Kapitel 17

Feder.epsAlles wird schieflaufen.

Ach, wusstet ihr das noch nicht? Ich dachte, das wäre klar. Wir nähern uns dem Ende des Buches und wir haben soeben einen sehr ermutigenden Sieg errungen. Alles sieht gut aus. Deshalb wird natürlich alles schieflaufen. Ihr solltet besser auf dramatische Handlungsmuster achten.

Ich würde euch gerne versprechen, dass alles gut ausgehen wird, aber eins solltet ihr meiner Meinung nach verstehen. Dies ist der mittlere Band der Buchreihe. Und wie jeder weiß, verlieren die Helden im mittleren Buch immer. Das macht die Geschichte spannender.

Tut mir leid. Aber hey, wenigstens hat jedes Buch von mir ein tolles Ende, oder?

Ich dankte den Soldaten und befahl ihnen, auf ihre Posten zurückzukehren. Sing und Folsom kamen zu mir und betrachteten das Buch, auch wenn sie es nicht lesen konnten. Ich vermutete, dass meine Mutter einen Okulator bei sich hatte, der das Buch lesen konnte, denn für sie selbst wären die Linsen nutzlos.

»Bist du dir sicher, dass es das ist, wonach wir gesucht haben?«, fragte Sing und blätterte in dem Buch.

»Es ist die Geschichte des Niedergangs der Inkarna«, sagte ich. »Erzählt vom Privatsekretär von Alcatraz dem Ersten.«

Sing pfiff. »Wow! Wie stehen die Chancen?«

»Ganz gut, würde ich sagen«, erwiderte Bastille, die um die Ecke kam und sich uns anschloss. Sie sah immer noch ziemlich mitgenommen aus, aber wenigstens stand sie. Ich schenkte ihr ein Lächeln, von dem ich hoffte, dass es aufmunternd war.

»Netter Versuch, dein dämliches Grinsen«, sagte sie zu mir. »Also, das hier ist das Königliche Archiv …«

»Keine …«, begann Sing.

»Unterbrich mich nicht«, fuhr Bastille ihn an. Sie schien momentan besonders reizbar zu sein – aber Leute, denen ein Stück ihrer Seele herausgerissen wurde, befinden sich nun mal in einem Ausnahmezustand.

»Das ist das königliche Archiv«, wiederholte Bastille. »Viele der Bücher hier gehen schon seit Jahrhunderten von einer Generation der nalhallischen Königsfamilie an die nächste über. Und die Smedrys, die Ritter von Crystallia und andere Adelsfamilien aus verbündeten Königreichen haben die Sammlung weiter vergrößert.«

»Ja, so ist es«, bestätigte Prinz Rikers, nahm Sing das Buch aus der Hand und inspizierte es. »Bücher in der Vergessenen Sprache wirft man nicht einfach weg. Viele werden seit Jahrhunderten hier archiviert. Sie sind Abschriften von Abschriften.«

»Ihr könnt dieses Gekritzel kopieren?«, fragte ich überrascht.

»Schreiber können extrem penibel sein«, sagte Sing. »Sie sind fast so schlimm wie Bibliothekare.«

»Wie bitte?«, schnaubte Himalaya und kam zu uns herüber. Sie hatte aufgehört, den letzten paar Soldaten, die noch Stapel der von ihr sortierten Bücher umräumten, Anweisungen zu geben. Der Raum sah ziemlich merkwürdig aus. In der hinteren Hälfte überwogen immer noch die chaotischen Bücherberge, in der vorderen Hälfte standen dicht an dicht die sorgfältig geordneten Stapel.

»Oh«, sagte Sing. »Ähm. Ich meinte nicht dich, Himalaya, sondern Bibliothekare, die nicht kuriert sind.«

»Ich bin es auch nicht«, entgegnete sie und verschränkte die Arme. Trotzig stand sie in ihrer schweigeländischen Kluft aus Rock und Bluse vor uns. »Was ich vorhin sagte, war ernst gemeint. Ich will beweisen, dass ich eine Bibliothekarin sein kann, die nicht böse ist. Das muss doch möglich sein.«

»Wenn du das sagst …«, murmelte Sing.

Ich konnte seine Skepsis verstehen. Bibliothekare waren … na ja, sie blieben eben Bibliothekare. Diese Leute hatten mich meine ganze Kindheit lang unterdrückt. Und sie versuchten, Mokia zu erobern.

