Kapitel 26
»Kannst du mir erklären, welchen Sinn das haben soll?« fragte Untersuchungsführer Tschernow Major Kusmenko. »Na schön, die Bar ›Zum Weißen Kaninchen‹, das verstehe ich, das mußte man überprüfen. Aber wieso warst du bei der Alten in der Klapsmühle?«
»Das mußte ich auch überprüfen«, erwiderte Kusmenko matt.
»Na, und was hat’s gebracht?« Tschernow grinste spöttisch. »Du bist mir ein Gewissenhafter … Hast du noch nicht genug aussichtslose Fälle?«
»Hör schon auf«, wehrte Kusmenko ab, »das weiß ich alles selber. Aber mit der Alten mußte ich wirklich sprechen. Übrigens ist sie gar nicht so verrückt, wie es scheint. Was sie über das Foto in dem Boulevardblättchen ›Kiss‹ gesagt hat, stimmte genau. Ich hab’s mir rausgesucht. Die Oma hatte den Artikel fast wortwörtlich im Kopf. Mit ihrem Gedächtnis ist also alles in Ordnung.«
»Und was folgt daraus? Selbst wenn sie sich diesen Burschen mit der Ledermütze nicht ausgedacht hat, selbst wenn er die Schublade, in der die Pistole lag, geöffnet hat – trotzdem hat sie nicht gesehen, daß er sie genommen hat. Und wer soll sie später wieder zurückgelegt haben? Ja, wenn du diesen Petrow selber ausfindig machen und ihm das Messer an die Kehle setzen könntest, wenn du irgendeine direkte Verbindung zu Täuberich oder zu dem spurlos verschwundenen Fürst Nodar entdecken würdest, dann … A propos, gibt es in dieser Sache was Neues?«
»Nichts. Totenstille. Das Täubchen ist nach Sotschi in den Herbsturlaub geflogen. Da hat es eine eigene Villa. Vom Fürsten keine Spur. Und was diesen Petrow betrifft – auch da war ich nicht faul, habe mich mit allen möglichen Fonds und Komitees in Verbindung gesetzt, die theoretisch solche Unterstützungen verteilen könnten.«
»Und natürlich ist alles ein Bluff. Humanitäre Hilfe aus Amerika ist schon lange nicht mehr eingetroffen, und Jungs in Lederkäppis und mit roten Büchlein pilgern auch nicht von Wohnung zu Wohnung.«
»Genau«, sagte Kusmenko, »so ist es. Aber überleg mal, wer hatte das alles nötig – Geld auszugeben, Lebensmittel zu kaufen und zu übergeschnappten Omas zu gehen? Und das rote Büchlein mußte man ja auch im voraus anfertigen. Soviel Aufwand! Wozu?«
»Bist du ganz sicher, daß die Alte diese rührende Geschichte nicht von A bis Z erfunden hat? Sie will schließlich nach Hause, und da hat sie sich einfach ein Alibi für ihre Enkelin ausgedacht.«
»Zu viele Einzelheiten.« Kusmenko lehnte sich zurück und zündete sich eine Zigarette an. »Eine so lebhafte Phantasie hat die Oma nicht, um sich so viele Details auszudenken. Und außerdem, wenn sie lügen würde, dann würde sie garantiert sagen, sie hätte mit eigenen Augen gesehen, wie die Pistole herausgenommen wurde.«
»Weißt du«, sagte Tschernow nachdenklich, »ich habe das Gefühl, wir dreschen hier leeres Stroh. Im Prinzip können wir die Sache mit reinem Gewissen ans Gericht geben.«
»Wirklich?« Kusmenko kniff die Augen zusammen. »Bist du hundertprozentig überzeugt, daß die Guskowa Kalaschnikow erschossen hat?«
