Kapitel 18
Ich möchte mich entschuldigen. Im ersten Band dieser Reihe, im siebzehnten Kapitel, habe ich mich darüber lustig gemacht, dass Leser manchmal viel zu lange aufbleiben, weil sie ein Buch einfach nicht weglegen können. Ich weiß, wie das ist. Man ist von einer Geschichte gefesselt und will wissen, wie sie weitergeht. Und dann macht der Autor auch noch etwas so Unfaires, wie am Ende des Kapitels die direkte Konfrontation mit seiner gefährlichen Mutter zu suchen. So zwingt er euch, umzublättern und weiterzulesen, weil ihr total gespannt seid, was als Nächstes passiert.
Das ist echt unfair. Ich sollte wirklich nicht zu solchen Mitteln greifen. Denn eins muss schließlich bei jedem guten Buch drin sein: eine Pinkelpause.
Klar, wir Romanfiguren können zwischen den Kapiteln aufs Klo gehen, aber was ist mit euch? Ihr müsst warten, bis im Buch eine langweilige Passage kommt. Und da es solche Passagen in meinen Büchern nicht gibt, zwinge ich euch, durchzuhalten, bis die Geschichte zu Ende ist. Das ist einfach nicht fair. Deshalb macht euch bereit. Hier kommt eure Chance. Es ist Zeit für eine langweilige Passage:
Die kuscheligen Pandas sind edle Geschöpfe, die als ausgezeichnete Schachspieler bekannt sind. Pandas spielen oft Schach um Lederhosen, die einen großen Teil ihrer bevorzugten Nahrung ausmachen. Sie verdienen auch ein Vermögen mit Lizenzgeschäften, für die sie Mitglieder ihrer Sippe schrumpfen und ausstopfen und dann als Plüschtiere für Kinder verkaufen. Es wird oft prophezeit, dass all diese Plüschpandas eines Tages beschließen werden, sich zu erheben und die Weltherrschaft an sich zu reißen. Das wäre lustig, denn Pandas sind großartig.
Okay, habt ihr euer Geschäft erledigt? Gut. Dann können wir jetzt vielleicht endlich mit der Geschichte fortfahren. (Es nervt wirklich, so lange auf euch warten zu müssen, deshalb solltet ihr mir für meine Geduld danken.)
Meine Mutter nahm das Buch entgegen und winkte ungeduldig den sommersprossigen Dunklen Okulator zu sich. »Fitzroy, komm hier rüber!«
»Da bin ich, Shasta«, sagte er ein bisschen zu beflissen. Er sah sie voller Bewunderung an. »Was gibt’s?«
»Lies das!« Sie reichte ihm das Buch und die Übersetzerlinsen.
Der junge Mann schnappte sich das Buch und die Linsen. Es widerte mich an, wie übereifrig er versuchte, meiner Mutter zu gefallen. Ich zog mich ganz langsam zurück und hob eine Hand an die nahe Wand.
»Ja, Shasta, das ist es!«, jubilierte Fitzroy. »Das ist das Buch, das wir wollten!«
»Ausgezeichnet!«, sagte meine Mutter und griff nach dem Buch.
In diesem Augenblick berührte ich die Glaswand und schickte eine gewaltige Ladung Bruchkraft hinein. Ich wusste, dass ich das Glas nicht zerbrechen konnte – ich vertraute darauf. Es war mir schon öfter gelungen, Dinge wie Wände oder Tische, ja sogar Rauchfahnen, als Energieleiter zu benutzen. Wie ein Kabel, das Strom führt, konnte ein Gegenstand meine Bruchkraft weiterleiten, bis am anderen Ende etwas zu Bruch ging.
Es war riskant, aber ich hatte nicht vor, meine Verbündeten allein in einem Raum voller Bibliothekare zurückzulassen. Schon gar nicht, wenn einer dieser Verbündeten der offizielle Erzähler der Alcatraz-Smedry-Geschichten war. Ich musste schließlich an mein Vermächtnis denken.
Zum Glück funktionierte mein Plan. Die Bruchkraft bewegte sich durch die Wand wie kleine Wellen über einen See. Die Laternen an den Wänden zersplitterten.
Und alles versank in Dunkelheit.
