Kapitel 1

Feder.epsDa war ich also. Ich hing mit dem Kopf nach unten unter einem riesigen Glasvogel, der mit hundertsechzig Stundenkilometern übers Meer raste. Dennoch war ich nicht in Gefahr.

Wirklich, es bestand keinerlei Gefahr für mich. Ich war in diesem Augenblick sicherer, als ich es in meinem ganzen Leben je gewesen war, trotz der mehrere hundert Meter tiefen Leere unter mir. (Oder eigentlich über mir, weil ich ja mit dem Kopf nach unten dahing.)

Vorsichtig machte ich ein paar Schritte. Die übergroßen Stiefel, die ich trug, hatten in den Sohlen Krallenglas, das sie an anderen Dingen aus Glas haften ließ. Das hielt mich da oben fest. (Sonst wäre ich in den Tod gestürzt. Die Schwerkraft ist wirklich lästig.)

Wenn ihr mich so gesehen hättet, im heulenden Wind hoch über dem schäumenden Meer hängend, hättet ihr vielleicht bezweifelt, dass ich dort sicher war. Aber Begriffe wie ›sicher‹, ›oben‹ oder ›unten‹ sind relativ.

Wie ihr hoffentlich noch wisst, wuchs ich als Pflegekind in den Ländern des Schweigens auf, die unter der Herrschaft der Dunklen Bibliothekare stehen. Diese hatten mich während meiner Kindheit ständig überwacht, in Erwartung des Tages, an dem ich von meinem Vater einen Beutel mit einem ganz besonderen Sand bekommen würde.

Als ich den Beutel erhielt, haben sie ihn mir prompt gestohlen. Doch ich habe ihn zurückbekommen. Und nun klebte ich am Bauch eines riesigen Glasvogels. Eigentlich ganz einfach. Falls ihr das nicht versteht, kann ich euch nur raten, zunächst die ersten zwei Bände einer Buchreihe zu lesen, bevor ihr zum dritten greift.

Ich weiß, dass es einigen Mundtoten – wie die Leute aus den Ländern des Schweigens genannt werden – leider schwerfällt, bis drei zu zählen. (Weil die Bibliothekare, die die dortigen Schulen kontrollieren, nicht wollen, dass jemand die höhere Mathematik beherrscht.) Deshalb habe ich für sie die folgende Anleitung verfasst:

Der erste Band einer Buchreihe ist der, mit dem ihr anfangen solltet. Ihr erkennt ihn daran, dass auf dem Buchrücken eine Eins steht. Smedrys vollführen einen Freudentanz, wenn ihr Band eins zuerst lest. Und die Entropie wird zornig die Faust gegen euch erheben, weil ihr klug genug seid, zur Ordnung der Welt beizutragen.

Der zweite Band einer Buchreihe ist der, den ihr nach dem ersten lesen solltet. Wenn ihr mit dem zweiten Band anfangt, werde ich mich über euch lustig machen. (Okay, das tue ich so oder so, aber wollt ihr es mir wirklich noch leichter machen?)

Der dritte Band, also dieser, ist der, mit dem ihr keinesfalls anfangen solltet. Wenn ihr den zuerst lest, werfe ich euch Sachen an den Kopf.

Und der vierte Band? Wie wollt ihr es schaffen, mit dem anzufangen, obwohl ich ihn noch gar nicht geschrieben habe? (Ihr raffinierten Zeitreisenden.)

Wie auch immer, wenn ihr den zweiten Band nicht gelesen habt, dann habt ihr ein paar sehr wichtige Dinge verpasst. Zum Beispiel eine Reise in die berühmte Bibliothek von Alexandria, einen Schlamm, der leicht nach Bananen schmeckt, geisterhafte Kuratoren, die allen die Seele aussaugen wollen, riesige Glasdrachen, die Gruft von Alcatraz dem Ersten und vor allem eine erschöpfende Diskussion über Flusen im Bauchnabel. Wenn ihr den zweiten Band nicht gelesen habt, habt ihr zudem eine Menge Leute gezwungen, eine ganze Minute damit zu vergeuden, diese Zusammenfassung zu lesen. Ich hoffe, ihr seid jetzt zufrieden.

Ich stapfte weiter, auf eine einzelne Gestalt zu, die in der Nähe der Brust des Vogels stand. Links und rechts von mir schlugen gewaltige Glasflügel, und ich bewegte mich an dicken gläsernen Vogelbeinen vorbei, die hochgezogen und nach hinten gelegt waren. Der Wind heulte und peitschte mir entgegen. Der Glasvogel, der Hawkwind genannt wurde, war nicht ganz so majestätisch wie unser vorheriges Luftschiff, ein gläserner Drache namens Dragonaught. Doch auch der Glasvogel hatte innen mehrere Kabinen, in denen man höchst komfortabel reisen konnte.

