Kapitel 6
Irina Krestowskaja brachte es einfach nicht fertig, die Augen zu öffnen. Margarita schrie gerade besonders laut und hartnäckig. Irina streckte die Hand aus, tastete nach der Holzstange des Bettchens und rollte es mit geschlossenen Augen hin und her. Aber Margarita wollte sich nicht beruhigen. Da bemerkte Irina einen sonderbaren Geruch und sprang augenblicklich aus dem Bett. Im Zimmer roch es nach Rauch.
Sie schnappte sich das weinende Kind und weckte ihren Mann. Jewgeni begann schrecklich zu husten. Auch Margarita hustete krampfhaft und heiser. Irina bedeckte ihr Gesichtchen mit dem weiten Ärmel ihres Nachthemdes und riß die Tür zum Flur auf. Rauchwolken wälzten sich herein.
»Weck alle auf! Ruf 01 an!« schrie Irina, wickelte Margarita mit zitternden Händen in eine Decke und angelte gleichzeitig mit dem Fuß nach ihrem Pantoffel.
Das Zimmer der alten Nachbarin stand in hellen Flammen. Das Telefon, das einzige für die ganze Wohnung, hing im Flur. Jewgeni stürzte hustend durch den Rauch, schrie die Adresse in den Hörer und lief zurück ins Zimmer.
Irina hastete mit dem Kind auf dem Arm hin und her, trug Sachen zusammen, stopfte sie in Koffer und Bündel. Das Zimmer füllte sich mit Rauch. Der neue Wintermantel mit dem Ziegenfellkragen paßte nicht in den Koffer. Irina hatte nur eine Hand frei und konnte sich nicht entschließen, das Kind hinzulegen. Die dünne Wand knirschte und knackte, die Tapeten warfen schreckliche Blasen.
»Hör auf!« Jewgeni riß ihr das Kind aus den Armen. »Raus! Wir ersticken! Wir verbrennen!«
Barfuß stand sie auf dem kalten Asphalt im Hof, zwischen lauter erschrockenen, nur notdürftig bekleideten Hausbewohnern, sah zu, wie die Feuerwehrleute die bewußtlose Buchhalterin Grigorenko durchs Fenster zogen, in einem riesigen Nachthemd, das sich wie ein weißes Segel blähte, und dachte, auch sie wären vielleicht nicht aufgewacht, hätte Margarita nicht geschrien. Sie wären im Schlaf erstickt.
Einen Monat lang wohnten die Krestowskis bei Verwandten. Danach bekamen sie außer der Reihe eine separate Zweizimmerwohnung in einem Neubau, nicht am Stadtrand wie die anderen, sondern fast im Zentrum, in der Nähe des Kursker Bahnhofs.
In der kleinen Küche glänzte ein nagelneuer weißer Plastiktisch, fröhlich karierte Gardinen flatterten im warmen Wind. Auf dem Fensterbrett keimten in alten Milchkartons – die Irina immer noch aufbewahrte – weiche Zwiebeln. Der aufgedunsene gelbliche Teepilz, der früher vor dem Fenster gestanden hatte, wohnte jetzt auf einem Regal neben dem Waschbecken. Auf dem schmalen Fensterbrett hatte das Dreilitergefäß keinen Platz.
Beim Frühstück schmierte sich Margarita den unappetitlichen, klumpigen Grießbrei über ihr zartes kleines Gesicht, weinte, würgte, verdrehte den Kopf und versuchte, den Brei auszuspucken.
»Iß, du Biest!« schrie Irina und schielte gleichzeitig zu ihrem Mann hinüber, um zu kontrollieren, wieviel Löffel Zucker er sich in den Tee tat.
Jewgeni hatte seine Stelle im Institut durch die Personalkürzungen verloren. Er war als Technologe in einer Fabrik untergekommen und kam immer häufiger betrunken nach Hause, manchmal erschien er überhaupt erst gegen Morgen. Dann schwebte der Duft nach fremdem billigem Parfum im Zimmer und fuhr Irina in die Nase. Sie schrie und wedelte den aufdringlichen Geruch von sich weg, als sei es giftiges Kohlenmonoxyd. Jewgeni schrie zurück. Margarita verkroch sich heulend unter den weißen Plastiktisch.
