Kapitel 4

Die Krestowskis litten unter chronischem Geldmangel. Irina arbeitete als Schriftführerin in der Personalabteilung eines kleinen wissenschaftlichen Institutes und verdiente neunzig Rubel im Monat. Ihr Mann Jewgeni bekam als wissenschaftlicher Mitarbeiter desselben Institutes mehr – hundertzehn Rubel. Aber man wollte und wollte ihn nicht befördern, obwohl er nach Alter und Dienstjahren längst an der Reihe gewesen wäre. Andere wurden befördert, er nicht. Er war der geborene Pechvogel, ein Mensch, der immer übersehen wurde und sich nicht durchsetzen konnte.

Rechnete man noch die Prämien hinzu, so ergab das zweihundertzwanzig im Monat. Anfang der siebziger Jahre konnten zwei Personen davon ganz anständig leben, zumal es damals nicht viele Verlockungen gab. Aber die Krestowskis wohnten in einer riesigen Gemeinschaftswohnung mit lauter streitsüchtigen Nachbarn, in einem alten baufälligen Haus, und sparten für eine solide Eigentumswohnung. Das Haus hätte schon längst abgerissen werden sollen, aber nichts passierte. Noch länger zu warten ging über ihre Kräfte.

Das bescheidene gemeinsame Budget war bis auf die letzte Kopeke verplant. Irina warf keine Plastiktüte, keinen Milchkarton und keinen Sahnebecher fort. Sie spülte alles sorgfältig, trocknete es ab und benutzte es im Haushalt. Wenn ein Stück Wurst zu riechen begann und an den Rändern verdächtig grün wurde, kochte sie es in Salzwasser aus und briet es dann in dem Fett, das von den vorgestrigen Frikadellen in der Pfanne übriggeblieben war.

Auf dem Geschirrschrank stand eine spezielle Schale für Seifenreste. Wenn sich genügend Reste angesammelt hatten, schichtete Irina sie aufeinander und knetete daraus geschickt einen formlosen Klumpen, der seinerseits wieder bis auf einen kleinen Rest verbraucht wurde. Im Gemeinschaftsbad hatten die Krestowskis nichts Eigenes stehen, weder Seife noch Zahnpasta: Kaum sah man mal weg, schon benutzten die Nachbarn die Sachen heimlich mit.

Das Leben wurde auf später verschoben, auf die lichte Zukunft in der blitzsauberen, nagelneuen eigenen Wohnung. Dort würde es eine gemütliche Küche mit einem schneeweißen Plastiktisch und ein Fenster mit fröhlich karierten Gardinen geben, sie würden frische Wurst und richtige Butter statt Margarine essen und abends drei Stück Zucker in den Tee tun statt eins. Dort würden sie ein schönes Schlafzimmer mit Schleiflackschrankwand und Lackfußboden haben, und dort könnte man auf der neuen, mit ausländischem Velours bezogenen Liege ein Kind zeugen.

Die Jahre gingen vorbei. Irina war schon über dreißig. Mit ihrer Gesundheit stand es nicht zum besten, ständig hatte sie irgendwelche Frauenleiden. Sie wurde nicht schwanger, aber darum machte sie sich keine Sorgen. All ihre Gedanken und Gefühle kreisten um Geld, um Kalkulationen und Zahlen. Fragte man sie, wie spät es sei, antwortete sie »eins dreißig« statt »halb zwei«.

Wenn sie manchmal doch an ein Kind dachte, dann begann sie unwillkürlich sofort zu rechnen – wieviel kosteten die Windeln, wieviel Seife und Waschpulver würde sie für die Wäsche brauchen. Was mußte man für Bettchen, Kinderwagen, Strampelanzug anlegen. Und wenn es zu laufen begann? Wieviel Schuhe würde es brauchen! Schrecklich!

Allmählich wurde das ungeborene, noch nicht einmal gezeugte Kind zu einem weiteren ärgerlichen Kostenfaktor und damit zu einem Hindernis auf dem Weg in ein neues, glückliches Leben in einer eigenen Wohnung.

Schließlich gestand Irina sich emotionslos ein, daß sie gar kein Kind wollte, daß sie überhaupt nichts anderes wollte als eine eigene, saubere Küche. Aus irgendeinem Grund wurde für sie nicht das Wohnzimmer oder das Bad, sondern die Küche mit dem weißen Plastiktisch und den karierten Gardinen zum Symbol des vollkommenen Glücks.

