Kapitel 2

Feder.epsIch hasse Explosionen. Nicht nur, weil sie in der Regel gesundheitsschädlich sind. Sie nerven einfach total. Sie reißen einen aus allem heraus, was man gerade tut, und fordern volle Aufmerksamkeit. In dieser Hinsicht haben sie verdächtig viel Ähnlichkeit mit kleinen Schwestern.

Zum Glück werde ich jetzt nicht gleich erzählen, dass die Hawkwind explodierte. Stattdessen werde ich über etwas völlig anderes reden, nämlich über Fischstäbchen. (Solche Gedankensprünge mache ich ständig. Gewöhnt euch daran.)

Fischstäbchen sind zweifellos das Widerlichste, was je erfunden wurde. Normaler Fisch ist schon schlimm genug, aber mit Fischstäbchen hat die Widerlichkeit eine ganz neue Dimension erreicht. Man könnte meinen, diese Dinger würden nur existieren, damit wir Schriftsteller uns neue Worte ausdenken müssen, um sie zu beschreiben, da kein vorhandenes Wort schrecklich genug ist. Ich denke, ich werde sie als megakotzeklig bezeichnen.

Definition von »megakotzeklig«: Adjektiv, das benutzt wird, um etwas zu beschreiben, das so widerlich ist wie Fischstäbchen. (Anmerkung: Eigentlich kann dieses Wort nur zur Beschreibung von Fischstäbchen verwendet werden, da bisher noch nichts gefunden wurde, das gleichermaßen megakotzeklig ist. Nicht einmal das schmuddelige, muffige Chaos unter Brandon Sandersons Bett verdient diese Bezeichnung.)

Warum erzähle ich euch etwas von Fischstäbchen? Nun, abgesehen davon, dass sie eine ungesunde Landplage sind, sind sie praktisch alle gleich. Wenn man eine Marke nicht mag, dann mag man die anderen höchstwahrscheinlich auch nicht.

Und ich habe festgestellt, dass viele Leute Bücher wie Fischstäbchen behandeln. Sie probieren eines und meinen, sie hätten alle probiert.

Aber Bücher sind keine Fischstäbchen, denn jedes ist anders. Nicht alle sind so toll wie dieses, aber es gibt eine verwirrende Vielfalt von Büchern. Selbst zwei Bücher desselben Genres können völlig unterschiedlich sein.

Mehr dazu später. Fürs Erste versucht einfach, Bücher nicht wie Fischstäbchen zu behandeln. (Und falls ihr euch je zwischen Büchern und Fischstäbchen entscheiden müsst, dann sind Bücher auf jeden Fall die bessere Kost, glaubt mir.)

Die rechte Seite der Hawkwind explodierte.

Das Luftschiff geriet ins Trudeln. Funkelnde Glasbrocken flogen durch die Luft. Neben mir brach ein Bein des Vogels ab. Die Welt schwankte, drehte sich und verbog sich. Es war, als säße ich in einem Horror-Karussell, das ein Verrückter gebaut hatte. Mir wurde angst und bange.

Im selben Augenblick bemerkte ich, dass die Glasplatte unter meinen Füßen – an der meine Stiefel immer noch hafteten – vom Boden des Luftschiffs weggebrochen war. Die Hawkwind konnte sich weiter in der Luft halten, aber ich flog nicht mehr. Oder würdet ihr es etwa »fliegen« nennen, wenn man mit hundertsechzig Stundenkilometern seinem Ende entgegenstürzt?

Alles war verschwommen. Die große Glasplatte, an der ich klebte, machte Saltos und wurde vom Wind hin und her geworfen wie ein Blatt Papier. Mir blieb nicht viel Zeit.

Zerbrich!, dachte ich und schickte eine Ladung Bruchkraft durch meine Beine. Da zersprangen meine Stiefel und die Glasplatte darunter. Scherben flogen um mich herum, aber wenigstens hörte ich auf, mich zu überschlagen. Ich drehte mich nach unten und blickte auf die Wellen hinab. Ich hatte keine Linsen dabei, die mich hätten retten können – nur die Übersetzerlinsen und meine Okulatorenlinsen. Alle anderen hatte ich entweder zerbrochen oder verschenkt oder Grandpa Smedry zurückgegeben.