»Nein. Aber nicht, weil es zu wenig Beweise gibt oder weil ich mir kein Bild von der Tat machen kann. Es ist nur einfach alles ein wenig ungewöhnlich und seltsam. Psychologisch will es einem nicht in den Kopf, daß ein Geschäftsmann und Casinobesitzer, der tief ins Banditenmilieu verstrickt ist, nicht von einem bezahlten Killer um die Ecke gebracht wird, den ein Konkurrent oder ein Gläubiger engagiert hat, sondern von der eigenen Geliebten. Andererseits, das Leben steckt voller Seltsamkeiten. Und es ist ja alles durchaus erklärbar und logisch. Sie hat bis zum letzten Moment nicht gewußt, daß sie schießen würde. Aber als sie gesehen hat, wie die beiden sich vor dem Haus umarmten, ist es mit ihr durchgegangen. Und gezielt hat sie höchstwahrscheinlich auf die Orlowa. Erstaunlich, daß sie überhaupt getroffen hat.«
»Ja, erstaunlich. Jemand, der gar nicht richtig schießen kann, trifft wie ein Scharfschütze mit einem einzigen Schuß tödlich, allerdings, zugegeben, die falsche Person. Und dann rennt er in Panik zur Metro, fährt nach Hause, legt die Pistole zurück in die Schublade und lebt weiter, als wenn nichts gewesen wäre.«
»Eben.« Tschernow nickte energisch. »Ich kann da keine Widersprüche sehen. Auf der einen Waagschale haben wir die Pistole, ein Motiv, das Fehlen eines Alibis und das Tagebuch des unglücklichen Grischetschkin. Und was ist auf der anderen? Das Gespräch mit der verrückten Alten? Irgendein unklares Gefühl, daß etwas nicht stimmt? Für das Gericht kein Argument. Und was die Alte angeht – auch wenn sie noch so normal ist, für ihre Enkelin würde sie uns alles mögliche vorfaseln, daß jemand die Pistole erst gestohlen und dann heimlich wieder zurückgebracht hat. Und was ist mit den Anrufen? Die anonymen Anrufe und die blödsinnige Geschichte mit den Holzspänen im Kopfkissen? Das paßt doch alles klar in ein und dasselbe Schema. Wohin du auch stößt – überall Beweise, direkte, indirekte, alles da.«
»Reichlich viel Beweise«, murmelte Kusmenko. »Man braucht gar nicht zu suchen, alles wird einem auf dem Silbertablett serviert: guten Appetit, meine Herrschaften, hier haben Sie den Mörder.«
»Nun hör aber auf, Iwan«, sagte Tschernow und runzelte die Stirn, »wirklich, wer soll es denn sonst sein?«
***
Es läutete an der Haustür. Im ersten Moment glaubte Katja, es sei wieder ihr Handy. Es war schwer, sich aus dem tiefen, festen Schlaf zu lösen. Aber das hartnäckige Klingeln wollte nicht verstummen. Schließlich öffnete sie die Augen und schaute auf die Uhr. Es war schon zehn, und da fielen ihr Lunjok und Mitjai wieder ein. Sie stand auf, schlurfte barfuß in die Diele und nahm den Hörer der Sprechanlage ab.
»Hier ist Mitjai«, brummte eine unzufriedene Männerstimme.
»Ach ja, guten Morgen. Warten Sie bitte im Auto auf mich. Ich komme in einer Viertelstunde runter.«
»Gut. Es ist der rote Jeep Cherokee, Kennzeichen 458 MJu.«
Während Katja sich wusch, die Zähne putzte und sich fertig machte, versuchte sie ihre Gedanken zu ordnen.
Sie hoffte, heute etwas Wichtiges über Sweta Petrowa zu erfahren. Sweta war tot. Mülleimer-Boris, der wahrscheinlich den Mörder gesehen hatte, war tot. Sweta hatte man erwürgt und einen Raubmord vorgetäuscht. Boris war an Vergiftung durch Methylalkohol gestorben. Das hatte der Notarzt gesagt.
In der Nacht oder eigentlich schon gegen Morgen, vor wenigen Stunden erst, war zusammen mit dem Notarzt auch die Miliz erschienen. Auf Katjas Frage, ob es sich hier vielleicht um Mord handeln könne, hatte der untersetzte Hauptmann eigenartig reagiert. Er maß Katja mit einem hochmütigen, vernichtenden Blick, schnaubte, spuckte auf den Asphalt und äußerte: »Von mir aus können die alle krepieren.«
»Du stinkender Bock! Du Drecksack!« schrie Siwka empört, die noch immer an der gleichen Stelle stand und monoton schluchzte.