Die Mitarbeiter an dem kleinen Institut wurden, wie viele sowjetische Arbeiter und Angestellte, einmal im Jahr medizinisch untersucht. Die Untersuchung war nicht obligatorisch, aber wenn sie während der Arbeitszeit stattfand, nahmen alle daran teil. Irina, die ein ordentlicher, gesetzestreuer Mensch war, unterzog sich brav allen vorgeschriebenen Untersuchungen.

Als sie zur Gynäkologin ging, war sie darauf vorbereitet, zum x-ten Mal von ihrem Frauenleiden zu hören, von dem eigentlich keine weitere Gefahr drohte außer der Unfruchtbarkeit und das man im Prinzip leicht behandeln konnte. Gewöhnlich nickte sie zur Antwort, nahm die Überweisungen zu weiteren Untersuchungen in Empfang und vergaß die Sache bis zum nächsten Jahr. Wenn sie erst einmal die Wohnung hatte – dann würde sie auch ihr bequemes Leiden auskurieren.

Auch dieses Mal füllte die Gynäkologin, eine ältere rundliche Frau, die eine Brille mit dicken Gläsern trug, die Überweisungsformulare aus, erwähnte allerdings mit keinem Wort Irinas Leiden.

»Jetzt haben wir also Oktober«, sagte sie nachdenklich, »November, Dezember – Ende Januar gehen Sie dann in Schwangerschaftsurlaub.«

»Was?« fragte Irina verständnislos. »Was für ein Urlaub?«

Die Ärztin blickte sie interessiert an.

»Schwangerschaftsurlaub. Mitte April wird es dann kommen.«

»Was wird kommen? Wovon reden Sie?« schrie Irina außer sich.

»Was? Das weiß ich auch nicht.« Die Ärztin zuckte die Schultern. »Es kommt, wie Gott es gibt. Vielleicht ein Junge, vielleicht auch ein Mädchen …«

»Aber ich – ich habe doch diese Verwachsungen. Das ist doch nicht möglich. Nein, das kann nicht sein!«

»Moment mal, wissen Sie etwa noch gar nichts davon? Sie sind schon im dritten Monat.«

Irina stöhnte auf und wurde bleich.

»Warum sind Sie denn so erschrocken? Sie sind verheiratet und schon fünfunddreißig. Es wird Zeit, meine Liebe. Die Verwachsungen haben sich von selbst gelöst. Das kommt vor.«

»Und eine Abtreibung?« flüsterte Irina hoffnungsvoll. »Geben Sie mir eine Überweisung, bitte.«

»Was reden Sie?« Die Ärztin schüttelte den Kopf. »Machen Sie Witze? Im dritten Monat!«

Irina fing an zu weinen. In ihrem Kopf begann sich mit rasender Geschwindigkeit ein Zähler zu drehen: ein Meter Kattun – ein Rubel zwanzig, Flanell – zwei Rubel achtzig, Mull für die Wickelunterlagen …

Jewgeni nahm die wichtige Neuigkeit vollkommen ruhig auf.

»Was sollen wir’s noch länger hinauszögern? Das ist doch völlig in Ordnung. Die Swekolnikowa aus der Planabteilung hat auch gerade ein Kind gekriegt, da hat man ihnen gleich eine Wohnung zugeteilt, zur Verbesserung der Lebensbedingungen.«

»Du bist vielleicht naiv! Ihr Mann arbeitet bei einer Rüstungsfirma! Deshalb haben sie die Wohnung gekriegt!« schrie Irina.

»Schon gut, reg dich nicht auf. Sieh nur zu, daß es ein Junge wird.«

Ihr Bauch ging auf wie Hefeteig. Kein einziger Rock ließ sich mehr zuknöpfen, wie sehr sie die Knöpfe auch versetzte. Von der übelriechenden gekochten und gebratenen Wurst wurde ihr schlecht, sie mußte sogar brechen. Sie hatte Appetit auf frisches Obst und auf Quark vom Markt. Aber das kostete ein Heidengeld! Statt Obst aß Irina in der Kantine des Instituts Vitaminsalat aus gelblichem süßem Kohl und kaute mit Widerwillen auf dem sauren, trockenen Quark aus der Fertigpackung herum.