Mein Großvater hatte natürlich keine Lust, wie ein normaler Fluggast im Innern des Luftschiffs zu bleiben. Nein, er musste sich unten dranhängen und übers Meer blicken. Ich kämpfte gegen den Wind, während ich mich auf ihn zubewegte. Dann verschwand der Wind plötzlich. Ich erstarrte vor Schreck, mit einem Stiefel an der Unterseite des Glasvogels klebend.

Grandpa Smedry fuhr herum. »Rotierende Rotfüße!«, rief er aus. »Du hast mich erschreckt, Junge.«

»Tut mir leid«, sagte ich und ging zu ihm. Meine Stiefel klickten jedes Mal, wenn ich einen Fuß löste, um einen Schritt zu machen, und ihn dann wieder aufsetzte. Mein Großvater trug wie immer einen eleganten schwarzen Smoking – er meinte, damit würde er in den Ländern des Schweigens weniger auffallen. Bis auf einen schmalen Kranz weißer Haare um den Hinterkopf war er kahl und er trug einen ungewöhnlich buschigen weißen Schnurrbart.

»Was ist mit dem Wind passiert?«, fragte ich.

»Hä? Ach so, das.« Mein Großvater hob eine Hand und tippte an die grün getönte Brille, die er trug. Das war eine Art Zauberbrille. Ihre Gläser waren Okulatorenlinsen, die – wenn sie von einem Okulator wie meinem Großvater oder mir aktiviert wurden – einige sehr interessante Dinge bewirken konnten. (Leider besitzen sie nicht die Fähigkeit, faule Leser dazu zu zwingen, die ersten zwei Bände zu lesen, und es mir so zu ersparen, all diese Dinge immer wieder aufs Neue erklären zu müssen.)

»Sturmbringerlinsen?«, fragte ich. »Ich wusste gar nicht, dass man sie auch auf diese Weise einsetzen kann.« Ich hatte selbst einmal ein Paar Sturmbringerlinsen gehabt und sie dazu benutzt, Windstöße zu erzeugen.

»Das erfordert einige Übung, mein Junge«, erklärte Grandpa Smedry auf seine lebhafte Art. »Ich erzeuge eine Windblase und schicke sie dem Wind entgegen, um ihn zu neutralisieren.«

»Aber … müsste diese Windblase mich nicht auch nach hinten wegfegen?«

»Was? Nein, natürlich nicht! Wie kommst du denn darauf?«

»Ähm … Nach den Gesetzen der Physik müsste es so sein«, erwiderte ich. (Ihr werdet mir vielleicht zustimmen, dass es ziemlich absurd ist, sich auf die Physik zu berufen, während man unter Verwendung von magischen Stiefeln mit dem Kopf nach unten an einem Glasvogel hängt.)

Grandpa Smedry lachte. »Ein sehr guter Witz, Junge. Zu komisch.«

Er klopfte mir auf die Schulter. Mein Großvater amüsiert sich köstlich über bibliothekarische Lehren wie die Physik, die er wie alle Freien Untertanen für völligen Unsinn hält. Doch ich finde, was die Physik betrifft, tun die Freien Untertanen den Bibliothekaren unrecht. Die Physik ist kein Unsinn – sie ist nur unvollständig.

Die Magie und die Technologie der Freien Königreiche haben ihre eigenen Gesetze. Nehmen wir zum Beispiel den Glasvogel. Er wurde von einem sogenannten silimatischen Motor angetrieben, der mit verschiedenen Arten von Sand und Glas arbeitete. Smedry-Talente und okulatorische Fähigkeiten wurden in den Freien Königreichen als Magie betrachtet, weil nur ganz bestimmte Leute sie besaßen. Dinge, die jeder benutzen konnte – wie den silimatischen Motor oder die Stiefel an meinen Füßen – galten als Technologie.

Je länger ich mit Freien Untertanen zusammen war, desto fragwürdiger erschien mir diese Unterscheidung. »Großvater«, sagte ich, »habe ich dir schon erzählt, dass es mir gelungen ist, ein paar Krallenglasstiefel energetisch aufzuladen, indem ich sie nur berührt habe?«

»Hä, was meinst du damit?«, fragte Grandpa Smedry.

»Ich konnte durch meine bloße Berührung ihre Haftkraft verstärken«, erklärte ich. »Als wäre ich eine Art Batterie oder Energiequelle.«

Mein Großvater schwieg.

