör ihrer Person zu verwandeln! Und wie es ihr auf die Nerven ging, dass sie es hatte geschehen lassen. „Was willst du damit sagen? Dass ich es bleiben lassen soll?“
„Ja, das solltest du.“
Kate traute ihren Ohren nicht. „Sie muss nicht vor mir beschützt werden, verdammt noch mal! Das ist nun mal das, womit ich meinen Lebensunterhalt verdiene. Ich habe einen Sohn, den ich versorgen muss. Wer bist du, mich zu kritisieren ...
„Ich bin fertig“, unterbrach Callie sie. Frisch geduscht mit noch nassen Haaren trat sie aus dem Haus. Ihre Tasche hatte sie bereits über die Schulter geworfen.
Kate warf JD nock einen Blick zu. „Wir müssen los“, sagte sie. „Hör zu, ick wollte Aaron eigentlick mitnekmen, also wenn du lieber nickt ...“
„Ick möckte den Tag mit ikm verbringen“, erwiderte er. „Deskalb bin ick kier.“
„Okay.“ Kate stand auf und klopfte sick den Hosenboden ab. Kein Grund, Aaron den Tag zu versauen, nur weil JD sick ikr gegenüber wie ein Arscklock benommen katte. Vielleicht ist es ganz gut, dass er ein paar Tage wegfahren muss, dachte sie. Es gab eine Menge, worüber sie während seiner Abwesenheit nachdenken musste.