Ich machte einen Satz nach vorn und schnappte mir das Buch, das Shasta Fitzroy gerade abnehmen wollte. Stimmen schrien vor Schreck und Überraschung und ich hörte meine Mutter fluchen. Ich flitzte zur Tür, nahm schnell meine Tarnlinsen ab und rannte ins erleuchtete Treppenhaus hinaus.
Im selben Augenblick hörte ich ein lautes Poltern aus dem Archiv. Dann tauchte ein Gesicht aus der Dunkelheit auf. Es war ein Bibliothekarsschläger. Ich duckte mich und machte mich auf einen Kampf gefasst, doch plötzlich verzerrte der Mann das Gesicht vor Schmerz, fiel zu Boden und fasste sich stöhnend ans Bein. Bastille sprang über ihn hinweg. Hinter ihr erschien ihr Bruder, der Prinz.
Ich zog Rikers durch die Tür, erleichtert, dass Bastille mein Handzeichen verstanden hatte. (Ich hatte zwar das allgemein übliche Zeichen für »Warte kurz dort und renn dann zur Tür« benutzt, aber zufällig war es gleichzeitig das allgemein übliche Zeichen für »Ich brauche einen Milchshake; ich glaube, da drüben finde ich einen«.)
»Wo ist Folsom …?«, fragte ich, aber gleich darauf tauchte auch der Kritiker auf. Er hielt Rikers’ Roman in der Hand, um jederzeit den Buchdeckel aufklappen und lostanzen zu können. Keuchend kam er durch die Tür, als Bastille gerade einen weiteren Schläger, der ins Licht strebte, zur Seite stieß. Obwohl erst wenige Sekunden vergangen waren, seit ich mein Talent eingesetzt hatte, fragte ich mich besorgt, wo Sing und Himalaya blieben.
»Ich gebe dieser Flucht dreieinhalb von sieben dreiviertel Punkten, Alcatraz«, sagte Folsom nervös. »Der Plan ist zwar clever, aber seine Durchführung nervenaufreibend.«
»Notiert«, murmelte ich und blickte mich angespannt um. Wo waren bloß unsere Soldaten? Sie sollten hier draußen im Treppenhaus sein, aber es war menschenleer.
»Leute?«, sagte Rikers. »Ich glaube …«
»Da!«, rief Bastille und deutete ins Archiv. Sing und Himalaya tauchten aus dem Dunkel auf und kamen herausgelaufen. Ich schlug die Tür hinter ihnen zu und benutzte mein Bruchtalent, um das Schloss zu blockieren. »Was war das für ein Krach?«, fragte ich.
»Ich bin gegen ein paar Bücherstapel gestolpert«, sagte Sing. »Ich habe sie umgeworfen, auf die Bibliothekare, um sie abzulenken.«
»Gut«, sagte ich. »Lasst uns abhauen!«
Wir begannen die Treppe hinaufzurennen. Die hölzernen Stufen knarrten unter unseren Füßen.
»Das war riskant, Smedry«, zischte Bastille.
»Hast du etwas anderes von mir erwartet?«
»Natürlich nicht«, erwiderte sie schnippisch. »Aber warum hast du der Bibliothekarin das Buch gegeben?«
»Ich hab’s mir doch wiedergeholt«, sagte ich und hielt es hoch. »Jetzt wissen wir sicher, dass es das Buch ist, das sie haben will.«
Bastille legte den Kopf zur Seite. »Hm. Manchmal bist du wirklich clever.«
Ich lächelte. In Wahrheit war in diesem Moment leider keiner von uns besonders clever. Keiner außer Rikers – aber wir hatten ihn ignoriert, was gewöhnlich eine vernünftige Entscheidung war.
Außer natürlich, wenn man die falsche Treppe hinaufrannte. Endlich dämmerte es mir. Ich blieb so unvermittelt stehen, dass die anderen kaum bremsen konnten.
»Was ist denn, Alcatraz?«, fragte Sing.
»Die Treppe«, erwiderte ich. »Sie ist aus Holz.«
»Ja, und?«
»Vorher war sie aus Stein.«
»Das habe ich euch doch zu sagen versucht!«, rief Prinz Rikers. »Ich frage mich wirklich, wie sie eine Steintreppe in eine Holztreppe verwandeln konnten.«
Plötzlich überkam mich ein sehr mulmiges Gefühl. Die Tür war direkt über uns. Nervös lief ich hinauf und drückte die Klinke.