»Was hast du gesagt?« Der Hauptmann ging auf Siwka zu. »Den Bock wirst du mir jetzt gleich …«
»Lassen Sie sie in Frieden«, unterbrach ihn Katja und stellte sich schützend vor die Stadtstreicherin.
»Mischen Sie sich gefälligst nicht ein, gehen Sie nach Hause!« schnauzte der Hauptmann sie an.
»Schweine seid ihr alle, ich hasse euch!« Siwka regte sich ernsthaft auf und kreischte so laut, daß es über den ganzen Hof schallte.
Grob, mit Püffen und unter scheußlichem Fluchen wurde sie in den Wagen der Miliz gestoßen. Katja sah zum ersten Mal in ihrem Leben eine solche Szene. Die schmutzige, unglückliche Frau tat ihr leid. Wahrscheinlich hatte sie ihren Boris geliebt. Zu gern hätte sie dem dicken Milizhauptmann, dem alles so egal war, etwas Scharfes, Kränkendes an den Kopf geworfen. Immerhin war ein Mensch gestorben! Und ein anderer Mensch weinte um ihn. Warum macht es dir solchen Spaß, diese betrunkene Frau arrogant zu behandeln? Laß sie in Ruhe. Laß sie schreien und weinen, bis sie müde ist, statt sie zu schlagen, noch dazu mit so offenkundigem Vergnügen, im Bewußtsein deiner Macht, deiner moralischen und physischen Überlegenheit. Ja, es sind Penner, ja, sie stinken. Aber trotzdem sind es Menschen.
Doch Katja sagte nichts von alledem. Sie wandte sich schweigend um und stolperte auf den Hauseingang zu. Es schüttelte sie vor Kälte, und das Bewußtsein, daß sie geschwiegen hatte und nicht für die unglückliche Frau eingetreten war, verursachte ihr Übelkeit. Natürlich hätte ihre Fürsprache nichts geändert, aber trotzdem …
Vor der Unterredung mit Lunjok mußte sie sich sammeln und zur Ruhe kommen. Wenn sie sich dafür entschied, das Casino zu übernehmen, war dieses Gespräch doppelt wichtig. Es hing viel davon ab, wie sie sich von Anfang an behauptete.
Lunjok erwartete sie in seinem Bürohaus, einer Villa in Sokolniki. Im Wohnzimmer standen auf dem Couchtisch eine Schale mit Obst und ein Aschenbecher.
»Hallo, du Schlafmütze. Möchtest du frühstücken?« Lunjok stand auf, kam ihr entgegen und küßte sie auf die Wange.
»Gern«, sagte Katja und setzte sich in einen tiefen Polstersessel.
Lunjok schnalzte mit den Fingern, und eine Minute später rollte ein älterer, kahlgeschorener Mann, den Katja noch nie gesehen hatte, einen Servierwagen herein. Darauf stand eine große, dampfende Silberkanne mit Kaffee, hohe Gläser mit eiskaltem Orangensaft, Teller mit Toast, Käse, Schinken, Schälchen mit schwarzem und rotem Kaviar.
