Kapitel 4

Feder.epsJa, ich verstehe. Ihr blickt nicht mehr durch. Aber das muss euch nicht peinlich sein. Das passiert jedem ab und zu. (Außer mir natürlich.)

Wenn ihr die ersten beiden Bände meiner Autobiografie gelesen habt (und inzwischen bin ich mir sicher, dass ihr das getan habt), dann wisst ihr, dass ich mich gerne schlechtmache. Ich habe euch erzählt, dass ich ein Lügner, ein Sadist und ein schrecklicher Mensch bin. Doch jetzt, in diesem dritten Band, rede ich auf einmal davon, wie toll ich bin. Habe ich wirklich meine Meinung über mich geändert? Halte ich mich inzwischen tatsächlich für einen Helden? Trage ich nun Socken mit Kätzchen drauf?

Nein. (Auf meinen Socken sind Delfine.)

Ich habe etwas erkannt. Dadurch, dass ich in den vorherigen Bänden so selbstkritisch war, kam es so rüber, als wäre ich bescheiden. Weil ich mich als schrecklichen Menschen bezeichnet habe, dachten viele von euch, ich müsste in Wirklichkeit ein Heiliger sein.

Ehrlich, wollt ihr mich in den Wahnsinn treiben? Warum könnt ihr nicht einfach zuhören, was ich euch sage?

Egal, ich bin zu dem Schluss gelangt, dass ich euch nur davon überzeugen kann, dass ich ein schrecklicher Mensch bin, wenn ich euch zeige, wie arrogant und egozentrisch ich bin, und zwar indem ich von meinen Tugenden und Stärken rede. Andauernd. Die ganze Zeit. Bis ihr es total satthabt, von meiner Überlegenheit zu hören.

Vielleicht fällt dann bei euch der Groschen.

Der Königspalast war die weiße pyramidenähnliche Burg mitten in der Stadt. Ich trat aus der Gondel und musste mich beherrschen, um nicht vor Erstaunen Mund und Augen aufzureißen, als ich zu dem prächtigen Bauwerk aufblickte. Es war aus gewaltigen Steinblöcken errichtet, in die kunstvolle Ornamente eingemeißelt waren.

»Vorwärts!«, rief Grandpa Smedry und stürmte die Stufen hinauf wie ein General in eine Schlacht. Er ist erstaunlich flink für jemanden, der immer zu allem zu spät kommt.

Ich blickte Bastille an. Sie sah aus, als wäre ihr unwohl. »Ich denke, ich werde draußen warten«, sagte sie.

»Du kommst mit hinein!«, fuhr Draulin sie an und lief mit klirrender Rüstung die Stufen hinauf.

Ich runzelte verwundert die Stirn. Sonst wollte Draulin immer, dass Bastille draußen wartete, weil ein einfacher Knappe nicht in wichtige Angelegenheiten einbezogen werden sollte. Warum bestand sie nun darauf, dass ihre Tochter in den Palast mitging? Ich warf Bastille einen fragenden Blick zu, aber sie verzog nur das Gesicht. Also lief ich los, um Großvater und Sing einzuholen.

»… fürchte, ich kann dir nicht viel mehr sagen, Lord Smedry«, sagte Sing. »Nicht ich, sondern Folsom hat während deiner Abwesenheit verfolgt, was im Rat der Könige besprochen wurde.«

»Ah, ja«, sagte Grandpa Smedry. »Dann wird er heute wohl da sein, oder?«

»Das sollte er!«, erwiderte Sing.

»Noch ein Cousin?«, fragte ich.

Grandpa Smedry nickte. »Quentins älterer Bruder, der Sohn meiner Tochter Pattywagon. Folsom ist ein feiner Kerl. Ich glaube, Brig hatte den Jungen eine ganze Zeit lang als Bräutigam für eine seiner Töchter im Auge.«

»Brig?«, fragte ich.

»König Dartmoor«, sagte Sing.

Dartmoor. »Moment mal«, sagte ich, »Dartmoor ist doch ein Gefängnis, oder?« (Wie ihr wisst, kenne ich mich mit Gefängnisnamen aus.)