»Was wäre, wenn wir das mit den Linsen bewirken könnten?«, fragte ich und tippte an die Brille auf meiner Nase. »Was wäre, wenn die Fähigkeiten eines Okulators nicht so begrenzt sind, wie wir denken? Wenn wir alle Arten von Glas beeinflussen könnten?«

»Du klingst wie dein Vater, Junge«, sagte Grandpa Smedry. »Er hat eine Theorie zu genau diesem Thema.«

Mein Vater. Ich blickte nach oben. Dann wandte ich mich wieder Grandpa Smedry zu, der mit seinen Sturmbringerlinsen den Wind in Schach hielt.

»Sturmbringerlinsen«, sagte ich. »Das Paar, das du mir gegeben hast, habe ich … leider zerbrochen.«

»Ha!«, sagte Grandpa Smedry. »Das ist nicht verwunderlich, Junge. Dein Talent ist ziemlich stark.«

Mein Talent – mein Smedry-Talent – war die magische Fähigkeit, Dinge zu zerbrechen. Alle Smedrys haben ein Talent, selbst die angeheirateten. Das Talent meines Großvaters war die Fähigkeit, zu Verabredungen zu spät zu kommen.

Die Talente waren ein Segen und ein Fluch zugleich. Das Talent meines Großvaters war beispielsweise sehr nützlich, wenn er Kugeln oder den Steuereintreiber verpasste. Aber er war auch zu spät gekommen, um zu verhindern, dass die Bibliothekare mein Erbe stahlen.

Grandpa Smedry wurde untypisch still, während er aufs Meer schaute, das über uns zu hängen schien. Wir flogen nach Westen, nach Nalhalla. Das war meine Heimat, obwohl ich dieses Land noch nie betreten hatte.

»Was ist? Stimmt etwas nicht?«, fragte ich.

»Hä? Was soll denn nicht stimmen? Wir haben deinen Vater aus den Fängen der Kuratoren von Alexandria gerettet! Ich muss sagen, du hast den scharfen Verstand eines echten Smedry bewiesen! Gut gemacht! Unsere Mission war ein voller Erfolg!«

»Allerdings hat meine Mutter nun ein Paar Übersetzerlinsen«, wandte ich ein.

»Ja. Das ist das Problem.«

Der Sand von Rashid, mit dem der ganze Schlamassel begonnen hatte, war zu Linsen eingeschmolzen worden, die jede Sprache übersetzen konnten. Mein Vater hatte diesen Sand irgendwie gesammelt, dann hatte er ihn geteilt und mir die Hälfte davon geschickt – genug, um ein Paar Übersetzerlinsen daraus zu schmelzen. Das andere Paar hatte er selbst behalten. Nach dem Fiasko in der Bibliothek von Alexandria war es meiner Mutter gelungen, sein Paar zu stehlen. (Ich hatte meines zum Glück noch.)

Ihr Diebstahl bedeutete, dass sie mithilfe eines Okulators die Vergessene Sprache lesen und die Geheimnisse des alten Volkes der Inkarna verstehen konnte. Sie konnte Werke über deren hochentwickelte Technologie und Magie studieren und Wunderwaffen entdecken. Das war wirklich ein Problem, denn meine Mutter war eine Bibliothekarin.

»Was machen wir jetzt?«, fragte ich.

»Das weiß ich noch nicht genau«, erwiderte Grandpa Smedry. »Aber ich gedenke mit dem Rat der Könige zu sprechen. Die Könige haben bestimmt etwas dazu zu sagen.« Er wurde wieder munter. »Aber jetzt ist nicht der Augenblick, um sich darüber Gedanken zu machen. Du bist nicht hierhergereist, um deinen Lieblingsgroßvater Unheil verkünden zu hören.«

Ich hätte fast erwidert, dass er mein einziger Großvater war. Dann überlegte ich kurz, was es bedeuten würde, nur einen Großvater zu haben. Grmpf.

Ich sah zur Hawkwind hinauf. »Eigentlich wollte ich dich etwas über meinen Vater fragen«, sagte ich.

»Was denn, mein Junge?«

»Ist er immer so …«

»Zerstreut?«

Ich nickte.

Grandpa Smedry seufzte. »Dein Vater ist ein Getriebener, Alcatraz. Du weißt, dass ich es falsch finde, dass er dich damals aufgegeben und in den Ländern des Schweigens hat aufwachsen lassen … aber, nun, er hat in seinem Leben schon ein paar große Dinge vollbracht. Jahrtausendelang haben Gelehrte versucht, die Vergessene Sprache zu entschlüsseln. Ich hielt das für unmöglich. Abgesehen davon hat meines Wissens bisher noch kein Smedry sein Talent so gut beherrscht wie er.«

Durch das Glas über mir sah ich Schatten und Gestalten – unsere Mitreisenden. Da war mein Vater. Meine ganze Kindheit lang hatte ich mich gefragt, wer und wie er wohl war. Ich hatte erwartet, dass er ein bisschen … na ja, erfreuter sein würde, mich zu sehen.