Je dicker Irinas Bauch wurde, desto häufiger und hartnäckiger sprach Jewgeni von seinem Sohn. Auch Irina konnte sich kein Mädchen mehr vorstellen.

Ihre alte Nachbarin in der Gemeinschaftswohnung hatte alle möglichen volkstümlichen Vorzeichen parat. Wenn der Bauch wie eine Gurke vorsteht, wird es ein Junge. Bei Irina stand der Bauch wie eine Gurke vor, also mußte es ein Junge sein. Zeig mal deine Hände! Genau, du zeigst sie mit dem Handrücken nach oben – ein Junge.

Ihr schwebte ein rosigweißer Säugling mit dicken Bäckchen und goldenen Locken vor, im niedlichen hellblauen Steckkissen mit Rüschen. Ein solches Kissen wollten ihr die Kollegen zur Geburt schenken. Vielleicht hatten sie es sogar schon gekauft, dazu ein blaues Häubchen und blaue Seidenbänder.

Die Geburt war lang und schwer. Eine ganze Brigade von Ärzten und Schwestern war hektisch um sie bemüht, das Kind blieb stecken und wollte nicht herauskommen, Atemstillstand drohte, man schrie Irina an, sie solle sich mehr anstrengen, sonst würde das Kind keine Luft bekommen und sterben, aber sie begriff nichts, spürte nichts außer dem schrecklichen, unerträglichen Schmerz und wollte nur eins, daß dieser Schmerz aufhörte. Egal wie oder wodurch, nur aufhören sollte er.

»Nun hilf doch mit, wenigstens ein bißchen! Du verlierst das Kind! Hörst du mich? Gib dir Mühe!« schrie der Arzt ihr direkt ins Ohr.

»Aah! Ich ka-ann nicht!« schrie Irina zurück.

»Gut. Es reicht, wir nehmen die Zange«, sagte der Arzt, »der Puls ist hundertsechzig.«

In diesem Augenblick schlüpfte das Kind ganz von selbst heraus, als hätte es sich besonnen oder einen Schreck bekommen.

Irina begriff zunächst gar nichts. Der Schmerz war vorbei, hatte nachgelassen. Sie konnte es kaum fassen. Dann hörte sie wie durch Watte:

»Ein Mädchen.«

Die meinen nicht mich, dachte sie, das ist jemand anders.

»Guck mal, wen du geboren hast.«

Man hielt ihr ein preiselbeerlila Geschöpf hin, naß, runzlig, widerwärtig brüllend, bedeckt mit einer weißlichen Schmiere. Es hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit einem rosigweißen Bübchen mit dicken Backen und Goldlöckchen.

»Na, nun guck schon her und sag selber, was es ist! Na?« wiederholte die Schwester mit freudigem Lächeln.

»Niemand«, seufzte Irina schwer auf und drehte sich weg.

Es war ein heller Aprilmorgen des Jahres 1974. Das kleine Mädchen bekam den Namen Margarita.

***

»Laß die Augen funkeln! Dein Gesicht muß es zeigen, dein Gesicht! Du liebst ihn, aber du mußt ihn täuschen, ihn hintergehen. Das ist doch ein ganzer Berg von Gedanken und Gefühlen! Du bist doch keine hirnlose Puppe, keine banale Schlampe, sondern eine Agentin. Nein, stopp. So geht das wirklich nicht!«

Der Regisseur klatschte laut in die Hände. Der Kameramann schaltete seine Kamera aus. Margarita warf sich fröstelnd einen Bademantel über und zündete sich eine Zigarette an. Es war kalt. Die Dreharbeiten fanden in einem feuchten häßlichen Keller statt, der mit irgendwelchen Rohren, Kisten und verrosteten Armaturteilen vollgestopft war. Um noch mehr Realismus zu erzielen, hatte man die Wände stellenweise mit Glyzerin betröpfelt, was widerliche nasse Streifen ergeben hatte, an denen die Kamera lange und mit Genuß entlangfuhr. Vor diesem Hintergrund aus Feuchtigkeit und Schmutz sah die schöne hellhäutige Margarita Krestowskaja – fast nackt, in zerrissener Spitzenwäsche und mit Handschellen an ein Rohr gefesselt – sehr beeindruckend aus.