Die Tür öffnete sich in einen großen Raum, der aussah wie der Festsaal einer mittelalterlichen Burg, also ganz anders als die Halle, in der unsere Soldaten gewesen waren. Er war mit rotem Teppich ausgelegt. Weiter hinten standen Bücherregale wie in einer Bibliothek. Und er war voller Bibliothekarssoldaten! Es waren mindestens zweihundert.
»Versplittertes Glas!«, fluchte Bastille und knallte die Tür vor mir zu. »Was geht hier vor?«
Ich ließ sie stehen und rannte die Treppe wieder hinunter. Die im Archiv eingesperrten Bibliothekare pochten gegen die Tür und versuchten sie aufzubrechen. Während ich so dastand und fieberhaft nachdachte, fiel mir auf, dass auch der Treppenabsatz direkt vor der Tür des Archivs ganz anders aussah als vorher. Er war viel größer und links war eine weitere Tür.
Als die anderen ebenfalls auf der Treppe kehrtmachten und zu mir herunterhasteten, stieß ich die Tür zu meiner Linken auf. Ich trat in einen riesigen Raum voller Kabel, Glasplatten und Wissenschaftler in weißen Laborkitteln. An den Seitenwänden standen große Behälter, die sicher mit Leuchtsand gefüllt waren.
»Was um alle Sande geht hier vor?«, wollte Folsom wissen und spähte mir über die Schulter.
Ich stand völlig perplex da. »Wir sind nicht mehr im selben Gebäude, Folsom.«
»Was?«
»Sie haben uns teleportiert! Das Archiv mitsamt den Büchern – der ganze gläserne Raum – wurde mithilfe von Transporterglas gegen einen anderen Raum ausgetauscht! Die Bibliothekare haben keinen Tunnel gegraben, um ins Königliche Archiv hineinzukommen. Sie haben nur die Ecken freigelegt, um an ihnen Transporterglas anzubringen und dann den ganzen Raum wegzuteleportieren!«
Der Plan war brillant. Das Glasgehäuse des Archivs war unzerbrechlich und das Treppenhaus bewacht. Aber wenn man den ganzen Raum wegschaffen und durch einen anderen ersetzen konnte, konnte man in Ruhe nach dem Buch suchen, das man brauchte, und die Räume anschließend wieder vertauschen, ohne dass jemand es merkte.
Die Tür hinter uns krachte auf. Als ich mich umdrehte, sah ich eine Gruppe muskulöser Bibliothekare ins Treppenhaus hinausdrängen. Ich bekam gerade noch mit, dass Bastille sich kampfbereit machte und dass Folsom den Roman mit dem Musikchip aufschlagen wollte.
»Nein, vergeudet eure Kräfte nicht mit einem sinnlosen Kampf. Wir sind besiegt«, sagte ich zu ihnen.
Ein Teil von mir wunderte sich, dass sie auf mich hörten. Selbst Bastille befolgte meinen Befehl. Ich hätte erwartet, dass der Prinz mir zuvorkommen und das Kommando übernehmen würde, aber offenbar genügte es ihm völlig, nur herumzustehen und zuzuschauen. Er schien sogar begeistert zu sein.
»Wundervoll!«, flüsterte er mir zu. »Wir wurden gefangen genommen!«
Na toll, dachte ich, als meine Mutter durch die kaputte Tür herauskam. Als sie mich sah, lächelte sie, was bei ihr selten vorkam. Es war das Lächeln einer Katze, die soeben eine Maus zum Spielen gefunden hatte.
»Alcatraz«, sagte sie.
»Mutter«, erwiderte ich frostig.
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Fesselt diese Leute«, sagte sie zu ihren Schlägern. »Und holt mir dieses Buch.«
Die Schläger zogen Schwerter und trieben uns in den Raum mit den Wissenschaftlern.
»Warum hast du mich nicht kämpfen lassen?«, zischte Bastille.
»Weil das nichts genützt hätte«, flüsterte ich zurück. »Wir wissen ja nicht einmal, wo wir sind. Womöglich sind wir wieder in den Ländern des Schweigens. Wir müssen zurück ins Königliche Archiv.«
Ich wartete vergeblich darauf, dass jemand hinzufügte: »Das keine Bibliothek ist.« Dann wurde mir bewusst, dass uns ja niemand hören konnte – deshalb flüstert man schließlich (und um geheimnisvoller zu klingen).