Mir blieb also nur mein Talent. Der Wind pfiff um mich herum und ich streckte die Arme aus. Ich hatte mich schon oft gefragt, was ich mit meinem Talent alles zerbrechen könnte, wenn ich es darauf ankommen ließe. Könnte ich vielleicht … Ich schloss die Augen und sammelte meine Kraft.

ZERBRICH!, dachte ich und schoss die Kraft durch meine Arme in die Luft.

Nichts geschah.

Ich öffnete voller Angst die Augen und sah die Wellen zu mir hochschlagen. Wieder und wieder und wieder.

Es dauert wirklich lange, bis ich aufklatsche und sterbe, dachte ich. Ich hatte das Gefühl zu fallen, aber die Wellen unter mir schienen nicht näher zu kommen.

Ich drehte mich um und blickte nach oben. Da war Grandpa Smedry. Er stürzte auf mich zu. Sein Smokingjackett flatterte im Wind und auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck intensiver Konzentration. Er streckte mir eine Hand entgegen.

Er sorgt dafür, dass ich zu meinem Absturz zu spät komme!, dachte ich. Ab und zu war es mir auch schon gelungen, mein Talent aus einiger Entfernung einzusetzen, aber das war schwierig und das Ergebnis war unvorhersehbar.

»Grandpa!«, schrie ich aufgeregt.

Fast im selben Augenblick prallte er kopfüber mit mir zusammen und wir plumpsten beide ins Meer. Das Wasser war kalt und aus meinem überraschten Geschrei wurde schnell ein Gurgeln.

Als ich wieder auftauchte, hustete ich Wasser und schnappte nach Luft. Zum Glück war das Wasser ziemlich ruhig – wenn auch eisig. Die Wellen waren harmlos. Ich rückte meine Brille zurecht, die ich erstaunlicherweise auf der Nase behalten hatte, und sah mich nach meinem Großvater um, der wenige Sekunden später auftauchte. Sein Schnurrbart hing patschnass herab und seine dünnen weißen Haarsträhnen klebten an seinem ansonsten kahlen Schädel.

»Widerspenstige Westerfields!«, rief er aus. »Das war aufregend, was, Junge?«

Meine Antwort war ein heftiges Bibbern.

»Also dann, mach dich bereit«, sagte Grandpa Smedry. Er sah ungewöhnlich müde aus.

»Bereit wofür?«, fragte ich.

»Ich lasse uns zu einem Teil dieses Absturzes zu spät kommen, Junge«, erwiderte Grandpa Smedry. »Aber ich kann ihn nicht völlig vermeiden. Und ich glaube nicht, dass ich das noch lange durchhalte.«

»Du meinst also …« Ich verstummte, als die Wucht des Aufpralls mir die Luft aus den Lungen presste. Ich war wieder im Meer gelandet und glitt tief ins Wasser, orientierungslos und frierend. Dann riss ich mich zusammen und kämpfte mich wieder hinauf zum glitzernden Licht. Ich streckte den Kopf aus dem Wasser und schnappte nach Luft.

Dann spürte ich den Aufprall erneut. Grandpa Smedry ließ uns in kleinen Schritten abstürzen, aber selbst die waren gefährlich. Als ich wieder unterging, sah ich kurz meinen Großvater, der versuchte, sich über Wasser zu halten. Er hatte ebenso zu kämpfen wie ich.

Ich fühlte mich nutzlos. Mit meinem Smedry-Talent müsste ich doch irgendetwas tun können. Alle sagten mir ständig, wie stark mein Bruchtalent war – und tatsächlich hatte ich damit schon einige erstaunliche Dinge vollbracht. Aber ich hatte meine besonderen Kräfte noch nicht so beneidenswert gut unter Kontrolle wie mein Großvater und meine Cousins.

Klar, ich wusste schließlich erst seit ungefähr vier Monaten, dass ich ein Smedry war. Aber es fällt schwer, nicht mit sich zu hadern, wenn man gerade ertrinkt. Da ich mir nicht anders zu helfen wusste, tat ich, was jeder vernünftige Mensch getan hätte: Ich kämpfte weiter um mein Leben. Und irgendwann wurde ich ohnmächtig.

Als ich wieder zu mir kam, lebte ich zum Glück noch, obwohl ein Teil von mir lieber tot gewesen wäre. Denn mir tat alles weh, als hätte man mich in einen Punchingball gestopft und diesen dann in einen großen Mixer geworfen. Ich stöhnte und öffnete die Augen. Eine schlanke junge Frau kniete neben mir. Sie hatte langes silbernes Haar und trug eine militaristische Uniform.