»Ich finde, du hast tolle Arbeit geleistet«, lobte Folsom Himalaya. »Ich gebe dir zehn von zehn Punkten für wahre und höchste Effektivität.«

Prinz Rikers rümpfte die Nase. »Entschuldigt mich«, sagte er, dann reichte er mir das Buch in der Vergessenen Sprache und schritt davon.

»Was hat er denn?«, fragte Himalaya.

»Ich glaube, Folsom hat den Prinzen gerade daran erinnert, dass er Literaturkritiker ist«, sagte Bastille.

Folsom seufzte. »Ich will wirklich niemanden verärgern, sondern nur … also wie sollen die Leute denn besser werden, wenn man ihnen nicht seine ehrliche Meinung sagt?«

»Ich glaube, nicht jeder will deine ehrliche Meinung hören, Folsom«, sagte Himalaya und legte ihm eine Hand auf den Arm.

»Vielleicht sollte ich ihm nachgehen und mit ihm reden«, sagte Folsom. »Ihm erklären, worum es mir geht, wisst ihr.«

Ich bezweifelte, dass der Prinz ihm zuhören würde, aber ich sagte nichts, als er Rikers hinterherlief. Himalaya sah dem entschlossenen Kritiker mit einem zärtlichen Lächeln nach.

»Du bist in ihn verliebt, stimmt’s?«, fragte ich sie.

Himalaya drehte sich mit rotem Kopf um. Bastille boxte mir sofort gegen den Arm.

»Aua!«, knurrte ich. (Mein Talent schien nie zu funktionieren, wenn Bastille mich boxte. Vielleicht war es der Meinung, dass ich die Strafe verdiente.) »Warum hast du mich gehauen?«

Bastille rollte die Augen. »Du musst nicht so direkt sein, Smedry.«

»Du bist die ganze Zeit direkt!«, maulte ich. »Warum soll es falsch sein, wenn ich es bin?«

»Weil du es auf eine zu plumpe Art bist, deshalb. Und jetzt entschuldige dich bei Himalaya dafür, dass du sie in Verlegenheit gebracht hast.«

»Ist schon gut«, sagte die junge Bibliothekarin, deren Gesicht immer noch glühte. »Aber bitte sag so was nicht. Folsom ist nur nett zu mir, weil er weiß, dass ich mich in den Freien Königreichen noch ziemlich fremd und verloren fühle. Ich will ihn nicht mit meinen törichten Gefühlen belasten.«

»Aber er hat gesagt … aah!«

»Er hat ›aah‹ gesagt?«, fragte Himalaya verwirrt. Sie hatte offenbar nicht gesehen, dass Bastille mir mitten im Satz kräftig auf den Zeh getreten war.

»Entschuldige uns kurz«, sagte Bastille mit einem Lächeln zu Himalaya und zog mich fort. Als wir außer Hörweite waren, zeigte sie mit dem Finger auf mich und sagte: »Misch dich da nicht ein!«

»Warum?«, wollte ich wissen.

»Weil du damit womöglich alles vermasselst. Die beiden kommen schon alleine klar.«

»Aber ich habe mit Folsom geredet. Er mag Himalaya auch! Das muss ich ihr doch sagen, damit die beiden aufhören können, sich wie liebeskranke Krokodile zu benehmen.«

»Krokodile?«

»Wieso nicht? Krokodile verlieben sich auch. Sonst gäbe es schließlich keine Krokodilbabys. Aber egal. Wir sollten mit Folsom und Himalaya reden und dieses Missverständnis aufklären, um den beiden auf die Sprünge zu helfen.«

Bastille rollte die Augen. »Wie kommt es nur, dass du manchmal so clever bist und dann wieder so ein Idiot?«

»Das ist unfair! Du …« Ich hielt inne. »Moment mal, du findest mich clever?«

»Ich habe gesagt, dass du manchmal clever bist«, entgegnete sie schnippisch. »Aber die meiste Zeit nervst du leider. Wenn du dich verplapperst, werde ich … Ich weiß nicht. Ich werde dir die Daumen abschneiden und sie den Krokodilen als Hochzeitsgeschenk schicken.«

Ich runzelte die Stirn. »Was? Moment mal!«

Sie spazierte einfach davon. Ich sah ihr nach und lächelte.

Sie fand, dass ich clever war.

Eine ganze Weile stand ich nur glückselig da. Dann ging ich wieder zu Sing und Himalaya hinüber.