Man schrieb Juni 1975. Im September wurde Margarita in die Kinderkrippe aufgenommen. Irina begann wieder zu arbeiten, im selben Institut wie früher, als Schriftführerin in der Personalabteilung.
***
»Soll ich die nächste Woche bei dir wohnen?« Shannotschka blickte Katja mit ergebenen, tränenerfüllten Augen an. »Ich habe Angst, dich nachts allein zu lassen.«
»Danke, Shannotschka.« Katja nahm die Hand von der Ballettstange, setzte sich auf den Boden und begann ihre Füße zu massieren.
Sie trainierte nach wie vor drei Stunden morgens und eine Stunde abends. Einen Teil der Aufführungen hatte man abgesetzt, Katja wollte in den nächsten zwei Wochen nicht auf der Bühne erscheinen. Sie wollte möglichst wenig unter Menschen sein und auf keinen Fall dort auftauchen, wo sie den Journalisten und der fremden Neugier, die sich als Mitgefühl tarnte, ausgesetzt war.
Sie übte bis zur Erschöpfung am Boden und an der Stange. Auf Außenstehende mochte das seltsam, fast schon blasphemisch wirken. Seit dem Tod ihres Mannes waren gerade zwei Tage vergangen, er war noch nicht unter der Erde, und Katja fuhr fort, als sei nichts gewesen, in tiefen »Plié« in die Hocke zu gehen und die Beine in Arabesken hochzuwerfen, bis sie in Schweiß gebadet war. Aber sie hatte auch nicht vor, die Rolle der untröstlichen Witwe zu spielen. Was in ihrem Innern vor sich ging, war ihre Privatsache.
Am Abend zuvor waren unerwartet Konstantin Iwanowitsch und Margarita erschienen. Beide hatten sehr erstaunte Gesichter gemacht, als sie Katja im Ballettrikot antrafen.
»Entschuldigt«, sagte sie, »ich dusche rasch und ziehe mich um. Und dann mache ich uns Kaffee.«
»Falls du noch nicht fertig bist, laß dich durch uns nicht stören«, bemerkte Margarita spitz und küßte Katja auf die Wange.
»Nein«, erwiderte Katja ruhig, »ich bin fertig.«
Sie führte sie ins Wohnzimmer und ging selbst ins Bad.
»Wie tapfer du bist, meine Kleine«, sagte Konstantin Iwanowitsch noch und schüttelte den Kopf.
Beide mißbilligten ihr Benehmen. Sie waren gekommen, um sie zu trösten – und nun war es gar nicht nötig. Sie kam aus dem Bad, kochte Kaffee, stellte eine Flasche Kognak und eine Schachtel mit französischem Gebäck auf den Tisch.
»Warst du bei Tante Nadja?« fragte Konstantin Iwanowitsch, nachdem sie ein Glas Kognak getrunken hatten.
»Ja«, erwiderte Katja.
Sie wollte fragen: Und du?, verkniff es sich aber. Sie wußte: Konstantin Iwanowitsch hatte seine Frau nur angerufen, zu ihr zu fahren hatte er nicht gewagt. Er hatte sie in den drei Jahren, die seit der Scheidung vergangen waren, kein einziges Mal besucht. Er hatte sie nur hin und wieder angerufen, sich nach ihrem Befinden erkundigt und gewissenhaft das Geld auf ihr Konto überwiesen.
Katja war gleich am nächsten Morgen bei Tante Nadja gewesen. In der Nacht hatte sie der Major von der Miliz gefragt:
»Wollen Sie es den Eltern Ihres Mannes selbst sagen oder fällt es Ihnen zu schwer? Wir können das auch auf offiziellem Wege erledigen.«
»Ich mache es selber«, sagte Katja.
Bei Konstantin Iwanowitsch hatte sie fast unmittelbar danach angerufen und ihm alles ohne Umschweife mitgeteilt. Sie kannte ihren Schwiegervater gut genug. Natürlich war es ein schwerer Schlag für ihn, aber es warf ihn nicht um. Er wurde damit fertig, würde es überleben. Margarita konnte ihm noch einen Stammhalter schenken, vielleicht sogar zwei. Er hatte noch eine Zukunft. Aber Tante Nadja? Sie war nun ganz allein auf der Welt. Gleb war nicht der beste Sohn gewesen, aber der einzige. Was sie durchmachen würde, ließ sich nicht in Worte fassen.