Sie sah verärgert aus. Mit anderen Worten, sie sah eigentlich aus wie immer. »Das hast du mit Absicht gemacht«, warf sie mir vor.

Ich setzte mich hin und hielt mir den Kopf. »Ja, Bastille. Ich versuche ständig zu sterben, nur um dir Unannehmlichkeiten zu bereiten.«

Sie musterte mich. Ich sah ihr an, dass ein kleiner Teil von ihr tatsächlich glaubte, dass wir Smedrys uns in Schwierigkeiten brachten, um ihr das Leben schwer zu machen.

Meine Jeans und mein T-Shirt waren immer noch patschnass und ich lag in einer Pfütze salzigen Meerwassers. Also war mein Absturz wohl noch nicht lange her. Über mir war der freie Himmel, und neben mir stand die Hawkwind auf ihrem einen verbliebenen Bein, an eine Mauer gelehnt. Ich blinzelte verwundert, als ich erkannte, dass ich mich oben auf einer Art Burgturm befand.

»Australia hat es geschafft, die Hawkwind so tief zu fliegen, dass sie euch aus dem Wasser fischen konnte«, sagte Bastille und beantwortete damit meine unausgesprochene Frage. Sie stand auf. »Wir rätseln noch, was die Explosion verursacht hat. Sie kam aus einer der Kabinen. Das ist alles, was wir wissen.«

Ich zwang mich, aufzustehen, und blickte zu dem silimatischen Fluggerät hinüber. Die Explosion hatte die ganze rechte Seite weggesprengt und die Kabinen freigelegt. Ein Flügel des Vogels war von Sprüngen durchzogen, und an seiner Brust fehlte ein großes Stück – die Glasplatte, mit der ich abgestürzt war.

Mein Großvater hockte an der Brüstung des Turms. Er winkte matt, als ich zu ihm hinüberblickte. Die anderen versuchten vorsichtig aus der Hawkwind zu klettern. Die Explosion hatte die Bordleiter zerstört.

»Ich gehe Hilfe holen«, sagte Bastille. »Schau nach deinem Großvater, und pass auf, dass du nicht vom Turm fällst oder so was, während ich weg bin.« Mit diesen Worten raste sie zu einer Treppe und verschwand im Turm.

Ich ging zu meinem Großvater hinüber. »Bist du in Ordnung?«

»Natürlich, Junge, natürlich.« Grandpa Smedry lächelte unter seinem nassen Schnurrbart hervor. Ich hatte ihn bisher erst ein Mal so müde gesehen; das war nach unserem Kampf gegen Blackburn gewesen.

»Danke, dass du mich gerettet hast«, sagte ich und setzte mich neben ihn.

»Ich habe mich nur revanchiert«, erwiderte Grandpa Smedry augenzwinkernd. »Bei dieser Bibliotheksinfiltration hast du schließlich mich gerettet.«

Das war zum großen Teil einfach nur Glück gewesen. Ich sah zur Hawkwind hinüber, aus dem die anderen immer noch herunterzuklettern versuchten. »Ich wünschte, ich könnte mit meinem Talent so gut umgehen wie du mit deinem.«

»Was? Du verstehst dein Talent doch schon sehr gut einzusetzen, Alcatraz. Ich habe gesehen, wie du diese Glasplatte zerschmettert hast, die an deinen Füßen hing. Ich hätte dich niemals rechtzeitig entdeckt, wenn du das nicht getan hättest! Deine Geistesgegenwart hat dir das Leben gerettet.«

»Ich habe versucht, mehr zu machen«, sagte ich. »Aber es hat nicht funktioniert.«

»Mehr?«

Ich lief rot an, weil ich mir plötzlich sehr dumm vorkam. »Ich wollte … na ja, ich dachte, wenn ich die Schwerkraft zerstören könnte, dann könnte ich fliegen.«

Grandpa Smedry lachte leise. »Soso, du wolltest also die Schwerkraft zerstören. Eine sehr kühne Idee. Wirklich sehr kühn und originell. Du bist eben ein echter Smedry! Aber ich würde sagen, das übersteigt sogar deine Kräfte. Stell dir das Chaos vor, wenn auf der ganzen Welt die Schwerkraft nicht mehr wirken würde!«

Das muss ich mir nicht vorstellen. Ich habe es erlebt. Aber dazu kommen wir noch. Später.