»Richtig, Junge«, sagte Grandpa Smedry.

»Bedeutet das nicht, dass er mit uns verwandt ist?«

Das war eine dumme Frage. Zum Glück wusste ich, dass ich meine Memoiren schreiben würde, und dachte mir, dass dieser Punkt vielen Leuten unklar sein würde. Deshalb habe ich ganz bewusst diese dumm klingende Frage gestellt, um das Fundament für meine Buchreihe zu legen.

Genial, nicht wahr? Ich hoffe, ihr wisst dieses Opfer zu würdigen.

»Nein«, erwiderte Grandpa Smedry. »Ein Gefängnisname bedeutet nicht zwangsläufig, dass jemand ein Smedry ist. Die Familie des Königs ist, wie die unsere, traditionsbewusst und benutzt die Namen berühmter historischer Persönlichkeiten gerne immer wieder. Doch irgendwann haben die Bibliothekare begonnen, Gefängnisse nach diesen berühmten historischen Persönlichkeiten zu benennen, um sie zu verunglimpfen.«

»Ich verstehe«, sagte ich.

Etwas an diesem Gedanken irritierte mich, aber ich konnte nicht sagen, was es war. Und ich kam auch nicht dazu, mir darüber den Kopf zu zerbrechen, denn in diesem Augenblick traten wir durch das Haupttor des Palastes in eine Eingangshalle, deren Schönheit mich überwältigte und alle Gedanken aus meinem Kopf verdrängte.

Ich bin kein Dichter. Immer wenn ich versuche, ein Gedicht zu schreiben, kommen Beleidigungen dabei heraus. Wahrscheinlich hätte ich Rapper werden sollen oder zumindest Politiker. Wie auch immer, manchmal fällt es mir einfach schwer, Schönheit in Worte zu fassen.

Es genügt wohl, wenn ich sage, dass diese riesige Halle mich gewaltig beeindruckte, obwohl ich bereits eine Stadt aus lauter Burgen gesehen hatte und auf dem Rücken eines Drachen herumgetragen worden war. Die Halle war groß und weiß, und an den Wänden hingen Bilder, die eigentlich gar keine waren, denn in den Rahmen war nichts als Glas.

Verschiedene Sorten Glas, stellte ich fest, während wir durch die prächtige Halle liefen. Hier ist das Glas die Kunst!, dachte ich. Tatsächlich hatte jedes gerahmte Stück Glas eine andere Farbe. Auf Tafeln über den Rahmen waren die verschiedenen Glassorten aufgelistet. Einige erkannte ich und die meisten glühten leicht. Durch die Okulatorenlinsen, die ich trug, konnte ich ihre Auren sehen.

In den Ländern des Schweigens stellten die Könige in ihren Palästen ihr Gold und Silber zur Schau. Hier präsentierten die Könige ihre Sammlung seltener und kostbarer Glassorten.

Ich sah mich erstaunt um und wünschte, Sing und Grandpa Smedry würden nicht so hetzen. Schließlich kamen wir zu einer großen Flügeltür und betraten einen langen rechteckigen Raum mit erhöhten Sitzreihen auf beiden Seiten. Auf den meisten Plätzen saßen Leute, die schweigend zusahen, was unten vor sich ging.

An einem breiten Tisch unten in der Mitte des Raumes saßen etwa zwei Dutzend Männer und Frauen in prunkvollen Roben, die alle verschieden waren und ziemlich exotisch wirkten. Ich erkannte König Dartmoor sofort. Er saß auf einem etwas erhöhten Thronsessel am Ende des Tisches, trug eine königsblaue und goldene Robe und hatte einen vollen roten Bart. Durch meine Okulatorenbrille – die meine Wahrnehmung der Menschen und Orte, die ich betrachtete, manchmal steigerte – wirkte er etwas größer und stattlicher, als er in Wirklichkeit war. Überlebensgroß.