Sie drehten gerade eine der Schlüsselszenen eines Thrillers über die russische und kaukasische Mafia. Die Heldin, die Edelnutte Irina Solowjowa, wird zugleich von der kaukasischen Mafia und von der Miliz angeworben. Sie erfüllt einen verantwortungsvollen und riskanten Auftrag und wird die Geliebte des jungen Privatdetektivs Frol Dobrezow. Frol ist in diesem Sumpf von Mafia und Miliz der einzige anständige Mensch und steht deshalb allen im Weg.

An Frol wenden sich alle Erniedrigten und Beleidigten der heutigen gesetzlosen Zeit – Unternehmer, Witwen, Waisen, Rentner –, um mit seiner Hilfe zu ihrem Recht zu kommen. Die dadurch bis zur Weißglut gereizten Schurken setzen die femme fatale Irina, eine Art weiblichen James Bond, auf ihn an. Doch die ehemalige Prostituierte, die in ihrem Leben nur Schmutz und Verrat gesehen hat, verliebt sich in den edlen Frol.

Das Drehbuch war nach einem Roman des populären Krimiautors Kusma Gljukosow geschrieben. Hinter diesem Pseudonym verbarg sich ein ganzer Konzern, der jährlich rund ein Dutzend Romane über Frol Dobrezow produzierte. Fünf Leute – zwei Lyriker, ein ehemaliger Ermittler der Bezirksstaatsanwaltschaft, ein ehemaliger Auslandskorrespondent und eine ältere Redakteurin verfaßten die Bestseller in präziser Arbeitsteilung. Der Ermittler kümmerte sich um den juristischen Teil und kramte alte Kriminalfälle heraus. Einer der beiden Lyriker arbeitete das Sujet aus, der andere war für die Dialoge zuständig. Der Journalist schaltete sich ein, sobald die Handlung ins Ausland verlegt wurde, und schrieb außerdem sehr anschaulich alle Szenen, in denen Schlägereien vorkamen – er hatte es in seiner Jugend bis zur zweiten Juniorenklasse im Freistilringen gebracht und begeisterte sich für fernöstliche Kampfsportarten. Die Redakteurin überarbeitete den Text stilistisch und würzte das literarische Kollektivgericht freigebig mit pornographischen Schmankerln.

Innerhalb von vier Jahren hatte das fleißige Quintett nicht nur Unsummen verdient, sondern sich auch in die Herzen der dankbaren Leser geschrieben. Der Superdetektiv Frol Dobrezow erfreute sich kolossaler Beliebtheit.

Für die breite Öffentlichkeit übernahm der ehemalige Sowjetdichter Wladimir Simonowitsch die Rolle des genialen und wie ein Kaninchen fruchtbaren Kusma Gljukosow. Er war im Grunde die Seele des Konzerns, derjenige, der die Handlung entwarf. Sein Foto war auf dem Buchcover abgedruckt, er gab die Interviews und erschien zu den Talk-Shows im Fernsehen.

Natürlich hatten einige Journalisten die Wahrheit herausbekommen und stellten Simonowitsch immer wieder heimtückische Fragen bezüglich der kollektiven Produktion. Kusma Gljukosow lächelte herablassend und sagte, derartige Gerüchte amüsierten ihn nur. Neider gebe es viele, bedeutend mehr als begabte Autoren. Natürlich habe er seine Berater und es gebe einen Redakteur, aber schreiben würde er immer noch selbst, nur er allein, des Nachts in der Küche seiner kleinen Zweizimmerwohnung, wo ihm die grimmige Muse der Kriminalliteratur heiß in den Nacken hauche und ihm keine Minute Ruhe lasse.

Die Schöpfer des großen Frol Dobrezow machten sich keine Illusionen. Alle fünf wußten, daß ihre Romane Bockmist waren, und hatten keine Hemmungen, das im engen Kreis auch offen auszusprechen. Den typischen Konsumenten ihrer Bestseller stellten sie sich als sexuell gestörtes Monster mit sadomasochistischen Neigungen vor.

Es war Simonowitsch, der auf die Idee kam, die Romane auch noch zu verfilmen. Einen Teil des dafür benötigten Geldes stiftete Kusma Gljukosow selbst, den Rest übernahm eine solide Bank.

Als Regisseur gewann man Wassja Litwinenko, der für seine talentierten Filme bereits mehrere Preise erhalten hatte, darunter auch einen internationalen. Dann war er für drei Jahre verstummt. Für seriöse Filme gab es kein Geld. Für unseriöse übrigens auch nicht. In Rußland wurden Jahr für Jahr weniger Filme gedreht, und das lange erzwungene Schweigen hatte Litwinenkos hohe Ansprüche an die Qualität der Drehbücher gesenkt, der schöpferische Hunger ließ ihn zum Allesfresser werden, er war bereit, jeden Mist zu drehen – wenn er nur drehen konnte.