»Na, hast du über unser Gespräch nachgedacht?« fragte Lunjok und goß den Kaffee ein. »Bist du bereit, die einzige Erbin zu werden? Oder hast du noch Zweifel?«
»Ehrlich gesagt, ja«, gestand Katja. »Erstens verstehe ich überhaupt nichts vom Glücksspielgeschäft. Zweitens hänge ich sehr an meinem Ballett. Und drittens begreife ich nicht ganz, warum man nicht einfach alles durch drei teilt, wie es vom Gesetz vorgesehen ist. Kurz gesagt, warum gerade ich?«
»Ich werde dir der Reihe nach antworten«, sagte Lunjok lächelnd. »Was das Glücksspielgeschäft betrifft, so verstand dein Mann am Anfang auch nichts davon. Aber er hat es recht schnell gelernt. Weiter. Du liebst das Ballett und weißt, wenn du das Casino übernimmst, wirst du nicht mehr tanzen können. Aber verstehst du, wenn du das Casino ablehnst, kann niemand dir garantieren, daß dein Theater nicht Pleite macht. Natürlich ist das Ballett eine wunderbare Sache, aber es bringt nichts ein, es kostet nur. Die Kosten würde ich aus Sympathie für dich ja übernehmen. Aber was die Möglichkeit zu tanzen angeht – entschuldige, aber du bist keine zwanzig mehr. Ich bin kein Fachmann, aber ich weiß, eine Ballettkarriere ist kurz. Wie lange wirst du dich noch als Primaballerina halten können? Du mußt an die Zukunft denken. Und zum Schluß die Hauptsache. Warum gerade du? Kalaschnikow senior besitzt, wie dir bekannt ist, bereits einen bestimmten Aktienanteil. Wenn dazu noch ein Drittel aus dem Anteil von Gleb hinzukommt, ist das sehr viel. Und ich fürchte, es wird noch mehr werden, denn Kalaschnikow wird es nicht schwerfallen, Nadeshda Petrowna zu überreden, ihm ihr Drittel abzutreten. Dann befänden sich achtzig Prozent der Aktien in einer Hand. Bei allem Respekt für Konstantin Iwanowitsch, ich bin nicht sicher, ob er der Versuchung widerstehen kann, sich alles unter den Nagel zu reißen und sich meiner Kontrolle zu entziehen. Seine junge Frau ist auch keine Kostverächterin, im Gegenteil. Ein ganz gewieftes Ding ist sie. Die beiden stehen sich in nichts nach. Aus diesen zwei Möglichkeiten – sie oder du – habe ich dich gewählt. Drücke ich mich verständlich aus?«
»Völlig.«
»Iß, solange der Toast noch warm ist.«
Katja machte sich ein Brot mit schwarzem Kaviar. Sie hatte wirklich Hunger.
»Also«, fuhr Lunjok fort, »die prozentuale Verteilung, wie sie vor Glebs Tod existierte, war für mich optimal. Du bist ein nüchterner, besonnener Mensch ohne unvorhersehbare Launen. In gewissem Sinne bist du mir als Geschäftspartnerin sogar noch lieber als Gleb. Du wirst dir keine verrückten Liebhaber zulegen, dich nicht betrinken und randalieren. Überhaupt bist du mir menschlich sehr sympathisch. Das Image des Casinos kann sich nur verbessern, wenn die Chefin eine junge schöne Frau mit hervorragendem Benehmen, untadeligem Ruf und der stolzen Haltung einer Tänzerin ist. Hast du immer noch Zweifel?«
»Nein, ich habe keine Zweifel mehr.« Sie blickte ruhig in seine graugelben Augen. »Nur eine Bedingung.«
»Welche?« Er zog kaum merklich die Brauen hoch.
»Du hilfst mir, den Mörder meines Mannes zu finden.«
»Aber das ist doch schon alles geklärt.« Er lächelte sorglos. »Das habe ich dir doch schon bei der Beerdigung gesagt. Olga Guskowa, die letzte Liebe deines Mannes, ist als Tatverdächtige verhaftet worden. Wobei allerdings vermutet wird, daß sie auf dich gezielt hat. Du verstehst, ich habe meine Informanten.«
»Du hast deine Informanten, und ich habe zwei Leichen in vierundzwanzig Stunden«, sagte Katja.
»Wie – zwei? Gestern abend war es doch erst eine. Sweta Petrowa. Übrigens, ich habe mich heute morgen erkundigt, es handelt sich wirklich nur um einen banalen Raubmord.«
»Es gab noch eine weitere Leiche. Heute nacht«, sagte Katja mit nervösem Lächeln. »Ein Stadtstreicher ist bei uns im Hof an Methylalkoholvergiftung gestorben.«
»Du mußtest hoffentlich nicht schon wieder ins Leichenschauhaus?«
»Nein.« Katja schüttelte den Kopf. »Ich mußte nur den Notarzt rufen. Aber die Sache ist die, dieser Stadtstreicher hatte gesehen, wer auf Gleb geschossen hat.«
Lunjok starrte Katja mit seinen graugelben kalten Augen an. Seine Hand mit dem Kaviartoast blieb in der Luft vor seinem Mund stehen.
