15. KAPITEL

Komm schon, Kleiner!“, sagte Callie. „Du hast versprochen, dass du um neun schläfst, wenn Lich dir noch was vorlese.“

„Falsch“, widersprach Aaron, der hellwach in seinem Bett saß. „Ich habe gesagt, ich würde um neun ins Bett gehen. Schlafen ist was ganz anderes.“

In Callies Ohren klang Schlafen köstlich. Sie war müde. In letzter Zeit war sie oft müde, und das lag nicht nur an der harten Arbeit. Manchmal fühlte sie sich schlapp und gelangweilt, sogar an ihren freien Tagen. Wenigstens habe ich eine tolle Unterkunft, erinnerte sie sich selbst. Sie kam gar nicht darüber hinweg, was für ein gutes Gefühl es war, am Ende eines langen Tages zu Kates Haus zu kommen und ein Zuhause vorzufinden, in dem es aufgeräumt war und das Essen auf dem Tisch stand. Kate und Aaron warteten immer auf sie, damit sie gemeinsam essen konnten. Vor den Mahlzeiten sprachen sie ein kleines Gebet. Für Callie war das alles selten und außergewöhnlich, auch wenn Kate und Aaron es ganz normal zu finden schienen.

Es machte sie verrückt, dass sie Schweigen über JD bewahren musste. Aber sie wusste, dass sie ihr Versprechen halten würde. Aber wo sie gerade über das Außergewöhnliche sprach ... Er war definitiv nicht gewöhnlich. Ein Mann, der durch alle Medien gegangen war, über den immer noch in den Klatschzeitschriften und Magazinen im Fernsehen berichtet wurde. Sie fand es total verrückt, dass er sich zurückgezogen hatte, anstatt das Leben eines Prominenten zu führen. Autos, Yachten, Häuser, Reisen, Partys ... Warum schreckte er davor zurück? Das waren doch die Dinge, von denen die meisten normalen Menschen träumten! Und er könnte das alles haben, wenn er seine Karten richtig ausspielte. Das Seltsame war, dass er vollkommen zufrieden damit schien, am See abzuhängen, wo niemand ihn kannte.

Jeder Mensch ist anders, dachte Callie. Und in letzter Zeit gab es ja auch einen großen Anreiz für ihn, hier am See zu bleiben. Jedes Mal, wenn er vorbeikam, spürte Callie, wie die Funken zwischen Kate und ihm flogen. Die Chemie zwischen den beiden stimmte einfach. Und das Verrückte war, dass Kate es nicht wusste. Sie mochte ihn einfach, mochte JD – ohne zu wissen, dass er Amerikas Held, der Stolz der U. S. Army, Träger der vom Präsidenten persönlich überreichten Medal of Honor, war.

In dem alten Lexikon, das nach Kates Aussage schon seit Jahrzehnten in Familienbesitz war, hatte Callie einiges über die Medal of Honor herausgefunden: Es handelte sich um eine extrem seltene Ehrung, die höchste militärische Auszeichnung der Vereinigten Staaten von Amerika. Sie wurde verliehen für „außergewöhnliche Tapferkeit und Furchtlosigkeit unter Einsatz des eigenen Lebens, weit über das übliche Maß an Pflichterfüllung hinaus“.

Das kann man wohl sagen, dachte Callie und erinnerte sich noch einmal an die schrecklichen Bilder aus den Nachrichten, die letztes Jahr an Weihnachten wieder und wieder gezeigt worden waren. Sie konnte nicht glauben, dass bisher niemand entdeckt hatte, dass JD Jordan Donovan Harris war. Allerdings hatte sie sich ja auch an der Nase herumführen lassen. Was hatte JD noch gesagt? Die Leute sehen, was sie sehen wollen. In ihrem Fall stimmte das hundertprozentig-Luke Newman zum Beispiel. Luke mit den dunklen Haaren und den verträumten Augen. Was sah er in ihr, wenn er sie anschaute? Ein dickes Mädchen? Oder einfach jemanden, der versuchte, im Leben zurechtzukommen? Einen Freund? Oder etwas anderes, etwas ... Romantisches?

„Hallo, Erde an Callie“, riss Aaron sie aus ihren Gedanken. „Lies mir noch was vor.“

„Ich hab dir schon zwei Kapitel aus Huckleberry Finn vorgelesen.“

„Dann such dir noch was anderes aus.“

Sie atmete tief ein, um ruhig zu bleiben. „Okay, eins noch“, sagte sie. „Noch ein Buch, aber dieses Mal liest du mir vor.“

„Och Callie.“ Aaron wand sich unruhig in seinem Bett.

„Das ist der Deal. Entweder so oder gar nicht.“ Sie wusste, dass er Schwierigkeiten mit dem Lesen hatte. Kate hatte ihr erklärt, dass er so ziemlich mit allem, was mit der Schule zu tun hatte, Probleme hatte. Sie ließ ihren Blick über das bunte Bücherregal gleiten auf der Suche nach etwas Kurzem, Leichtem, was ihn nicht überfordern würde. „Du hast aber auch eine Auswahl hier“, murmelte sie.

„Die gehören nicht mir. Die gehören zum Haus.“

Alles hier gehört zum Haus, dachte Callie. Sie würde es niemals zugeben, aber manchmal tat sie so, als gehörte sie auch hierher. Als wäre sie Teil einer Familie, die Quilts und Fotoalben von einer Generation an die nächste vererbte und Traditionen aufrechterhielt, die jeden glücklich machten und mit einbezogen. Es war eine wenig überzeugende Fantasie, aber manchmal konnte sie nicht anders, als sich zu fragen, wie es wohl wäre, wenn.