Ich blieb im Eingang stehen. Ich war bisher noch nie in königlicher Gesellschaft gewesen und …

»Leavenworth Smedry!«, krähte eine aufgeregte weibliche Stimme. »Du bist zurück, alter Gauner!«

Alle im Raum schienen gleichzeitig die Köpfe zu drehen und eine kräftig gebaute (wisst ihr noch, was das bedeutet?) Frau anzublicken, die von ihrem Platz aufsprang und auf meinen Großvater zueilte. Sie hatte kurzes blondes Haar und strahlte über das ganze Gesicht.

Ich glaube, das war das erste Mal, dass ich einen Anflug von Angst in den Augen meines Großvaters sah. Die Frau schlang die Arme um den kleinen Okulator. Dann sah sie mich.

»Ist das Alcatraz?«, wollte sie wissen. »Splitterndes Glas, Junge, steht dein Mund immer so weit offen?«

Ich machte schnell den Mund zu.

»Alcatraz«, sagte Grandpa Smedry zu mir, als die Frau ihn endlich losließ. »Das ist deine Tante, Pattywagon Smedry. Meine Tochter, Quentins Mutter.«

»Entschuldigung«, rief eine dröhnende Stimme vom Tisch unten. Ich wurde rot, als ich merkte, dass die Könige uns beobachteten. »Lady Smedry, ist es wirklich nötig, dass Sie diese Sitzung stören?«, polterte König Dartmoor.

»Tut mir leid, Majestät«, rief sie hinab. »Aber diese Leute hier sind viel interessanter als Sie!«

Grandpa Smedry seufzte, dann flüsterte er mir zu: »Möchtest du raten, was für ein Smedry-Talent sie hat?«

»Das Talent, sich danebenzubenehmen?«, flüsterte ich zurück.

»Dicht dran«, sagte Grandpa Smedry leise. »Sie kann in unpassenden Augenblicken unpassende Dinge sagen.«

Das stimmte.

»Oh, schauen Sie mich nicht so an«, sagte sie und drohte dem König mit dem Finger. »Sie können mir nicht erzählen, dass Sie sich nicht auch freuen, dass sie zurück sind.«

Der König seufzte. »Die Sitzung wird für eine Stunde unterbrochen, damit wir unsere heimgekehrten Familienmitglieder begrüßen können. Lord Smedry, stimmen die Gerüchte, dass Sie mit Ihrem lange verschollenen Enkel zurückgekommen sind?«

»Ja, ich habe ihn heimgeholt!«, verkündete Grandpa Smedry. »Und nicht nur das. Wir haben auch ein Paar der legendären Übersetzerlinsen aus dem eingeschmolzenen Sand von Rashid mitgebracht!«

Da ging ein Raunen durch die Menge. Eine kleine Gruppe von Männern und Frauen, die uns direkt gegenübersaß, schien nicht erfreut, Grandpa Smedry zu sehen. Diese Leute waren nicht in Tuniken oder Roben gekleidet. Die Männer trugen Anzüge mit Fliegen, die Frauen Kostüme mit Schals. Und viele hatten Hornbrillen auf.

Bibliothekare.

Im Raum brach Unruhe aus. Immer mehr Zuschauer standen auf, und aus dem Raunen wurde ein aufgeregtes Stimmengewirr, das so laut war, als wären plötzlich tausend Hornissen losgelassen worden. Meine Tante Patty begann eine lebhafte Unterhaltung mit ihrem Vater und wollte Einzelheiten über seinen Aufenthalt in den Ländern des Schweigens wissen. Sie schaffte es, mit ihrer Stimme den Lärm der Menge zu übertönen, ohne zu brüllen. So war sie einfach.

»Alcatraz?«

Ich wandte mich Bastille zu, die neben mir stand. »Ja?«

Sie druckste herum. »Das … das ist vielleicht ein passender Ort, um … um dir etwas zu sagen.«

»Warte«, sagte ich nervös. »Schau, der König kommt hier hoch!«

»Natürlich«, sagte Bastille. »Er will zu seiner Familie.«

»Natürlich, er will … Moment mal, was?«

In diesem Augenblick schritt König Dartmoor auf uns zu. Grandpa Smedry und die anderen verbeugten sich vor ihm – sogar Patty –, also tat ich es auch. Dann küsste der König Draulin.