Obwohl er mich damals im Stich gelassen hatte.

Grandpa Smedry legte mir die Hand auf die Schulter. »Schau doch nicht so mürrisch drein, Junge. Aberwitzige Abrahams! Du kommst zum ersten Mal nach Nalhalla! Irgendwann werden wir all das klären. Aber jetzt entspann dich und ruh dich ein Weilchen aus. Du hast turbulente Monate hinter dir.«

»Wie weit ist es denn noch?«, fragte ich. Wir waren schon fast den ganzen Morgen unterwegs. Die letzten zwei Wochen hatten wir außerhalb der Bibliothek von Alexandria kampiert und darauf gewartet, dass mein Onkel Kaz Nalhalla erreichte und uns ein Luftschiff schickte, das uns abholte. (Kaz war sich mit Grandpa Smedry einig gewesen, dass es schneller gehen würde, wenn er sich alleine auf den Weg machte. Aber das Talent meines Onkels – die Fähigkeit, sich auf spektakuläre Arten zu verirren – kann wie alle Smedry-Talente unberechenbar sein.)

»Nicht mehr allzu weit, würde ich sagen«, erwiderte Grandpa Smedry und deutete nach vorn. »Gar nicht mehr weit …«

Ich drehte den Kopf und blickte übers Wasser. Da! In der Ferne kam gerade ein Kontinent in Sicht. Ich machte einen Schritt nach vorn und spähte aus meiner umgekehrten Perspektive hinüber. Entlang der Küste des Kontinents erhob sich eine imposante Stadt in den Morgenhimmel.

»Burgen«, flüsterte ich, während wir auf sie zuflogen. »Lauter Burgen.«

Es waren Dutzende, vielleicht sogar Hunderte. Die ganze Stadt bestand aus Burgen mit hohen Türmen und zierlichen Türmchen, auf deren Spitzen Fahnen wehten. Jede Burg hatte eine andere Architektur und Form und alle waren von einer majestätischen Stadtmauer umgeben.

Drei Bauwerke dominierten die Stadt. Das erste war eine mächtige schwarze Burg am südlichen Rand. Mit ihren massiven hohen Mauern wirkte sie unbezwingbar, wie ein gewaltiger schroffer Felsen oder ein riesiger Bodybuilder aus Stein. In der Mitte der Stadt stand eine seltsame weiße Burg, die wie eine Art Pyramide mit Türmen und Zinnen aussah. Auf ihr wehte eine große feuerrote Fahne, die schon von Weitem zu erkennen war.

Rechts von mir, am nördlichen Rand der Stadt, befand sich das sonderbarste Bauwerk von allen. Es sah aus wie ein riesiger Kristallpilz, der aus der Stadt emporwuchs. Der Pilz war mindestens dreißig Meter hoch und doppelt so breit. Sein Schirm warf einen ausladenden Schatten über eine Gruppe kleinerer Burgen. Und auf ihm thronte eine traditioneller aussehende Burg, die im Sonnenlicht funkelte, als wäre sie ganz aus Glas erbaut.

»Ist das Crystallia?«, fragte ich und deutete hinüber.

»Ja, genau!«, erwiderte Grandpa Smedry.

Crystallia, der Wohnsitz der Ritter von Crystallia, der eingeschworenen Beschützer des Smedry-Klans und Regenten der Freien Königreiche. Ich drehte den Kopf nach hinten und blickte zur Hawkwind hinauf. Drinnen wartete Bastille, die vom Ritter zum Knappen degradiert worden war, weil sie in den Ländern des Schweigens ihr Schwert verloren hatte. Ihre Heimkehr würde nicht so angenehm sein wie meine.

Aber darüber konnte ich in dem Augenblick nicht nachdenken. Ich kam nach Hause! Ich wünschte, ich könnte euch erklären, wie es sich anfühlte, endlich Nalhalla zu sehen. Ich war weder total aufgeregt noch außer mir vor Freude – es war ein viel sanfteres Gefühl. Stellt euch vor, wie es ist, wenn man morgens aus einem richtig guten Schlaf topfit und putzmunter aufwacht.

Es fühlte sich stimmig an, als wäre nun alles gut.

Und das war natürlich ein sicheres Zeichen dafür, dass gleich etwas explodieren würde.