Gleich früh um acht fuhr Katja zu ihrer Schwiegermutter. Auf halbem Weg rief sie bei ihr an und sagte: »Tante Nadja, Gleb ist verwundet worden, er liegt auf der Intensivstation. Ich bin in einer halben Stunde bei dir.«
Ihre Schwiegermutter erwartete sie nicht in der Wohnung, sondern vor dem Haus. Sie saß tief gebeugt auf der Bank, in einem grauen Regenmantel und mit einer Einkaufstasche auf dem Schoß. Katjas Herz zog sich schmerzhaft zusammen.
»Laß uns nach oben gehen.«
»Wie? Warum? Wir müssen sofort ins Krankenhaus! In welchem liegt er denn?« Nadeshda Petrowna sprang auf und wollte zum Auto.
Katja drückte sie zurück auf die Bank, setzte sich neben sie und sagte leise: »Gleb ist nicht verwundet. Er ist tot. Heute nacht hat man ihn erschossen, auf offener Straße aus dem Gebüsch heraus.«
Als sie ins Gesicht ihrer Schwiegermutter blickte, dachte Katja: Wie gut, daß ich keine Kinder habe …
Sie legte ihr den Arm um die Schultern, führte sie ins Haus, sie gingen nach oben in die Wohnung. Übers Handy rief Katjas Mutter an und sagte, der Vater sei gerade nach Hause gekommen und fahre jetzt zum Flughafen, um Onkel Konstantin und Margarita abzuholen. Sie waren sofort nach Moskau zurückgeflogen, mit der ersten Maschine.
»Mama, könntest du vielleicht herkommen und bei Tante Nadja bleiben?« bat Katja. »Ich kann sie nicht allein lassen.«
Eine halbe Stunde später war ihre Mutter da. Inzwischen hatte Katja schon den Notarzt rufen müssen. Tante Nadjas Blutdruck war lebensgefährlich angestiegen.
»Wann bist du denn bei Nadeshda gewesen?« fragte Konstantin Iwanowitsch und schluckte krampfhaft.
»Gestern morgen.«
»Und wie geht es ihr?«
»Sie hatte gefährlichen Bluthochdruck, aber der Notarzt konnte sie an Ort und Stelle versorgen. Er hat gesagt, vorläufig muß sie nicht ins Krankenhaus. Meine Mutter ist jetzt bei ihr.«
»Schrecklich.« Konstantin Iwanowitsch seufzte.
Margarita begann ihm die Schläfen zu massieren.
»Kostja, ist dir nicht gut?« fragte sie besorgt, als sie merkte, daß seine Schultern zitterten.
»Nein, mein Kleines, reg dich nicht auf. Mir geht es gut.«
Margarita legte ihren Kopf auf seine Schulter. Er streichelte über ihr üppiges kupferrotes Haar. Katja sah, daß in Margaritas großen grünen Augen Tränen standen.
»Gleich fängt die Wimperntusche an zu laufen.« Margarita stand auf, unterdrückte ein Schluchzen und verschwand im Bad.
»Armes Mädel«, sagte Kalaschnikow, »meine arme Kleine. Ich habe sie am Flughafen abgeholt, ich hatte schon meine Koffer dabei, und wir haben sofort Tickets zurück nach Moskau gekauft. Sie hatte ihre liebe Mühe mit mir, sowohl auf dem Flughafen wie im Flugzeug. Ich war in schrecklicher Verfassung, wie du dir vorstellen kannst.«
»Möchtet ihr noch Kaffee?« unterbrach ihn Katja.
»Ja, danke, meine Liebe, gern.«
Sie saßen etwa eine Stunde zusammen, erörterten die bevorstehende Beerdigung und die Trauerfeier. Die ganze Zeit über waren Margaritas schmale, sorgfältig manikürte Finger in Bewegung, glitten über Kalaschnikows Wangen und Hände, streichelten zärtlich seine Schultern.