»… versteh doch«, sagte Himalaya. »Das Problem an den Dunklen Bibliothekaren ist nicht, dass sie Bibliothekare sind. Das Problem sind ihre dunklen Machenschaften. Sie wollen die ganze Welt unterwerfen. Ich könnte ein Selbsthilfeprogramm für Aussteiger starten. Die Anonymen Herrschsüchtigen oder etwas in der Art.«

»Ich weiß nicht«, sagte Sing und rieb sich nachdenklich das Kinn. »Das klingt nach einem schwierigen Unterfangen.«

»Ihr Freien Untertanen müsst darüber ebenso aufgeklärt werden wie die Bibliothekare!« Sie lächelte mich an, als ich zurückkam. »Jedenfalls finde ich, dass wir die restlichen Bücher auch noch ordnen sollten. Für alle Fälle, wisst ihr.«

Ich blickte auf das Buch in meinen Händen. »Tu, was du willst«, sagte ich. »Ich will das hier an einen sicheren Ort bringen. Wir haben wahrscheinlich eh schon zu viel Zeit verloren.«

»Aber was ist, wenn hier drinnen noch weitere wichtige Bücher sind?«, fragte Himalaya. »Vielleicht ist das gar nicht das Buch, hinter dem deine Mutter her ist.«

»Das ist es«, sagte ich. Irgendwie wusste ich es.

»Aber woher sollte sie überhaupt wissen, dass es hier drinnen ist?«, fragte Himalaya. »Wir wussten es schließlich auch nicht.«

»Meine Mutter ist gerissen«, sagte ich. »Ich wette, sie …«

In diesem Augenblick stolperte Sing und fiel hin.

»Oje, bist du okay?«, fragte Himalaya.

Dann schrie sie auf, weil ich sie am Arm packte und mitzog, als ich hinter einem Bücherstapel in Deckung ging. Neben mir machte Bastille das Gleiche mit dem Prinzen und Folsom. Sing rollte sich zu meinem Versteck herüber, dann kniete er sich hin und sah sich nervös um.

»Was macht ihr denn alle?«, fragte Himalaya.

Ich legte den Zeigefinger an den Mund und wartete angespannt. Man konnte Sings Talent – wie allen Smedry-Talenten – nicht hundertprozentig trauen, doch meistens stolperte er unmittelbar vor gefährlichen Ereignissen. Seine weise Voraussicht – oder eher seine Tollpatschigkeit – hatte mir in den Ländern des Schweigens das Leben gerettet.

Ich dachte schon, diesmal sei sein Stolpern ein falscher Alarm gewesen, als ich plötzlich Stimmen hörte.

Die Tür des Raumes ging auf und meine Mutter kam herein.

*

Oh, halt, seid ihr noch da? Mit dieser letzten Zeile sollte das Kapitel eigentlich enden. Das wäre doch ein guter Schluss, oder?

Was? Das Kapitel ist noch nicht lang genug? Wirklich? Hm. Tja, ähm, dann muss ich wohl weitermachen.

*

Entsetzt starrte ich zum Eingang. Das war wirklich meine Mutter, Shasta Smedry. Sie trug nicht mehr die Perücke, die sie auf der Party aufgehabt hatte, sondern hatte ihr blondes Haar wie gewöhnlich zu einem Dutt hochgesteckt. Und natürlich trug sie die obligatorische Hornbrille. Ihre Miene war hart, gefühllos. Diese Frau wirkte eiskalt, noch kälter als die anderen Bibliothekare, die ich bisher gesehen hatte.

Mein Herz krampfte sich zusammen. Ich hatte an diesem Tag zwar schon ein paar flüchtige Blicke auf sie erhascht, aber das war das erste Mal seit unserem Zusammentreffen in der Bibliothek meiner Heimatstadt, dass ich sie richtig sah … das erste Mal, seit ich erfahren hatte, dass sie meine Mutter war.

Shasta hatte eine gefährlich große Truppe von Bibliothekarsschlägern dabei. Die muskelbepackten Gorillas trugen Fliegen und Brillen. (Sie sahen aus wie genetische Mutanten, bei deren Züchtung Streber-DNS mit Footballspieler-DNS gekreuzt worden war. Wahrscheinlich verbrachten sie ihre Freizeit in Muckibuden, wo sie sich mit Kraftfutter vollstopften und in den Umkleideräumen gegenseitig die Unterhosen straff zogen.)

An Shastas Seite war ein sommersprossiger junger Mann von etwa zwanzig Jahren. Er trug einen Pullunder und Stoffhosen (typische Bibliothekarsklamotten) und eine Brille mit getönten Gläsern.