Ein Trappeln war zu hören, und endlich schaffte es jemand, aus der geborstenen Seite der Hawkwind auf den Turm herabzuspringen. Es war Draulin, Bastilles strenge Mutter, in ihrer silbern glänzenden Rüstung. Als Ritter von Crystallia – das war der Titel, den ihre Tochter unlängst verloren hatte – war sie in allem, was sie tat, ziemlich gut. Zum Beispiel darin, Smedrys zu beschützen, Dinge zu missbilligen und allen anderen das Gefühl zu vermitteln, Versager zu sein.

Vom Boden aus half sie den beiden anderen von Bord. Australia Smedry, meine Cousine, war eine mollige sechzehnjährige Mokianerin. Sie trug ein buntes Kleid, das eher wie ein Sack aussah, und hatte – wie ihr Bruder – braune Haut und dunkles Haar. (Die Mokianer sind mit dem schweigeländischen Volk der Polynesier verwandt.) Kaum war sie auf dem Boden gelandet, eilte sie zu Grandpa Smedry und mir herüber.

»Oh, Alcatraz, bist du in Ordnung?«, fragte sie. »Ich habe dich gar nicht fallen sehen. Ich war zu sehr mit der Explosion beschäftigt. Hast du sie mitbekommen?«

»Aber natürlich, Australia«, erwiderte ich. »Sie hat mich schließlich von der Hawkwind gefegt.«

»Ach ja, richtig«, sagte sie und wippte auf ihren Fersen auf und ab. »Wenn Bastille nicht hingeschaut hätte, hätten wir nie gesehen, wo du aufgetroffen bist! Es hat doch nicht allzu sehr wehgetan, als ich dich hier oben auf dem Turm abgesetzt habe, oder? Ich musste dich mit dem Fuß der Hawkwind aus dem Wasser fischen und dann hier ablegen, damit ich landen konnte. Der Vogel hat inzwischen nur noch ein Bein. Ich weiß nicht, ob du das bemerkt hast.«

»Klar«, sagte ich müde. »Die Explosion, erinnerst du dich?«

»Natürlich erinnere ich mich, Dummerchen!«

Das war typisch Australia. Sie ist nicht dumm, sie vergisst nur immer wieder, ihren Verstand einzuschalten.

Der letzte Fluggast, der aus der Hawkwind kletterte, war mein Vater. Attica Smedry war ein hochgewachsener Mann mit einer wilden Mähne. Er trug eine rötlich getönte Brille mit Okulatorenlinsen, die bei ihm irgendwie gar nicht so rosa und albern wirkte wie bei mir.

Er kam zu Grandpa Smedry und mir herüber. »Wie ich sehe, haben wir es alle heil überstanden«, sagte er. »Das ist wunderbar.«

Einen Augenblick lang sahen wir einander verlegen an. Mein Vater schien nicht zu wissen, was er noch sagen sollte, als würde es ihn verunsichern, sich wie ein Vater verhalten zu müssen. Er wirkte erleichtert, als Bastille die Treppe heraufgestürmt kam, gefolgt von einer ganzen Heerschar von Leuten in Tuniken und Strumpfhosen – das war die übliche Kleidung der Freien Untertanen.

»Ah, sehr gut! Die Dienerschaft weiß sicher, was zu tun ist. Ich bin froh, dass du unverletzt bist, mein Sohn«, sagte mein Vater und lief schnell auf die Treppe zu.

»Lord Attica!«, rief einer der Diener. »Sie sind zurückgekehrt, nach so langer Zeit!«

»Ja, ich bin wieder da«, erwiderte mein Vater. »Meine Gemächer müssen sofort hergerichtet werden und lasst mir ein Bad einlaufen. Unterrichtet den Rat der Könige, dass ich mich bald in einer sehr wichtigen Angelegenheit an ihn richten werde. Und informiert die Zeitungen, dass ich für Interviews zur Verfügung stehe.« Er zögerte. »Oh, und kümmert euch um meinen Sohn. Er braucht, ähm, Kleidung und solche Sachen.«

Er verschwand die Treppe hinunter. Eine Dienerschar wuselte ihm hinterher. Ich stand auf und fragte Australia: »Sag mal, warum sind sie denn so dienstbeflissen?«