Wirklich! Er küsste sie! Ich war völlig perplex. Nicht nur, weil ich nie gedacht hätte, dass irgendwer das Bedürfnis verspüren könnte, Draulin zu küssen. (Das war ein bisschen so, als würde man einen Alligator knutschen.)

Wenn Draulin die Gattin des Königs war, bedeutete das …

Ich zeigte mit dem Finger auf Bastille und stieß hervor: »Du bist eine Prinzessin!«

Sie verzog das Gesicht. »Na ja, so was Ähnliches.«

»Wie kann man ›so was Ähnliches‹ wie eine Prinzessin sein?«

»Ich kann nicht den Thron erben«, erklärte sie. »Ich habe auf meinen Anspruch verzichtet, als ich den Rittern von Crystallia beigetreten bin. Wegen des Armutsgelübdes und so.«

Die Menge wogte um uns herum. Einige Leute verließen den Raum, andere blieben stehen, um – seltsamerweise – meinen Großvater und mich anzuglotzen.

Ich hätte darauf kommen müssen, dass Bastille zur königlichen Familie gehörte. Gefängnisnamen. Sie hatte einen, doch ihre Mutter nicht. Das war ein klarer Hinweis, dass ihr Vater einer bedeutenden Familie entstammte. Außerdem ist es in Geschichten wie dieser immer so, dass sich unter den Hauptpersonen mindestens ein unerkanntes Mitglied der Königsfamilie befindet. Das ist eine Art ungeschriebenes Gesetz.

In dieser Situation hatte ich verschiedene Reaktionsmöglichkeiten. Zum Glück entschied ich mich für eine, die mich nicht wie einen Vollidioten aussehen ließ.

»Das ist toll!«, rief ich aus.

Bastille sah mich erstaunt an. »Du bist mir nicht böse, weil ich es dir verheimlicht habe?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ach, ich bin doch selbst eine Art verhindertes Königskind, Bastille. Warum sollte es eine Rolle spielen, ob du auch eines bist? Außerdem hast du ja nicht gelogen oder so. Du redest halt nicht gern über dich selbst.«

Achtung, gleich passiert etwas sehr Seltsames. Seltsamer als Riesenechsen oder fliegende Glasvögel, sogar seltsamer als meine Vergleiche mit Fischstäbchen.

Bastille bekam feuchte Augen. Und dann umarmte sie mich.

Liebe Leserinnen, darf ich euch an dieser Stelle einen Tipp geben? Lauft nicht herum und umarmt Leute ohne Vorwarnung. Für viele von uns (ich schätze, für fast die Hälfte) ist das so ähnlich, als würde man uns eine ganze Flasche extrascharfe Chilisoße in den Mund kippen.

Ich glaube, in diesem Augenblick gab ich einige merkwürdige Laute von mir und machte ein völlig verdattertes Gesicht. Möglicherweise tropfte mir sogar Spucke aus dem offen stehenden Mund.

Dann hörte ich jemanden reden. »… ich kann die Regeln der Ritter von Crystallia nicht ändern, Bastille.«

Ich kriegte mich langsam wieder ein. Bastille hatte mich aus ihrer grundlosen überfallartigen Umarmung entlassen und sprach nun mit ihrem Vater. Der Raum leerte sich langsam, doch seitlich standen noch etliche Leute, die unsere kleine Gruppe neugierig beobachteten.

»Ich weiß, Vater«, sagte Bastille. »Ich muss mich ihrem Urteil fügen, wie es meine Pflicht gegenüber dem Orden verlangt.«

»Das ist mein Mädchen«, sagte der König und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Aber nimm ihre Kritik nicht zu schwer. Die Welt ist halb so wild, wie die Ritter sie manchmal darstellen.«

Draulin runzelte die Stirn über diese Bemerkung. Wenn man den König und Draulin so nebeneinander sah – ihn in seiner blau-goldenen Robe und sie in ihrer silbernen Ritterrüstung –, dann passten sie eigentlich ganz gut zusammen.