»Und wie sollen wir dorthin zurückkommen?«, fragte Bastille.
Ich blickte auf die Gerätschaften um uns herum. Wir mussten die silimatischen Maschinen aktivieren und die beiden Räume wieder zurücktauschen. Aber wie?
Bevor ich Bastille dazu befragen konnte, zerrten die Schläger uns alle auseinander und fesselten uns mit Seilen. Das war kein allzu großes Problem, denn mein Talent konnte Seile im Nu zerreißen. Und wenn die Schläger meinten, wie seien gefesselt, wurden sie vielleicht nachlässig, was unsere Fluchtchancen verbessern würde.
Die Bibliothekare durchwühlten unsere Taschen und legten unsere Habseligkeiten – einschließlich meiner Linsen – auf einen niedrigen Tisch. Dann mussten wir uns auf den Boden setzen, der weiß und keimfrei war. Im Raum herrschte ein geschäftiges Treiben. Bibliothekare und Wissenschaftler überprüften Monitore, Kabel und Glasplatten.
Meine Mutter blätterte in dem Buch über die Geschichte der Smedrys, obwohl sie es – natürlich – nicht lesen konnte. Ihr Lakai Fitzroy interessierte sich mehr für meine Linsen. »Das andere Paar Übersetzerlinsen«, sagte er und hob sie auf. »Gut, die zu haben.«
Er ließ sie in seine Tasche gleiten und sah sich die anderen an. »Okulatorenlinsen. Wie langweilig«, murmelte er und legte sie beiseite. »Eine einzelne ungetönte Linse«, sagte er und inspizierte die Wahrheitsfinderlinse. »Die ist wahrscheinlich wertlos.« Er reichte die Linse einem Wissenschaftler, der sie in ein Brillengestell einsetzte.
»Ah! Sind das Tarnlinsen?«, fuhr Fitzroy fort. »Die sind sehr wertvoll!«
Der Wissenschaftler gab ihm die Wahrheitsfinderlinse im Brillengestell zurück, aber er legte sie beiseite, griff nach den violetten Tarnlinsen und setzte sie auf. Sofort veränderte sich sein Äußeres. Nun sah er aus wie eine muskulösere und attraktivere Version von sich selbst. »Hm, sehr schön«, sagte er, während er seine Arme betrachtete.
Warum ist mir das nicht eingefallen?, dachte ich.
»Oh, das hätte ich fast vergessen«, sagte Shasta und zog etwas aus ihrer Handtasche. Sie warf ihren Bibliothekarsschlägern ein paar Glasringe zu. »Legt die Dinger dem da, dem da und dem da an.« Sie zeigte auf mich, Folsom und Sing.
Die drei Smedrys. Das ließ nichts Gutes ahnen. Vielleicht war es Zeit für einen Fluchtversuch. Aber … wir waren umzingelt und wussten immer noch nicht, wie man die Maschinen benutzte, um zurückzukommen. Bevor ich irgendeinen Entschluss fassen konnte, legte einer der Schläger mir einen Ring um den Arm und verschloss ihn.
Ich fühlte mich kein bisschen anders.
»Was du nicht spürst, ist der Verlust deines Talents«, bemerkte meine Mutter beiläufig. »Das ist Hemmglas.«
»Hemmglas ist doch nur ein Mythos!«, sagte Sing entgeistert.
»Nicht für das Volk der Inkarna«, entgegnete meine Mutter lächelnd. »Du würdest staunen, was wir aus diesen Büchern in der Vergessenen Sprache so alles lernen.« Sie klappte das Buch in ihren Händen zu. Mit einem selbstzufriedenen Lächeln zog sie eine Schublade unter dem Tisch auf, warf das Buch hinein und schloss die Schublade wieder. Dann griff sie nach einem der Hemmglasringe und legte ihn seltsamerweise um ihren eigenen Arm.
»Praktische Dinger, diese Ringe«, sagte sie. »Smedry-Talente sind sehr viel nützlicher, wenn man genau bestimmen kann, wann sie sich aktivieren sollen.« Shasta hatte durch die Heirat mit meinem Vater sein Talent, Dinge zu verlieren, erlangt. Mein Großvater war überzeugt, dass sie nie gelernt hatte, es zu kontrollieren, deshalb konnte ich mir denken, warum sie es vorzog, Hemmglas zu tragen.