»Sie sind seine Lakaien, Dummerchen. Wie sollten sie denn sonst sein?«

»Seine Lakaien?«, fragte ich und ging zur Brüstung hinüber, um das Gebäude, zu dem der Turm gehörte, besser sehen zu können. »Wo sind wir?«

»Auf der Burg Smedry natürlich, auf dem Hauptturm«, erwiderte Australia. »Äh … wo sollten wir denn sonst sein?«

Ich blickte hinaus über die Stadt und erkannte, dass die Hawkwind auf einem Turm der mächtigen schwarzen Burg gelandet war, die ich vorhin gesehen hatte. Burg Smedry! Völlig perplex fragte ich meinen Großvater: »Wir haben eine eigene Burg?«

Die paar Minuten Erholung hatten ihm gutgetan. Er hatte wieder dieses Funkeln in den Augen, als er aufstand und seinen durchnässten Smoking abklopfte. »Selbstverständlich, Junge! Wir sind Smedrys!«

Smedrys. Ich verstand immer noch nicht so recht, was das bedeutete. Zu eurer Information, es bedeutete … ach, das werde ich im nächsten Kapitel erklären. Ich bin jetzt zu faul dafür.

Einer der Diener, eine Art Arzt, begann Grandpa Smedry abzutasten. Er sah ihm in die Augen und forderte ihn auf, rückwärts zu zählen. Mein Großvater wollte sich der Untersuchung entziehen, aber dann sah er Bastille und Draulin Seite an Seite dastehen, mit verschränkten Armen und entschlossenen Mienen. Ihre Haltung signalisierte, dass Grandpa Smedry und ich auf jeden Fall untersucht werden würden, selbst wenn unsere Ritter uns dazu an den Füßen aufhängen müssten.

Ich seufzte und lehnte mich gegen die Brüstung zurück. »He, Bastille«, sagte ich, als ein paar Diener mir und Grandpa Smedry Handtücher brachten.

»Was ist?«, fragte sie und kam herüber.

»Wie bist du da runtergekommen?«, fragte ich und deutete mit dem Kopf zur havarierten Hawkwind hinüber. »Alle anderen saßen drinnen fest, als ich aufgewacht bin.«

»Ich …«

»Sie ist einfach rausgesprungen!«, verkündete Australia. »Draulin hat gesagt, dass das gesprungene Glas gefährlich sei und dass wir es erst testen müssten. Aber Bastille ist einfach draufgesprungen!«

Bastille schoss Australia einen wütenden Blick zu, aber die junge Mokianerin redete unbeirrt weiter. »Sie muss sich wirklich Sorgen um dich gemacht haben, Alcatraz. Sie ist sofort rüber an deine Seite gerannt. Ich …«

Bastille versuchte Australia unauffällig auf den Fuß zu treten.

»Oh! Zertrampeln wir Ameisen?«, fragte Australia.

Zu meiner Überraschung errötete Bastille. Schämte sie sich, weil sie ihrer Mutter nicht gehorcht hatte? Sie gab sich solche Mühe, es Draulin recht zu machen, obwohl es unmöglich schien, diese Frau zufriedenzustellen. Ich meine, Bastille konnte unmöglich aus Sorge um mich aus der Hawkwind gesprungen sein. Mir war vollauf bewusst, wie nervtötend sie mich fand.

Und wenn sie sich doch Sorgen um mich gemacht hatte? Was würde das bedeuten? Plötzlich merkte ich, dass ich auch rot wurde.

Jetzt werde ich alles tun, was in meiner Macht steht, um euch von diesem letzten Absatz abzulenken. Ich hätte ihn gar nicht schreiben sollen. Ich hätte besser den Mund gehalten. Ich hätte meine geistigen Muskeln anspannen und aufhören sollen, im Schneckentempo zu denken.

Habe ich schon erwähnt, was für ein Stockfisch ich manchmal sein kann?

Im selben Augenblick kam Sing die Treppe heraufgepoltert und rettete Bastille und mich aus unserer Verlegenheit. Sing Sing Smedry, mein Cousin und Australias älterer Bruder, war ein Koloss von einem Mann. Fast zwei Meter groß und sehr kräftig gebaut. (Das klingt netter als zu sagen, dass er ziemlich dick war.) Der Mokianer hatte das Smedry-Talent, zu stolpern und hinzufallen – und genau das tat er, als er aus dem Treppenschacht heraustrat.