Ein Dunkler Okulator, dachte ich. Ich hatte also recht. Der Kerl sollte für meine Mutter die Übersetzerlinsen benutzen. Er sah nicht annähernd so furchterregend aus wie damals Blackburn. Doch dafür war Shasta umso gefährlicher.

Aber wie waren sie an den Soldaten auf der Treppe vorbeigekommen? Anscheinend hatten sie sich tatsächlich bis ins Treppenhaus durchgegraben, wie Sing vermutet hatte. Aber hätten wir nicht Kampfgeräusche hören müssen? Was war mit den beiden Rittern, die draußen Wache schoben? Am liebsten wäre ich hinausgelaufen und hätte nachgesehen, was passiert war.

Der Schlägertrupp blieb im Eingangsbereich stehen. Ich verkroch mich hinter meiner Wand aus Büchern. Bastille hatte den Prinzen und Folsom hinter eine andere Bücherwand gezogen. Ich sah sie um die Ecke spähen. Unsere Blicke trafen sich und ich konnte ihr die Verwunderung vom Gesicht ablesen.

Hier ging etwas sehr Seltsames vor sich. Warum hatten wir aus dem Treppenhaus keine Kampfgeräusche gehört?

»Hier geht etwas sehr Seltsames vor sich«, sagte meine Mutter. Ihre Stimme hallte durch den großen, stillen Raum. »Warum sind all diese Bücher so aufgestapelt?«

Der sommersprossige Okulator rückte seine Brille zurecht. Zum Glück trug er keine rötlichen Okulatorenlinsen – dann hätte er mich bemerkt. Die getönten Gläser seiner Brille hatten orange und blaue Streifen. Diese Sorte kannte ich nicht.

»Die Gelehrten, die ich ausgehorcht habe, sagten, dieser Raum wäre völlig verwahrlost«, sagte er mit einer näselnden Stimme. »Aber wer weiß schon, was die unter verwahrlost verstehen? Diese Stapel sehen aus, als hätte ein Clown die Bücher sortiert und aufgetürmt!«

Himalaya schnaubte vor Empörung. Sing musste sie am Arm festhalten, damit sie nicht hinausmarschierte, um ihr Katalogisierungssystem zu verteidigen.

»Okay«, sagte Shasta. »Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, bis jemand merkt, was wir getan haben. Deshalb will ich so schnell wie möglich dieses Buch finden und hier rauskommen.«

Ich runzelte die Stirn. Das hörte sich an, als wären sie durch irgendeine List hier hereingekommen. Der Plan war gut. Wenn ein Buch aus dem Königlichen Archiv verschwand, würde es wahrscheinlich Jahrhunderte dauern, bis sein Fehlen bemerkt wurde, wenn überhaupt.

Aber das bedeutete, dass meine Mutter es geschafft hatte, mit einer Truppe von etwa dreißig vierschrötigen Bibliothekaren ungesehen in das schwer bewachte Archiv zu schleichen. Das schien unmöglich.

Wie auch immer, wir steckten jedenfalls in Schwierigkeiten. Ich hatte keine offensiven Linsen und Bastille befand sich seit ihrer Trennung vom Geiststein am Rande eines Zusammenbruchs. Wir hatten zwar noch den schlagkräftigen Folsom, aber ich hatte vorhin gesehen, wie viel Schaden er anrichten konnte, und wollte mich nicht auf ein Smedry-Talent verlassen, das so unberechenbar war wie seines.

Es erschien mir das Beste, irgendwie hinauszugelangen und unsere Armee zu alarmieren und dann zurückzukehren und den Kampf aufzunehmen. Diese Idee gefiel mir auch deshalb, weil es uns dann wahrscheinlich möglich sein würde, jemanden zum Palast zu schicken, um Grandpa Smedry zu holen (und vielleicht die nalhallische Version eines Sherman-Panzers anzufordern – oder am besten gleich zwei.)

Aber wie sollten wir hinauskommen? Die Bibliothekare begannen, zwischen den Bücherstapeln hindurchzulaufen. Wir befanden uns etwa in der Mitte des Raumes, wo keine Laternen hingen, deshalb war es in unserem Versteck ziemlich dunkel. Aber natürlich konnten wir dort trotzdem nicht lange verborgen bleiben.

»Wir müssen irgendwie hier rauskommen!«, flüsterte ich Sing und Himalaya zu. »Hat jemand eine Idee?«

»Vielleicht könnten wir außen herum zur Tür schleichen«, sagte Himalaya und deutete auf die labyrinthartigen Gänge.

Die Vorstellung, unterwegs womöglich einem dieser Schläger in die Arme zu laufen, gefiel mir nicht. Ich schüttelte den Kopf.