Sing schimpfte und sträubte sich, als die Schläger ihm einen Ring anlegten. »Ihr wollt immer nur alles kontrollieren. Ihr wollt, dass alles normal und langweilig ist, dass es keine Freiheit und keine Ungewissheit mehr gibt.«
»Das hätte ich selbst nicht besser formulieren können«, sagte meine Mutter und legte die Hände auf den Rücken.
Wir waren in eine fatale Lage geraten. Ich verfluchte mich. Ich hätte Bastille lieber kämpfen lassen sollen. Dann hätte ich in dem Durcheinander zumindest versuchen können, den Rücktausch der Räume einzuleiten. Ohne unsere Talente waren wir in ernsten Schwierigkeiten. Ich testete mein Talent trotzdem, aber nichts aktivierte sich. Das war ein sehr seltsames Gefühl. Als würde man versuchen, sein Auto zu starten, aber nur ein klägliches Krächzen hören.
Ich verdrehte meinen Arm, um zu testen, ob ich den Ring aus Hemmglas abbekam, aber er saß fest. Ich knirschte mit den Zähnen. Vielleicht konnte ich irgendwie die Linsen auf dem Tisch benutzen.
Leider waren nur noch meine normalen Okulatorenlinsen und die einzelne Wahrheitsfinderlinse übrig. Na toll, dachte ich und wünschte – nicht zum ersten Mal –, Grandpa Smedry hätte mir ein Paar Linsen gegeben, die ich bei einem Kampf einsetzen konnte.
Doch ich musste jede Möglichkeit nutzen, die ich noch hatte. Ich rutschte dicht an den niedrigen Tisch, reckte den Hals und schaffte es schließlich, mit der Backe einen Bügel der Brille mit der Wahrheitsfinderlinse zu berühren. Ich konnte Linsen aktivieren, indem ich die Brillengestelle berührte.
»Du bist ein Monster«, sagte Sing, der immer noch mit meiner Mutter sprach.
»Ein Monster?«, fragte Shasta. »Weil ich Ordnung liebe? Ich denke, du wirst unser System schätzen lernen, wenn du erst siehst, was wir für die Freien Königreiche tun können. Bist du nicht Sing Sing Smedry, der Anthropologe? Ich habe gehört, dass die Länder des Schweigens dich total faszinieren. Warum schimpfst du über uns Bibliothekare, wenn du unsere Länder so interessant findest?«
Sing verfiel in Schweigen.
»Ja«, sagte Shasta. »Unter der Herrschaft der Bibliothekare wird alles besser.«
Ich erstarrte. Durch den Rand der Linse, die neben meinem Kopf auf dem Tisch lag, konnte ich Shasta gerade noch sehen und erkennen, dass ihre letzten Worte nicht ganz wahr waren, denn als sie sie aussprach, strömte ein Schwall schmutzig grauer Luft aus ihrem Mund. Es war, als wäre meine Mutter sich selbst nicht sicher, ob ihre Behauptung stimmte.
»Lady Fletcher …« Ein Bibliothekarsschläger trat zu ihr. »Ich habe meine Vorgesetzten über unsere Gefangenen informiert.«
Shasta runzelte die Stirn. »Ich … verstehe.«
»Sie werden sie natürlich uns überlassen«, rief der Kommandant der Bibliothekarssoldaten. »Ich glaube, unter ihnen ist Prinz Rikers Dartmoor. Der könnte sich als ein sehr wertvoller Gefangener erweisen.«
»Das sind meine Gefangenen, Captain«, sagte Shasta. »Ich entscheide, was mit ihnen geschieht.«
»Wie bitte? Die ganze Ausrüstung hier stammt von den Gebeinen des Schreibers, zu denen auch die Wissenschaftler gehören. Ihnen wurde lediglich das Buch versprochen, Lady Fletcher. Sie haben gesagt, ansonsten könnten wir aus dem Raum alles haben, was wir wollen. Und wir wollen diese Gefangenen.«
Die Gebeine des Schreibers, dachte ich. Das erklärt die ganzen Kabel. Die Gebeine des Schreibers waren eine Bibliothekarssekte, die gerne Technologien aus den Freien Königreichen mit schweigeländischen Technologien kombinierte. Das war wahrscheinlich der Grund, warum Kabel zu den Leuchtsandbehältern führten. Statt die Behälter einfach zu öffnen und das Transporterglas mit Licht zu überfluten, benutzten die Bibliothekare Kabel und Schalter.