Im Bücherregal stand alles, von Peter Pan über Nancy Drew bis Harry Potter, aber sie wollte nicht, dass er sich mit einem Roman abquälen musste. „Das hier“, sagte sie und nahm ein glänzendes Bilderbuch heraus. „Die kleine rote Henne.“ Auf dem Umschlag war ein dickes, glücklich aussehendes Huhn zu sehen, das wie eine Hausfrau in Schürze und Kopftuch gekleidet war.

„Du machst wohl Witze! Das ist ein Kinderbuch.“

„Dann sind wir umso schneller durch. Oder würdest du mir lieber etwas Längeres vorlesen?“ Sie hielt ihm den „Harry Potter“-Schinken hin.

„Nee, vergiss es.“ Er schob ihren Arm weg und nahm „Die kleine rote Henne“ in die Hand.

„Das ist eine dumme Geschichte“, meinte er.

„Warum lässt du mich das nicht beurteilen?“

Er sah sie aus großen Augen an. „Du kennst es nicht?“

„Nein.“ Als Kind hatte sie keines der üblichen Kinderbücher vorgelesen bekommen, weil Bruder Timothy fand, dass sprechende Tiere und andere Geschichten über erfüllte Träume anstößig waren. Mit Pädophilie hatte er kein Problem, aber die kleine rote Henne fand er abartig. „Fang an“, sagte Callie. „Ich bin schon ganz gespannt.“

„Okay“, gab Aaron sich mit leidender Stimme geschlagen. Er rutschte in eine halb sitzende Position im Bett und fing an vorzulesen. Die Geschichte stellte sich als gute Wahl heraus, denn sie benutzte sehr einfache Wörter und Sätze, die sich wiederholten.

„Wer will mir helfen“, fragte die kleine rote Henne jeden, den sie traf.

Und die Antwort war immer die gleiche: „Ich nicht, ich nicht, ich nicht.“

Callie konnte das sehr gut nachvollziehen. Als die Kommune schlussendlich aufgeflogen war, hatten die Sozialarbeiter versucht, sie bei Verwandten unterzubringen. Aber ein Blick auf Callie – übergewichtig, mit schlechter Haut und noch schlechterem Benehmen –, und sie sagten „Ich nicht“. Bis sie schließlich in der ersten Pflegefamilie landete.

Sie dachte an Kate und was für ein unerwartetes Geschenk sie war. Wie ein Engel. Nur ein paar Fragen, und dann hatte Kate sie hier wohnen lassen. Hatte sie erst wie einen Gast und dann wie einen Freund oder vielleicht sogar wie eine Nichte oder so behandelt. Kate war die erste Person, die Callie kannte, die sich weigerte, „Ich nicht“ zu sagen. Ganz im Gegenteil: Sie sagte „Ich will helfen“, und sie meinte es auch so.

Callie versuchte, es ihr zu vergelten, indem sie ein guter Gast war, aber es ließ sich nicht leugnen, dass sie eine dicke, fette Mogelpackung war.

Sie merkte, wie sie sich unwillkürlich anspannte, als die kleine rote Henne gezwungen war, alles alleine zu machen: den Weizen schneiden, dreschen – was auch immer das war –, zu Mehl mahlen, Teig machen, Brot backen. Es war Arbeit, Arbeit, Arbeit, den ganzen Tag, und ihre Loser-Freunde rührten nicht einen Finger – oder Huf –, um ihr zu helfen.

Und als wenn sie nicht schon genug zu tun hätte, musste die kleine rote Henne auch noch Eier ausbrüten. Sie bekam sechs Babys, und, welch Überraschung, es war kein Hahn in der Nähe, um ihr zu helfen, die hungrigen Mäulchen zu stopfen.

Die Henne ließ sich jedoch nicht entmutigen. Sie machte weiter, buk Brot, brütete Eier aus, stellte sich der Welt mit kühnem Trotz. Callie war erleichtert, als das Brot sich als perfekt herausstellte. Von seinem Duft angezogen, kamen alle Tiere der Farm zusammengelaufen und wollten unbedingt ein Stück probieren.

Was für ein süßer Triumph für die kleine rote Henne, als sie alle Tiere wegschickte und sie in deutlichen Worten wissen ließ, dass sie ihr Brot mit niemandem teilen würde, der nicht bereit gewesen war, ihr bei der vorherigen Arbeit zu helfen. Da stand sie nun, die alleinerziehende Mutter, die alle Arbeit alleine gemeistert hatte und der niemand eine Pause gegönnt hatte, als sie eine brauchte. Aber zum Schluss hatte sie es allen gezeigt.

„... und sie hat nie wieder ein Brot gebacken“, schloss Aaron und gab diesem letzten Satz einen dramatischen Schwung.

„Cool“, sagte Callie. „Die Geschichte gefällt mir.“

Aaron zog eine Grimasse. „Wirklich?“

„Klar. Es ist die Geschichte eines persönlichen Triumphs über widrige Umstände. Findest du nicht? Sie hat alles auf ihre Art und Weise gemacht, und am Ende hat es funktioniert. Das ist doch prima.“

„Sie hat alle ihre Freunde verloren.“ Aaron klappte das Buch zusammen und reichte es Callie. „Was soll daran gut sein?

„Das waren keine Freunde. Das waren Schmarotzer“, sagte Callie. Auch wenn es nur ein Märchen war, spürte sie die Wahrheit bis in ihre Knochen. „Aber ihre Babys haben sie ehrlich gemocht.“