Ich schwöre, dass ich spürte, wie die Steine des Turms bebten. Wir duckten uns alle und blickten uns nervös um, denn gewöhnlich aktiviert sich Sings Talent, wenn ihm Gefahr droht. Doch in dem Augenblick war keine zu erkennen. Sing sah sich um, stand auf und eilte auf mich zu. Er zog mich aus der Hocke hoch und erdrückte mich fast, als er mich in seine Arme schloss.

»Alcatraz!«, rief er aus. Er streckte einen Arm aus, packte Australia und umarmte sie ebenfalls. »Ihr müsst unbedingt die Abhandlung lesen, die ich über die Handels- und Reklamepraktiken in den Ländern des Schweigens geschrieben habe! Sie ist hochinteressant!«

Sing war nämlich Anthropologe. Sein Fachgebiet waren schweigeländische Kulturen und Waffen, aber wie es aussah, hatte er sich diesmal zum Glück keine Schusswaffen umgeschnallt. Die meisten Freien Untertanen, denen ich bisher begegnet war – besonders die Mitglieder meiner Familie – fanden es tatsächlich aufregend, eine anthropologische Studie zu lesen. Jemand müsste ihnen mal Videospiele zeigen.

Sing ließ uns endlich los, wandte sich Grandpa Smedry zu und verneigte sich kurz. »Lord Smedry«, sagte er, »wir müssen reden. Während deiner Abwesenheit gab es Ärger.«

»Es gibt immer Ärger, wenn ich weg bin«, sagte Grandpa Smedry. »Aber auch oft, wenn ich da bin. Was ist es diesmal?«

»Die Bibliothekare haben eine Gesandte zum Rat der Könige geschickt«, erklärte Sing.

»Soso«, sagte Grandpa Smedry leichthin. »Ich hoffe, der Hintern dieser Gesandten hat nicht zu viele Tritte abbekommen, als Brig sie aus der Stadt geworfen hat.«

»Der Hochkönig hat die Gesandte nicht ausgewiesen, Mylord«, sagte Sing leise. »Tatsächlich denke ich, dass sie einen Vertrag unterzeichnen werden.«

»Unmöglich!«, warf Bastille ein. »Der Hochkönig würde sich niemals mit den Bibliothekaren verbünden!«

»Knappe Bastille«, fauchte Draulin, die mit den Händen auf dem Rücken stocksteif dastand. »Maße dir nicht an, deinen Vorgesetzten zu widersprechen!«

Bastille errötete und blickte zu Boden.

»Sing, was steht in diesem Vertrag bezüglich der Kämpfe in Mokia?«, fragte Grandpa Smedry mit eindringlicher Stimme.

Sing blickte zur Seite. »Ich … also … nach dem Vertrag würde Mokia an die Bibliothekare fallen. Dafür wären sie bereit, den Krieg zu beenden.«

»Debattierende Dashner!«, rief Grandpa Smedry aus. »Wir kommen zu spät! Wir müssen etwas unternehmen!« Er hastete über die Plattform des Turms und die Treppe hinunter.

Wir anderen blickten einander an.

»Wir müssen mit verwegener Kühnheit und dramatischer Überzeugungskraft handeln!«, hallte Grandpa Smedrys Stimme von den Wänden des Treppenschachts wider. »Aber das ist Art der Smedrys!«

»Wir sollten ihm wohl folgen«, sagte ich.

»Ja. Er regt sich furchtbar auf«, sagte Sing und blickte sich um. »Wo ist Lord Kazan?«

»Ist er nicht hier?«, fragte Australia. »Er hat uns doch die Hawkwind geschickt.«

Sing schüttelte den Kopf. »Kaz ist vor ein paar Tagen abgereist. Er sagte, er wollte zu euch zurück.«

Australia seufzte. »Sein Talent muss ihn irgendwohin verschlagen haben. Er könnte überall sein.«

»He, hallo?« Grandpa Smedrys Kopf tauchte aus dem Treppenschacht auf. »Jammernde Jonasse! Leute, wir müssen eine Katastrophe abwenden. Also bewegt euch!«

»Ja, Lord Smedry«, sagte Sing und watschelte hinüber. »Aber wo gehen wir hin?«

»Schick nach einem Krabbler«, sagte der alte Okulator. »Wir müssen zum Rat der Könige.«

»Aber … der tagt gerade!«

»Umso besser«, sagte Grandpa Smedry und hob theatralisch eine Hand. »Das macht unseren Auftritt um einiges interessanter!«