»Ich beneide dich um deine Selbstbeherrschung«, sagte Kalaschnikow zum Abschied, »du läßt dich nicht unterkriegen. Ja, eure Generation hat ganz andere Werte und Gefühle. Nur meine Margarita ist nicht von dieser Welt, sie ist so zartbesaitet und mitfühlend.«
Er blieb selbst im Unglück ein großer Schauspieler, litt schön, würdevoll und höchst ästhetisch um seinen Sohn. Man hätte die Kamera einschalten und es für die Nachwelt aufnehmen können. Und gleichzeitig verging er noch vor Liebe zu seiner empfindsamen Margarita.
Warum nur, dachte Katja, als sich die Tür hinter ihren Verwandten geschlossen hatte, warum nur macht die Liebe aus einem klugen, begabten Menschen einen verzückten Idioten? Nicht einmal ein solches Unglück berührt ihn wirklich.
Nein wirklich, du bist doch ein Biest, die anderen so zu verurteilen. Sieh dich doch selbst an.
Ihr Gesicht zeigte keine Spuren von Leid. Doch der Schock machte sich anders bemerkbar. Ihre Muskeln waren verkrampft, was ihr früher nie passiert war.
Am nächsten Morgen kam Shannotschka. Auch sie war etwas betroffen über Katjas munteres Aussehen.
»Ich weiß«, sagte sie, »du verdrängst das alles. Das ist sehr schädlich. Besser, man weint sich sofort aus, danach ist einem leichter. Wie hast du geschlafen?«
»Normal.«
»Das finde ich erschreckend«, erklärte Shannotschka, »das ist mir alles etwas zu normal. Eine derart stoische Ruhe nimmt immer ein schlimmes Ende.« Sie schluchzte auf und bot Katja an, die nächsten beiden Wochen bei ihr zu wohnen.
Katja war einverstanden. Beerdigung und Trauerfeier standen noch bevor, es würden sicher eine Menge Leute kommen.
»Was willst du zum Frühstück, Joghurt oder Haferbrei?« fragte Shannotschka.
»Joghurt.«
»Weißt du, je länger ich darüber nachdenke, desto unheimlicher wird mir. Ich will dich nicht erschrecken, aber womöglich galt der Schuß ja dir? Schließlich hast du Gleb ja gehalten, ihr standet eng umschlungen.« Shannotschka band sich eine Schürze um und fing an, das Geschirr abzuräumen.
»Unsinn, wer sollte mich umbringen wollen? Gleb hat mit irgendeiner Verrückten geschlafen, und die hat sich meine Handynummer beschafft. Aber daraus folgt doch noch lange nicht, daß sie sich auch eine Pistole beschafft hat. Weißt du, Shannotschka, die Sache ist zu ernst, um die übergeschnappten Weiber mit hineinzuziehen, die Gleb sein ganzes Leben lang scharenweise belagert haben.«
»Warum hast du dem Untersuchungsführer nichts davon erzählt?«
»Erstens haben die Anrufe aufgehört. Jedenfalls hat sie schon seit zwei Tagen nicht mehr angerufen.« Katja stand auf und ging ins Bad. »Zweitens will ich nicht, daß jemand in unserer schmutzigen Wäsche wühlt. Und drittens …« Katja sprach nicht weiter und schloß sich im Badezimmer ein.
Sie hatte nicht die geringste Lust, über diese unbekannte gehässige Idiotin und ihren widerlichen Telefonterror zu sprechen. Natürlich hatte Shannotschka zum Teil recht. Der Mörder hätte einige Sekunden früher schießen können, als Gleb und sie zum Hauseingang gingen. Sie liefen ja einfach nebeneinander. Wenn er auf Gleb gezielt hatte, wäre es logischer gewesen …
Stopp, sagte sich Katja, das will ich gar nicht weiterspinnen. Und ich werde auch kein Wort darüber verlieren, sonst kommt es garantiert den Journalisten zu Ohren, und die werden sich mit Begeisterung auf so einen saftigen Eheskandal stürzen, zumal einen mit so mystischem Anflug. Es hatte ja nicht nur diese dummen Anrufe gegeben …
Katja stieg aus der Dusche und wickelte sich in ihren warmen Bademantel. Aus der Küche duftete es appetitlich nach frisch gemahlenem Kaffee. Wie gut, daß Shannotschka eine Weile hierblieb. Mit ihr war es ruhiger und gemütlicher.