Es tat mir immer noch leid für Bastille. Kein Wunder, dass sie immer so angespannt ist, dachte ich. Mit einem mächtigen König als Vater und einem strengen Ritter als Mutter musste man sich fühlen, als würde man zwischen zwei Felsklötzen aufwachsen, die einen zu erdrücken drohen.

»Brig«, sagte Grandpa Smedry, »wir müssen über das Vorhaben des Rates sprechen.«

Der König wandte sich um. »Ich fürchte, du kommst zu spät, Leavenworth. Wir haben uns im Grunde bereits entschieden. Du kannst zwar dagegen stimmen, aber ich bezweifle, dass das noch etwas ändern wird.«

»Wie konntet ihr es auch nur in Erwägung ziehen, Mokia aufzugeben?«, fragte Grandpa Smedry aufgewühlt.

»Wir wollen Leben retten, mein Freund.« Die Stimme des Königs klang sehr müde, und ich konnte die Bürde, die auf ihm lastete, beinahe sehen. »Es ist eine schmerzliche Entscheidung, aber wenn sie den Krieg beendet …«

»Glaubst du etwa im Ernst, dass die Bibliothekare ihre Versprechen halten, Brig? Helllichte Heinleins! Das ist doch Irrsinn!«

Der König schüttelte den Kopf. »Ich will nicht der König sein, der ein Friedensangebot ausgeschlagen hat, Leavenworth. Ich will kein Kriegstreiber sein. Wenn eine Chance besteht, den Konflikt beizulegen … Aber darüber sollten wir woanders reden, nicht hier in aller Öffentlichkeit. Ziehen wir uns doch in mein Wohnzimmer zurück.«

Mein Großvater nickte kurz, dann trat er beiseite und winkte mich zu sich. »Was meinst du?«, fragte er leise, als ich mich zu ihm gesellte.

Ich zuckte mit den Schultern. »Er wirkt ehrlich.«

»Brig ist grundehrlich«, flüsterte Grandpa Smedry. »Er ist ein Idealist. Die Bibliothekare müssen clever verhandelt haben, um ihn so weit zu bringen. Doch er ist nicht die einzige Stimme im Rat.«

»Aber er ist der Vorsitzende, oder?«

»Er ist der Hochkönig«, sagte Grandpa Smedry mit erhobenem Zeigefinger. »Er ist unser Anführer, aber Nalhalla ist nicht das einzige Königreich in unserer Koalition. Im Rat sitzen dreizehn Könige, Königinnen und Würdenträger wie ich. Wenn wir genug von ihnen überzeugen und dazu bringen, gegen diesen Vertrag zu stimmen, können wir ihn vielleicht noch platzen lassen.«

Ich nickte. »Was kann ich tun?« Mokia durfte nicht fallen, dachte ich. Das würde ich nicht zulassen.

»Ich werde mit Brig reden«, sagte Grandpa Smedry. »Du gehst deinen Cousin Folsom suchen. Ich habe ihn beauftragt, sich hier in Nalhalla um Smedry-Angelegenheiten zu kümmern. Vielleicht weiß er mehr über diesen ganzen Schlamassel.«

»Okay.«

Grandpa Smedry kramte in einer Tasche seines Smokingjacketts. »Hier, vielleicht willst du die wiederhaben.« Er hielt mir eine einzelne ungetönte Linse hin. Mit meinen Okulatorenaugen sah ich sie leuchten, heller als alle Linsen, die ich kannte, außer den Übersetzerlinsen.

Diese Linse hatte ich fast vergessen. Ich hatte sie in der Gruft von Alcatraz dem Ersten in der Bibliothek von Alexandria entdeckt, doch ich war nicht dahintergekommen, was sie bewirkte. Deshalb hatte ich sie meinem Großvater zur Untersuchung gegeben.

»Hast du herausgefunden, was sie bewirkt?«, fragte ich und nahm ihm die Linse aus der Hand.