»Am Sonntag waren den ganzen Tag Leute vom Fernsehen bei uns auf dem Hof. Während sie auf mich gewartet haben, haben sie aus irgendeinem Grund diesen Stadtstreicher, Boris, gefilmt. Er wohnte in unserem Block und hatte die Angewohnheit, nachts herumzustreunen. Und da kam mir die Idee – vielleicht hat er in jener Nacht etwas bemerkt? Die Miliz fürchtet er wie der Teufel das Weihwasser, aber das Fernsehen ist eine ganz andere Sache. Die können ihn für eine Information bezahlen, und so hat er wohl beschlossen, sich etwas Geld zu verdienen. Ich weiß nicht, ob er ihnen etwas Konkretes gesagt hat, das müßte man sie fragen. Es war so ein widerlicher kleiner Skandalreporter namens Siwolap und mit ihm noch ein Kameramann. Mit Boris selber konnte ich nur kurz und nicht bis zu Ende sprechen. Aber ich habe soviel erfahren, daß er tatsächlich den Mörder gesehen hat. Es war eine Frau.«
»Na, das ist auch ohne deinen Penner klar.« Valera biß endlich in seinen Toast. »Die Ermittler haben keine Zweifel mehr. Ich übrigens auch nicht.«
»Ich schon.« Katja zog zwei Kassetten aus ihrer Handtasche und legte sie auf den Tisch.
Als Lunjok die Aufzeichnung des ersten Gesprächs hörte, wurde er augenblicklich finster.
»Das ist Sweta Petrowa. Die, die auf der Baustelle erwürgt wurde«, erklärte Katja. »Sie hat zwei Wochen vor Glebs Tod das erste Mal angerufen. Ich weiß nicht, ob sie Olga Guskowa kannte. Möglich wäre es natürlich, und es kann auch sein, daß es Olga war, die sie gebeten hat, bei mir anzurufen, und die sie dann später, als sie die Gefahr spürte, als Zeugin aus dem Weg geräumt hat. Aber ich bin so gut wie sicher, daß es nicht so war.«
»Und warum bist du so sicher?« sagte Lunjok langsam.
»Hör dir erst noch die zweite Kassette an.«
»Ja und?« fragte er, als die Stimmen auf dem Band verklungen waren. »Ich verstehe natürlich, es ist widerlich, sogar mir wird übel. Aber du bist eine starke Frau, du stehst das durch.«
»Das schon«, sagte Katja, »nur kam der zweite Anruf, als Olga schon in Untersuchungshaft saß und Sweta Petrowa bereits tot war. Wenn du noch mal aufmerksam hinhörst, wirst du merken, es ist eine andere Stimme. Ähnlich wie Swetas Stimme, aber sie ist es nicht. Und sie konnte es ja auch gar nicht sein. Am Samstagabend ist sie ermordet worden. Und der Anruf kam in der Nacht nach dem Begräbnis, am Montag.«
»Bitte nicht noch einmal, ein zweites Mal höre ich mir diesen Schmutz nicht an. Überhaupt, Katja, vergiß es. Gewöhnliche weibliche Gehässigkeit. Weißt du, was mir an dir immer gefallen hat? Daß du so gar nichts Zickiges hast. Unter euch Frauen gibt es nur wenige, die fremde Schönheit oder fremden Erfolg verzeihen können. Versuch nur mal, in Gegenwart einer Frau ein gutes Wort über eine andere Frau zu sagen! Sie wird Gift und Galle spucken. Im Straflager wird ein hübsches Ding von den anderen Frauen schon mal mit der Rasierklinge traktiert. Aber auch über dein Ballett ist mir so einiges zu Ohren gekommen. A propos, wo wir schon von den schönen Künsten sprechen, bei Puschkin zum Beispiel im ›Märchen von der toten Zarentochter‹ dreht sich alles um weibliche Mißgunst. ›Bin ich wohl die allerschönste, lieblichste und angenehmste?