»Iß.« Shannotschka reichte ihr ein heißes Sandwich mit Käse, auf das sie eine dünne Gurkenscheibe, einen durchsichtigen Radieschenkringel und einen Petersilienzweig gelegt hatte.
Sie brachte es nicht fertig, einfach nur eine Scheibe Käse auf eine Schnitte Brot zu legen. Die Essenszubereitung, selbst wenn es sich nur um ein schlichtes Butterbrot handelte, war für sie eine hohe Kunst.
»Soll ich das Fenster zumachen?« fragte Shannotschka und stellte einen Kirschjoghurt vor Katja. »Du zitterst ja. Ist dir so kalt?«
Katja zitterte tatsächlich vor Kälte. Sie hatte niedrigen Blutdruck, ihre Hände und Füße waren immer kalt, selbst wenn es warm war. In den letzten beiden Tagen hatte sie ständig Schüttelfrost gehabt, nur an der Ballettstange oder unter der heißen Dusche wärmte sie sich auf.
»Ja, mach es zu«, sagte sie, »und setz dich, iß etwas. Sei nicht so hektisch.«
Mechanisch steckte sie die Hände in die tiefen Taschen des Bademantels und ertastete in der einen Tasche etwas Weiches. Sie zog es heraus. Es war ein Büstenhalter. Ein gewöhnlicher weißer Büstenhalter, ein billiger, ohne Spitzen und Schleifen, augenscheinlich schon oft getragen. Katja faßte den fremden Toilettengegenstand mit zwei Fingern an und verzog voller Abscheu das Gesicht.
»O mein Gott«, japste Shannotschka, »wirf das nicht weg, warte.«
»Soll ich das vielleicht auch dem Untersuchungsführer zeigen? Als Beweisgegenstand in Zellophan packen?« fragte Katja mit nervösem Lächeln.
»Bist du sicher, daß es nicht dein eigener ist?« erkundigte sich Shannotschka vorsichtig.
»Diese Sorte habe ich noch nie im Leben getragen, außerdem ist er zwei Nummern zu groß …« Katja stand auf, öffnete das Schränkchen unter dem Waschbecken, warf das Fundstück in den Mülleimer und ging ins Bad, um sich die Hände zu waschen.
»Du hast den Bademantel von Gleb an«, flüsterte ihr Shannotschka hinterher.
***
»Krestowskaja! Du verläßt das Klassenzimmer! Und morgen kommst du mit deinen Eltern wieder!«
»Was haben Sie denn?« Margarita maß die Mathematiklehrerin mit hochmütigem, spöttischem Blick.
»Raus, hab ich gesagt!« Die Stimme der Lehrerin überschlug sich.
Margarita zuckte die Schultern, erhob sich ohne Hast und ging sehr langsam, mit dem fließenden Gang eines Mannequins, zur Tür. Die Klasse war mäuschenstill. Die Mathematiklehrerin sah dem mageren langbeinigen Mädchen in der viel zu kurzen Schuluniform und mit den viel zu schönen feuerroten Haaren haßerfüllt nach.
Margarita stieß die Tür lässig mit dem Fuß auf. Sie war bemüht, nichts mit den Händen anzufassen. Die schmalen Finger hielt sie angestrengt gespreizt. Auf den langen Nägeln war der frische blaßrosa Lack noch nicht getrocknet. Margarita blieb in der Türöffnung stehen, blickte sich um, funkelte mit ihren grünen Augen und sagte laut, in singendem Tonfall:
»Man kann sehr wohl die Nägel pflegen und doch ein tücht’ger Bürger sein. Puschkin. Jewgeni Onegin.«
Ihre Banknachbarin Olga Guskowa besann sich plötzlich, schraubte hastig das Fläschchen mit billigem polnischem Nagellack zu und steckte es in die Tasche ihrer schwarzen Schürze. Sie wußte, daß Margarita den Lack ihrer Mutter gestohlen hatte.