Simonowitsch-Gljukosow hatte den jungen begabten Litwinenko nicht nur deshalb engagiert, weil er um die Qualität der Filme besorgt war. Er war überzeugt: Die Videokassetten würden noch besser gehen als die Bücher, ganz egal, wer sie auch machte. Es war einfach so, daß das viele Geld ihn daran gewöhnt hatte, immer das Beste zu kaufen – ob es sich um Essen, Kleidung, Möbel, Frauen oder Regisseure handelte.

Für die Rolle des Frol Dobrezow wurde der charmante junge Schauspieler Nikolai Swanzew engagiert. Seine Partnerin war Margarita Krestowskaja, nach allgemeiner Ansicht die Nachwuchsschauspielerin mit dem meisten Sex-Appeal.

Das Drehteam arbeitete betont langsam. Niemand war wirklich bei der Sache; die Dialoge verursachten den Schauspielern Zahnschmerzen. Nur Litwinenko war ehrlich bemüht, aus dem stumpfsinnigen Sujet noch etwas herauszuholen, zumindest wollte er den Figuren, die im Drehbuch mehr Ähnlichkeit mit Robotern und Zombies hatten als mit lebendigen Menschen, etwas mehr Wärme und Glaubwürdigkeit geben.

»Wassja, wozu regst du dich so auf?« Nikolai Swanzew klopfte dem Regisseur herablassend auf die schmächtige Schulter. »Wir drehen hier kein unsterbliches Meisterwerk.«

»Ich will einen anständigen Film machen«, knurrte Litwinenko.

»Hör auf«, Swanzew verzog das Gesicht, »das Drehbuch ist Scheiße, und die Sponsoren haben ihr Geld abgedrückt, damit du Scheiße drehst, denn der Zuschauer will ausschließlich Scheiße sehen.«

»Wenn du dauernd dieses Wort wiederholst, wirst du bald aus dem Mund stinken«, bemerkte Margarita Krestowskaja träge.

Sie drückte ihre Zigarette aus, reckte sich ausgiebig und schüttelte ihre üppige kupferrote Mähne.

»Von der Leinwand herunter stinkt es nicht.« Swanzew schaute auf seine Uhr. »Also, Kinder, arbeiten wir heute noch oder was?«

»Gestank läßt sich nicht vertreiben, er überwindet alle Hindernisse. Das zum einen. Außerdem können wir nicht weiterarbeiten, weil Wassja mit meinem Gesicht nicht zufrieden ist«, meinte Margarita gleichmütig. »Zu wenig Gefüüühl.«

»Zu wenig Gedanken«, korrigierte sie der Regisseur, »du spielst eine hirnlose Puppe, und deshalb fühlt man nicht mit dir, man langweilt sich mit dir. Du mußt nicht nur schlau, sondern auch klug sein. Begreifst du den Unterschied?«

»Wassja, hast du in der letzten Zeit mal ins Drehbuch gesehen? Hast du überhaupt mal einen Roman über Frol bis zu Ende gelesen? Gehst du manchmal durch die Stadt oder fährst mit der Metro?« Margarita seufzte müde auf. »Siehst du da Gesichter, auf denen auch nur der Hauch eines Gedankens ist? Schau dir mal die Visagen in der U-Bahn oder im Bus an, schau sie dir genau an und denk daran: das sind sie, unsere kostbaren Zuschauer. Übrigens spiele ich ein ganz normales Mädchen unserer Zeit, clever, taff und mit gehörigem Biß. Ihr ist alles schnurz, sie geht über jeden hinweg und tritt sich danach die Füße ab. Ira, die Nutte, die Banditenmatratze und Bullenspionin. Nicht mehr und nicht weniger, kapiert? Wen willst du aus ihr machen? Sofja Kowalewskaja? Blaise Pascal im Minirock?« Margarita schrie beinahe.

Sie hatte gar nicht gemerkt, wie sie in Fahrt kam. Es ärgerte sie, daß sie diese primitive Szene aus einem idiotischen Groschenroman nun schon fast drei Stunden lang wiederholten und eine Einstellung nach der anderen drehten.