‹ Und wenn ich’s nicht bin, dann stampfe ich die andere in Grund und Boden, werfe sie den wilden Tieren zum Fraß vor, vergifte sie, ertränke sie … In einem anderen seiner Märchen ist die Schöne ja wirklich ertränkt worden. Weißt du noch, die Weberin und die Köchin im ›Märchen vom Zaren Saltan‹? Ich war so ein Dreikäsehoch, als mir meine Großmutter das vorgelesen hat, und du siehst, ich weiß es bis heute.« Lunjok lehnte sich im Sessel zurück und kniff die Augen seltsam zusammen, wie eine Katze. »Puschkin hat viele kluge Sachen geschrieben. Leider habe ich niemanden, mit dem ich mich darüber unterhalten kann. Wir sollten uns öfter treffen, Katja. Nicht nur geschäftlich, auch so, von Mensch zu Mensch.«
Katja machte dieser letzte Satz ein wenig stutzig. Sie hatte schon vor geraumer Zeit gemerkt, daß Lunjok sie nicht nur als Ehefrau seines Freundes und Geschäftspartners sympathisch fand, nicht nur als begabte Tänzerin, sondern auch einfach als Frau. Nicht daß ernste Absichten dahinter gestanden hätten, Gott bewahre. Solange Gleb am Leben gewesen war, hatte Valera höfliche Distanz gewahrt. Aber jetzt machte er plötzlich den sanften, vorsichtigen Versuch, ein Territorium zu betreten, das früher in ihren Beziehungen tabu war.
»Hör mal, Valera, ich hab vergessen, dich zu fragen«, sagte sie nach einer kleinen Pause, »du hast gestern davon gesprochen, daß du Sweta Petrowa gekannt hast. Darf ich fragen, woher?«
»Gekannt ist ein bißchen viel gesagt. Ich habe sie ein paarmal gesehen und ihren Namen gehört.«
»Genauer kannst du dich nicht erinnern?«
»Genauer möchte ich nicht«, sagte er lächelnd und schüttelte den Kopf.
»Warum nicht?«
Lunjok zündete sich eine Zigarette an und maß Katja mit einem langen, abschätzenden, typisch männlichen Blick.
»Katja, erklär mir mal eins«, sagte er nach langem Schweigen sanft, etwas gedämpft. »Du bist eine schöne, kluge Frau. Deinetwegen kann man glatt den Kopf verlieren. Warum gerätst du nur immer an Männer, die …«
»Valera, bitte nicht«, unterbrach Katja ihn mit gerunzelter Stirn. »Ich habe dich sehr gut verstanden, aber ich möchte darüber nicht sprechen. Gleb …«
»Ich rede nicht von Gleb«, fiel Lunjok ihr ins Wort, »ich spreche von deiner ersten Liebe. Was war das übrigens für eine Geschichte letzten Winter auf Teneriffa?«
Katja wunderte sich überhaupt nicht, daß Lunjok auch das wußte. Wie hatte er doch gestern am Telefon gesagt: »Dein Leben liegt klar auf der Hand.«
»Ach, du meinst Barinow? Da gab’s keine Geschichte. Wir haben uns zufällig getroffen.«
»Gleb kam aus dem Urlaub mürrisch und genervt zurück und hat den Präsidentenberater ein Schwein genannt. Doch wohl nicht ohne Grund?«
»Wieso kommst du jetzt darauf?« Katja zog erstaunt die Brauen hoch. »Ich frage dich nach Sweta Petrowa, und du redest plötzlich von Barinow und Teneriffa. Ich sehe da keinen Zusammenhang.«
»Der Zusammenhang ist der, daß Sweta Petrowa fünf Jahre lang deinen Märchenprinzen Barinow verwöhnt hat. Ich wollte es dir nicht sagen, aber jetzt hast du es selber aus mir herausgeholt. Damals warst du noch ein kleines Mädchen, aber jetzt bist du eine erwachsene Frau, noch dazu eine völlig ungebundene. Zieh deine Schlüsse, um die Fehler der Vergangenheit nicht wieder zu begehen. Du brauchst einen richtigen Mann, der stark und zuverlässig ist. Dir wird demnächst ein bedeutendes Unternehmen gehören, und da wird es viele geben, die gerne … Na, lassen wir das, entschuldige, wenn ich mich in Dinge mische, die mich nichts angehen.« Wieder kniff er listig, wie eine Katze, die Augen zusammen.