Die Tür schlug krachend zu. Margarita hatte sie mit einem eleganten Fußtritt von außen zugeworfen. Die Mathematiklehrerin vergaß den Lack. Einige Sekunden lang stand sie mit offenem Mund da. Ihr Gesicht färbte sich langsam purpurrot. Die Klasse saß starr und wartete atemlos, was weiter passieren würde. Die Lehrerin stürzte der vierzehnjährigen frechen Göre hinterher, holte sie ein, packte sie an den Schürzenträgern und schleifte sie zum Direktor.
Der Direktor war ein Mann der neuen Denkungsart, er war noch nicht lange an der Schule und gedachte auch nicht lange zu bleiben. Er mißbilligte die alten barbarischen Erziehungsmethoden und lag in ständigem Konflikt mit dem Lehrerkollegium.
»Sie benimmt sich provozierend!« schrie die sechzigjährige Mathematiklehrerin. »Sie stört den Unterricht, lackiert sich dreist die Nägel, wenn ich den neuen Stoff erkläre! Sie tuscht sich die Wimpern, mit vierzehn Jahren! Sie verdirbt die anderen!«
»Ich tusche mir die Wimpern nicht. Ich habe von Natur aus solche Wimpern«, erklärte Margarita ruhig. »Und ich verderbe auch niemanden. Sie, Sinaida Dmitrijewna, behandeln uns Mädchen schlecht. Besonders die hübschen. Ja, es ist unhöflich, sich im Unterricht die Nägel zu lackieren. Entschuldigen Sie. Aber im übrigen sind Sie im Unrecht.«
»Schweig, du Miststück! Hinaus mit dir!« Die Lehrerin schrie so laut, daß ihre Stimme brach und sie husten mußte.
»Ja, Krestowskaja«, sagte der Direktor finster, »geh hinaus und warte im Flur.«
»Solche wie die gehören von der Schule gejagt!« flüsterte die Lehrerin heiser, als sich die Tür hinter dem Mädchen geschlossen hatte. »Alle Hemmungen haben sie verloren! Keinerlei Respekt!«
»Respekt muß man sich verdienen«, sagte der Direktor langsam, »und man darf die Kinder nicht derart anschreien. Ja, das Mädchen benimmt sich provozierend, aber Sie selbst provozieren und demütigen sie auch. Es ist ein schwieriges Alter, das darf man nicht vergessen. Übrigens, wie lange haben Sie noch bis zur Rente?«
Die Lehrerin wurde wieder rot und dann blaß. Sie war schon längst überfällig – aber konnte man von der Rente etwa leben? Mein Gott, was war das nur für eine Zeit!
Tatsächlich war eine sonderbare, wirre Zeit angebrochen. Man schrieb das Jahr 1988. Margarita Krestowskaja und Olga Guskowa waren vierzehn Jahre alt. Seit dem ersten Schuljahr waren sie Banknachbarinnen.
***
Nodar Dotoschwili erschien trotz Vorladung nicht bei der Staatsanwaltschaft. Unter keiner seiner Telefonnummern meldete er sich. Seine Wohnung war leer.
»Der bringt sich noch selber ins Grab!« Der Untersuchungsführer Jewgeni Tschernow seufzte tief und sah auf seine Uhr. In zehn Minuten sollte die Zeugin Rykowa, Jelena Fjodorowna, besser bekannt als Striptease-Tänzerin Ljalja, zum Verhör erscheinen.
»Na, was ist, schreiben wir den Fürsten zur Fahndung aus?« fragte Major Kusmenko. »Oder warten wir noch?«
»Wir warten besser noch. Mal hören, was Ljalja zu sagen hat.«
Ljalja erschien auf die Minute pünktlich. Sie trug ein klassisches Kostüm, bestehend aus einem geradegeschnittenen knielangen Rock und einem Blazer. Dezentes Make-up, die Haare zurückgekämmt und zu einem unauffälligen Pferdeschwanz zusammengefaßt. Eine seriöse Geschäftsfrau, keinerlei Extravaganzen oder Koketterie.