Er nickte heftig. »Ich musste viele Tests machen. Ich wollte es dir eigentlich gestern schon sagen, aber, nun ja …«

»Du hast dich verspätet.«

»Genau!«, sagte Grandpa Smedry. »Jedenfalls ist diese Linse sehr nützlich. Ungemein nützlich. Sie ist geradezu legendär. Ich konnte es zuerst selbst nicht glauben. Ich musste das Ding drei Mal testen, bevor ich überzeugt war.«

Ich wurde ganz aufgeregt. Ich stellte mir vor, dass diese Linse die Geister von Verstorbenen herbeirufen und an meiner Seite kämpfen lassen konnte. Oder vielleicht konnte sie jeden Gegner in einer roten Rauchwolke explodieren lassen, wenn ich sie auf ihn richtete. Roter Rauch sieht toll aus.

»Also was bewirkt sie?«

»Du kannst mit ihr sehen, ob jemand die Wahrheit sagt.«

Das war nicht ganz das, was ich erwartet hatte.

»Ja«, sagte Grandpa Smedry. »Das ist eine Wahrheitsfinderlinse. Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals eine in die Finger bekommen würde. Sie ist etwas ganz Besonderes!«

»Sie lässt Leute, die lügen, aber nicht explodieren, oder?«

»Ich fürchte nein, Junge.«

»Kein roter Rauch?«

»Kein roter Rauch.«

Ich seufzte und steckte die Linse trotzdem ein. Sie mochte nützlich sein, aber da ich sie im Deckel des Sarkophags entdeckt hatte, hatte ich wirklich gehofft, dass es sich um eine offensive Linse handelte.

»Schau nicht so mürrisch drein«, sagte Grandpa Smedry. »Ich glaube, du verstehst gar nicht, wie wertvoll die Linse in deiner Tasche ist. Sie könnte dir in den nächsten Tagen von großem Nutzen sein. Also pass gut auf sie auf.«

Ich nickte. »Du hast nicht zufällig noch ein Paar Feuerspenderlinsen, das du mir leihen könntest?«

Er kicherte. »Hast du mit dem letzten Paar nicht genug Schaden angerichtet? Feuerspenderlinsen habe ich leider keine mehr, aber … mal sehen, was ich sonst noch dabeihabe.« Er kramte in den Innentaschen seines Smokingjacketts. »Ah!«, sagte er schließlich und zog ein Paar Linsen hervor. Sie glühten schwach und waren lila getönt.

Ja, sie waren wirklich lila. Ich frage mich, ob die Leute, die die Okulatorenlinsen herstellen, uns absichtlich affig aussehen lassen wollen oder ob diese Farbe nur Zufall war.

»Was sind das für welche?«, fragte ich.

»Tarnlinsen«, erwiderte Grandpa Smedry. »Wenn du sie aufsetzt, dir jemanden vorstellst und dich auf sein Bild konzentrierst, tarnen sie dich, indem sie dir das Aussehen dieser Person verleihen.«

Das fand ich echt cool. Ich nahm die Linsen erfreut entgegen. »Können sie mich auch wie Dinge aussehen lassen, zum Beispiel wie ein Felsen?«

»Ich denke schon«, sagte Grandpa Smedry. »Aber es wäre ein Felsen mit Brille. Denn welche Tarnung du auch wählst, die Linsen bleiben sichtbar.«

Das war ein Nachteil, aber mir würde schon eine Möglichkeit einfallen, sie einzusetzen, dachte ich und bedankte mich.

»Vielleicht habe ich zu Hause noch andere offensive Linsen. Sobald ich wieder in der Burg bin, sehe ich nach«, sagte Grandpa Smedry. »Wir werden uns hier wohl noch zwei oder drei Stunden beraten. Nach dem Ende der Sitzung bleibt also noch Zeit bis zur Abstimmung heute Abend. Es ist jetzt ungefähr zehn Uhr. Treffen wir uns doch in drei Stunden in der Burg Smedry zum Informationsaustausch, einverstanden?«

»Ja, gut.«

Grandpa Smedry zwinkerte mir zu. »Dann sehen wir uns also am frühen Nachmittag. Falls du irgendetwas Wichtiges zerbrichst, gib Draulin die Schuld! Sie hat es verdient.«

Ich nickte, dann trennten wir uns.