»Nicht doch, warum?« Katja lächelte. »Wir sind jetzt Geschäftspartner, und da kann ich durchaus verstehen, daß es dir nicht egal ist, wer an meiner Seite sein wird.«
»Richtig«, bestätigte Lunjok, »das ist mir nicht egal. Übrigens, dein Dubrowin ist ein erstklassiger Programmierer. Allerdings hat er sich eine Kleinigkeit zuschulden kommen lassen, hat sich ein paar äußerst unangenehme Viren ausgedacht. Es gab einigen Ärger, aber vor Gericht ist die Sache nicht gekommen. Sowas ist ja strafbar … Aber Schwamm drüber, das ist lange her.« Lunjok winkte nachlässig ab. »Er hat es nicht aus Gewinnsucht getan. Nur so zum Vergnügen. Weißt du übrigens, wer die Firma kontrolliert, in der er arbeitet? Skelett. Das ist eine ›Autorität‹ aus dem Kaukasus, ein schlauer alter Schakal. Liebt Täuberich wie seinen eigenen Sohn. Wer Täuberich ist, das weißt du doch, hoffe ich?«
»Ja, natürlich.« Katja lächelte ruhig. »Und was folgt daraus?«
»Vorläufig nichts.« Lunjok zuckte die Achseln. »Wir überprüfen das noch. Hör mal, ist das eine ernste Sache mit ihm?«
»Es gibt gar keine Sache mit ihm. Vorläufig jedenfalls nicht, weiter wird man sehen. Ehrlich gesagt, ich weiß es selber nicht.« Katja warf einen Blick auf ihre Uhr und erhob sich. »Ich muß los. Danke für das Frühstück.«
»Keine Ursache.« Lunjok erhob sich ebenfalls aus seinem Sessel. »Ich freue mich immer, dich zu sehen. Ich lasse dir also eine Woche Zeit, damit du zu dir kommen und dich erholen kannst. Reicht eine Woche?«
»Vollständig.«
»Schön. Falls es Probleme gibt, ruf an. Ja, und sage deinen Verwandten, Gleb hat ein Testament gemacht. Darin hat er seinen ganzen Anteil dir überschrieben. Das wird ihnen den Mund stopfen.«
»Wie, ist das wahr?« Katja blieb abrupt in der Tür stehen.
Hinter ihr tauchte bereits Mitjai auf, der sie nach Hause fahren sollte.
»Aber sicher!« erwiderte Lunjok grinsend. »Solche Dinge muß man im voraus bedenken. Vieles kann im Leben geschehen. Ein vom Notar beglaubigtes Dokument, alles, wie es sich gehört.«
»Moment« – Katja zog nervös die Schultern hoch –, »wann hat er dieses Testament denn geschrieben?«
»Vor einem halben Jahr.«
»Darf ich es mal sehen?«
»Du wirst dich noch rechtzeitig daran ergötzen können. Es fällt alles an dich, der gesamte bewegliche und unbewegliche Besitz, alles. Nur eine Bedingung ist dabei – du mußt weiterhin seine Mutter, Nadeshda Petrowna, unterstützen, jeden Monat tausend Dollar plus Übernahme ihrer unvorhergesehenen Ausgaben im Krankheitsfall und so weiter.«
»Und was bekommt sein Vater?«
»Nichts.« Lunjok hob beredt die Arme. »Aber mach dir um Onkel Konstantin keine Sorgen. Der wird schon nicht am Hungertuch nagen.«
Die Nachricht vom Testament kam für Katja völlig überraschend. Nicht zufällig hatte Lunjok sich diese Mitteilung bis zum Schluß aufgespart. Gut möglich, daß er sich überhaupt erst am Ende ihres Gesprächs entschlossen hatte, es ihr zu sagen. Er hätte es auch ganz für sich behalten können. Alles lag in seiner Hand, alles. Und das ließ er sie jetzt deutlich spüren.