»Wann haben Sie Nodar Dotoschwili das letzte Mal gesehen?« fragte Tschernow.
»Vor zwei Tagen«, erwiderte Ljalja lakonisch und ehrlich.
»Wo und unter welchen Umständen?«
»Bei mir zu Hause.«
»War er die ganze Nacht bei Ihnen?«
»Mit Sicherheit kann ich das nicht sagen. Ich habe sehr fest geschlafen.«
Ljalja war nicht im mindesten aufgeregt. Sie beantwortete die Fragen ruhig und sicher wie eine gut präparierte Musterschülerin im Examen. Allerdings war sie bemüht, möglichst wenig zu sagen. Sie hatte Angst, sich zu verplappern.
»Um wieviel Uhr sind Sie schlafen gegangen?«
»Etwa um elf.«
»War Dotoschwili bei Ihnen?«
»Ja.«
»Und am nächsten Morgen?«
»Um halb zehn bin ich aufgewacht. Da war Nodar nicht mehr da.«
»Das heißt, Sie haben ihn um elf Uhr abends zuletzt gesehen?«
»Ja.«
»Und Sie können sich nicht dafür verbürgen, daß er die ganze Nacht in Ihrer Wohnung geblieben ist?«
»Nein.«
»Dotoschwili hat im Casino gespielt?«
»Und hatte er Glück im Spiel?«
»Tja, ich weiß nicht, eher wie alle anderen auch, mal mehr, mal weniger.«
»Hat er größere Summen verloren?«
»Ich weiß nicht. Mir hat er darüber keine Rechenschaft abgelegt.«
»Na schön«, sagte Tschernow, »Sie kennen Dotoschwili ja recht gut. Was meinen Sie, war er ein Spielertyp?«
»Nicht mehr als andere«, erwiderte Ljalja und blickte Tschernow ruhig in die Augen.
»Was soll das heißen? Es gibt Leute, die spielen überhaupt nie, und es gibt andere, die können ohne das Spiel nicht leben. Haben Sie Dostojewskis Roman ›Der Spieler‹ gelesen?«
»Dostojewski?« fragte Ljalja erstaunt. »Was hat Dostojewski damit zu tun?«
»Eigentlich nichts. Er kam mir nur gerade in den Kopf …« sagte Tschernow und lächelte. »Sie wissen also nicht, welche Summen Ihr Freund Nodar Dotoschwili im Casino verspielt hat?«
»Ich arbeite ja nicht im Spielsaal.«
Nachdem die Zeugin gegangen war, lehnte sich Tschernow in seinem Stuhl zurück und fixierte Major Kusmenko. Iwan Kusmenko malte mit einem Filzstift konzentriert Muster auf seine Zigarettenschachtel.
»Das heißt, man will dem Fürsten den Mord in die Schuhe schieben«, sagte er nachdenklich, ohne den Blick von den schwarzen Kringeln und Häkchen zu heben, mit denen sich die weiße »Kent«-Schachtel bedeckte. »Sie wollen uns Dotoschwili ans Messer liefern und Täuberich hochgehen lassen. Hör mal, vielleicht hat Lunjok ja selber den Auftrag gegeben, Kalaschnikow zu erledigen? Angenommen, unser Nachtclubbesitzer hat seinem Paten einen Teil seiner Einkünfte verheimlicht. Ist zu habgierig geworden, soll ja vorkommen. Lunjok hat davon erfahren und hat’s ihm krummgenommen. Und da taucht gerade zum richtigen Zeitpunkt der raffgierige Golbidse mit seinem bescheuerten Fürsten auf.«
Tschernow schüttelte den Kopf.
»Lunjok hat uns die Version mit Dotoschwili als Knochen hingeworfen, damit wir uns daran festbeißen und nicht tiefer graben. Und zwar nicht Dotoschwili persönlich, sondern nur die Geschichte. Den Fürsten halten sie jetzt irgendwo auf einer abgelegenen Datscha bei Moskau in einem feuchten Keller versteckt und quetschen ihn aus wie eine Zitrone. Später finden wir dann seine Leiche. Das garantiere ich dir. Getarnt entweder als Unglücksfall oder als Selbstmord.«