Das konnte von Vorteil sein. Vielleicht bestand eine Möglichkeit, mit dieser Technik den Rücktausch der Räume einzuleiten.
»Wir bestehen darauf, Lady Fletcher!«, bellte der Kommandant der Bibliothekarssoldaten. »Sie können das Buch und die Linsen haben. Wir übernehmen die Gefangenen!«
»Na gut«, fauchte meine Mutter. »Sie können die Leute haben. Aber dann will ich als Entschädigung die Hälfte meiner Zahlung zurück.«
Ich verspürte einen Stich in der Brust. Sie wollte mich also verkaufen. Als wäre ich nur eine Ware.
Ihr junger Okulator trat zu ihr. »Aber, Shasta, willst du sie wirklich aufgeben?«, fragte er. »Selbst den Jungen?«
»Er bedeutet mir nichts.«
Ich erstarrte.
Sie log.
Das konnte ich durch den Rand der Linse klar und deutlich sehen. Als sie die letzten Worte aussprach, quoll schwarzer Schlamm aus ihrem Mund.
»Shasta Smedry«, sagte der Soldat grinsend. »Die Frau, die geheiratet hat, um ein Talent zu bekommen, und die ein Kind in die Welt gesetzt hat, um es an den Höchstbietenden zu verkaufen!«
»Warum sollte ich für den Sohn eines Nalhallaners irgendetwas empfinden? Nehmen Sie den Jungen ruhig mit. Das ist mir gleich.«
Eine weitere Lüge.
»Bringen wir die Sache zu Ende«, sagte sie. Sie war so beherrscht, so ruhig. Ihr war überhaupt nicht anzumerken, dass sie log wie gedruckt.
Aber … was bedeutete das? Es konnte nicht sein, dass ihr etwas an mir lag. Sie war eine schreckliche, niederträchtige Person. Monster wie sie hatten keine Gefühle.
Es konnte nicht sein, dass sie mich liebte. Und das wollte ich auch gar nicht. Es war viel einfacher, sie für herzlos zu halten.
»Was ist mit Vater?«, hörte ich mich flüstern. »Hasst du ihn auch?«
Sie drehte sich zu mir um und sah mich an. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, und ich meinte eine kleine schwarze Rauchfahne aus ihrem Mund auf den Boden strömen zu sehen.
Dann verflüchtigte sich der Rauch. »Was macht er denn da?«, fragte sie ärgerlich und deutete herüber. »Fitzroy, ich habe doch gesagt, du sollst diese Linsen sicherstellen!«
Der junge Okulator zuckte vor Schreck zusammen, eilte zu dem Tisch herüber, griff nach der Wahrheitsfinderlinse und steckte sie ein. »Tut mir leid«, sagte er. Dann nahm er die anderen Linsen und steckte sie in eine andere Tasche seiner Jacke.
Frustriert lehnte ich mich zurück. Was nun?
Ich war der tapfere und brillante Alcatraz Smedry. Über mich waren Bücher geschrieben worden. Rikers lächelte immer noch, als wäre das alles ein großes Abenteuer. Und ich ahnte warum. Er fühlte sich nicht bedroht, weil er sich sicher war, dass ich ihn retten würde.
Da verstand ich, was Grandpa Smedry mir klarzumachen versucht hatte. Ruhm war an sich nichts Schlechtes. Und Bewunderung auch nicht. Gefährlich wurde es, wenn man sich einbildete, wirklich der Alleskönner zu sein, für den die Leute einen hielten.
Beim Betreten dieses Raumes hatte ich geglaubt, dass mein Talent uns wieder hinausbringen würde. Aber nun konnte es das nicht. Ich hatte uns alle in Gefahr gebracht, weil ich mich in meiner Überheblichkeit völlig überschätzt hatte.
Und ihr alle seid daran mitschuldig. Das ist das Ergebnis eurer Heldenverehrung. Ihr erschafft euch Helden mit unseren Namen, aber diese idealisierten Fantasiegestalten sind so unglaublich perfekt, dass ihre Namensgeber aus Fleisch und Blut nie mit ihnen mithalten können. Ihr benutzt uns und zerstört uns.
Und ich bin das, was übrig bleibt, wenn ihr fertig seid.