»Du brauchst also keine besonderen Umstände mit ihnen zu machen, mit Kalaschnikow und seiner Margarita.« Er küßte sie zum Abschied zärtlich auf die Wange. »Und noch etwas. Reg dich nicht unnötig wegen dieser dummen Anrufe und wegen vergifteter Penner auf. Der Mörder ist gefunden, das Leben geht weiter, wir beide haben viel zu tun. Und laß die Bullen aus dem Spiel, ja? Wir brauchen beide keinen überflüssigen Ärger. Sie nutzen ja mit Vergnügen selbst den kleinsten Anlaß, um sich in unsere Angelegenheiten zu mischen. Das verdirbt uns nur die Stimmung. Wir sorgen in unserem Haushalt schon allein für Ordnung.«
Er begleitete sie bis zum Wagen, küßte sie noch einmal und legte dabei seinen Arm leicht um ihre Taille. Valera Lunjok – ihr guter Freund und Geschäftspartner, Puschkin-Liebhaber, Kenner der weiblichen Psyche und »Dieb im Gesetz«. Ihm kam es gelegen, daß der Mord an Gleb nichts mit dem Geschäft zu tun hatte. Die Menschen kommen und gehen, aber sein Reich sollte ewig bestehen.
Der dunkelrote Jeep fuhr zum Tor hinaus. Katja saß auf dem Rücksitz und schaute auf den kräftigen rasierten Nacken des schweigsamen Mitjai. Wieviel Leichen wohl schon auf sein Konto gingen? Gleb hatte erzählt, dieser Mitjai könne jemanden mit einem Hieb zum Krüppel schlagen oder sogar töten. Kein Mensch, sondern eine richtige Kampfmaschine für blutige Abrechnungen unter Banditen. Ein paarmal hatte er Lunjok schon das Leben gerettet.
Katja fielen plötzlich die undeutlichen Gerüchte und Anspielungen ein, der charmante Lunjok sei in den Handel mit Waffen und Drogen verwickelt, er habe bei mehreren aufsehenerregenden Auftragsmorden die Finger im Spiel gehabt, habe Verbindungen nach Tschetschenien und vieles andere.
Früher konnte sie es sich leisten, nicht weiter hinzuhören und nicht darüber nachzudenken. Aber jetzt war es besser, genau zu wissen, mit wem sie es künftig zu tun haben würde, und sich keine Illusionen zu machen. Wenn sie ganz ehrlich war, so konnte sie auch nicht ausschließen, daß Lunjok selbst es für angebracht gehalten hatte, Gleb loszuwerden. Für einen »Dieb im Gesetz« hört ein Mensch, der sich seiner Kontrolle entzieht, auf zu existieren. Und Gleb hatte in der letzten Zeit sehr viel getrunken und geschwatzt. Hatte Lunjok sich im voraus diese teuflisch schlaue Kombination überlegt? Hatte er deswegen mit solcher Leichtigkeit der offiziellen Version zugestimmt, daß Gleb von Olga Guskowa ermordet worden sei?
Katja fragte sich, ob es nicht auch für sie leichter wäre, sich damit zufriedenzugeben. Wieso war sie so felsenfest überzeugt, daß diese Frau nicht die Mörderin war?
Sie öffnete ihre Handtasche und entdeckte, daß die Kassetten fehlten. Sie hatte sie bei Lunjok vergessen. Kein Wunder, als er plötzlich von dem Testament sprach! Was nun? Sollte sie Mitjai bitten umzukehren, um die Kassetten zu holen? Gib sie mir zurück, Valera, ich möchte sie doch noch dem Untersuchungsführer vorspielen. Und ich werde selber versuchen, den wahren Mörder zu finden. Einfach lächerlich!