»Wir könnten uns im hinteren Bereich verstecken«, flüsterte Sing. »In der Hoffnung, dass sie die Suche nach einer Weile frustriert aufgeben und gehen …«

»Sing, das sind alles Bibliothekare«, sagte ich. »Was Himalaya gemacht hat, können sie bestimmt auch. Sie werden diesen Raum innerhalb von Minuten durchforsten und aufräumen!«

Himalaya schnaubte leise. »Das bezweifle ich«, sagte sie. »Ich gehörte zu den Wächtern der Standarte – den besten Sortierern der Welt. Die meisten von denen sind nur einfache Gefolgsleute. Die werden kaum fähig sein, Bücher alphabetisch zu ordnen, geschweige denn nach der schwierigen Kniesehnenmethode.«

»Wie auch immer«, flüsterte ich. »Ich bezweifle, dass sie ohne das hier gehen werden.« Ich blickte auf das Buch in meiner Hand hinab, dann spähte ich durch den Mittelgang zu Bastille hinüber. Sie wirkte angespannt und konzentriert. Sie machte sich kampfbereit, denn kämpfen war ihre übliche Lösung für Probleme – für die meisten jedenfalls.

Na toll, dachte ich. Das wird bestimmt nicht gut ausgehen.

»Wenn nur meine Schwester hier wäre«, sagte Sing. »Sie könnte das Aussehen von einem dieser Schläger annehmen und sich davonstehlen.«

Ich horchte auf. Sings Schwester Australia war wahrscheinlich bei der mokianischen Delegation, die den Rat der Könige dazu zu bringen versuchte, die richtige Entscheidung zu treffen. Sie hatte das Talent, einzuschlafen und beim Aufwachen richtig hässlich auszusehen. Das bedeutete gewöhnlich, dass sie für kurze Zeit wie jemand anderes aussah. Australia war nicht hier, aber ich hatte die Tarnlinsen dabei! Hastig zog ich sie heraus. Die konnten mich hinausbringen, aber was war mit den anderen?

Ich spähte durch den Mittelgang. Bastille fing meinen Blick auf. Dann sah sie die Linsen in meiner Hand. Ich konnte ihr vom Gesicht ablesen, dass sie sie erkannte. Sie sah mich an und nickte.

Geh!, sagte ihr Blick. Bring dieses Buch in Sicherheit. Kümmere dich nicht um uns.

Wenn ihr alle Bände meiner Autobiografie bis hierher gelesen habt, dann wisst ihr, dass ich mich in diesem Alter für zu anständig hielt, um meine Freunde im Stich zu lassen. Doch ich begann mich zu verändern. Der Geschmack des Ruhms, den ich gekostet hatte – und insgeheim wieder genießen wollte –, hatte etwas in mir ausgelöst.

Ich setzte die Tarnlinsen auf, stellte mir einen Bibliothekarsschläger vor und konzentrierte mich auf dieses Bild. Himalaya schnappte lautlos nach Luft und Sing zog die Augenbrauen hoch. Ich sah die beiden an.

»Seid fluchtbereit«, sagte ich zu ihnen. Ich blickte zu Bastille hinüber und hielt einen Finger hoch, um ihr zu bedeuten, dass sie warten sollte. Dann zeigte ich zur Tür. Sie schien zu begreifen, was ich meinte.

Ich holte tief Luft und trat aus dem Versteck. Die Mitte des Raumes war kaum beleuchtet, weil unsere Bücherstapel die meisten Laternen verdeckten, die wieder an ihren Plätzen an den Wänden hingen, auch die, mit der ich das ganze Archiv hatte niederbrennen wollen.

Ich hielt die Luft an und ging vorwärts. Ich rechnete damit, dass die Bibliothekare Alarm schlagen würden, wenn sie mich sahen, aber sie waren zu sehr mit ihrer Suche beschäftigt. Niemand wandte sich auch nur um. Ich lief direkt auf meine Mutter zu. Sie sah mich an, die Frau, die ich jahrelang als Ms. Fletcher gekannt hatte und die mich als Kind ständig ausgescholten hatte.

»Was ist denn?«, fragte sie gereizt. Da wurde mir bewusst, dass ich nur dastand und sie anstarrte.

Ich hielt das Buch hoch, nach dem sie suchte.

Ihre Augen weiteten sich vor gespannter Erwartung.

Also reichte ich ihr das Buch.

Ist das ein guter Schlusssatz? Kann ich hier aufhören? Okay, endlich. Das wurde auch Zeit.