»Wer hat Gleb Kalaschnikow ermordet?« brüllte Wassja plötzlich aus heiterem Himmel. »Denk darüber nach! Kapiert? Liebst du deinen Mann? Sein einziger Sohn ist ermordet worden!«

Über Margaritas schönes Gesicht huschte ein Schatten. Im Keller herrschte eine unangenehme Stille. Alle schauten vorwurfsvoll auf Wassja. In Margaritas Familie hatte sich eine wirkliche Tragödie ereignet. Sie jetzt daran zu erinnern, nur damit sie den trivialen Pfusch, den sie hier drehten, mit echten Gefühlen würzte – das war unpassend, taktlos, geradezu blasphemisch.

Gleb Kalaschnikow war immerhin ein naher Angehöriger von Margarita. »Stiefsohn« klang zwar etwas eigenartig, wenn man bedachte, daß die Stiefmutter neun Jahre jünger war als der Sohn. Aber Familie ist Familie.

»Margarita, nimm’s ihm nicht übel.« Swanzew unterbrach die ungemütliche Pause. »Als ich klein war, habe ich bei Goworow in den ›Steinwiesen‹ mitgespielt. Damit ich in einer Szene in Tränen ausbrach, hat er einen lebendigen Papagei gepackt und ihm vor meinen Augen den Hals umgedreht. Du siehst, Wassja ist nicht total meschugge. Es gibt Schlimmeres. Wann ist eigentlich die Beerdigung?«

»Am Montag«, erwiderte Margarita leise, »um acht ist eine Trauerfeier im Casino, um zehn die Totenmesse in der Pimen-Gedächtniskirche.«

»Gibt es schon irgendeinen Hinweis auf den Täter?«

»Ich weiß nicht.« Margarita wandte sich ab – das Thema war ihr sichtlich unangenehm.

***

Im Casino »Sternenregen« waren die Spieltische mit schwarzem Krepp bedeckt. Das Restaurant war geschlossen, selbst die Tischdecken hatte man weggenommen. Ein schwarz eingerahmtes Porträt von Gleb Kalaschnikow hing an prominenter Stelle – neben der Bühne, auf der gewöhnlich die Striptease-Tänzerinnen auftraten. Unter dem Porträt standen riesige Blumenkörbe.

Ein Wachmann im korrekten Anzug führte Major Kusmenko in das Büro des Geschäftsführers.

Ein kleiner, glattrasierter dicker Mann von etwa vierzig Jahren erhob sich ächzend aus einem Drehsessel und streckte seine mollige feuchte Hand aus.

»Grischetschkin, Felix Eduardowitsch«, stellte er sich mit einem gramvollen Seufzer vor. »Kaffee? Tee?«

»Danke, wenn es geht, Kaffee.«

Kusmenko nahm in einem gepolsterten Ledersessel Platz.

Geräuschlos erschien eine schöne langbeinige Sekretärin. Grischetschkin flüsterte ihr rasch etwas ins Ohr, das Mädchen nickte und verschwand. Der Geschäftsführer richtete den Blick auf den Major. In seinen kleinen runden Augen war aufrichtige Trauer zu lesen und die Bereitschaft, jede Frage zu beantworten.

»Sagen Sie, Felix Eduardowitsch, wann haben Sie Kalaschnikow das letzte Mal gesprochen?« begann Kusmenko.

»Kurz vor der Tragödie.« Grischetschkin seufzte schwer, mit asthmatischem Pfeifen. »Gerade mal eine Stunde vorher. Wir haben uns bei der Theaterpremiere gesehen, und danach beim Imbiß am Büfett.«

»Haben Sie an seinem Verhalten in der letzten Zeit etwas Ungewöhnliches bemerkt? Hatte er mit jemandem Streit?«

»Nichts Ernsthaftes. Kleinigkeiten.«

»Nämlich?«

»Bei der Premiere hatte er eine ziemlich heftige Auseinandersetzung mit einem Verehrer seiner Frau. Aber das hat nichts mit der Sache zu tun.«

»Seien Sie so gut und erzählen Sie alles, und wir beurteilen dann, ob es mit der Sache zu tun hat oder nicht«, sagte der Major freundlich lächelnd.

»Aber ich weiß eigentlich gar nichts«, erwiderte Grischetschkin widerwillig. »Irgend so ein junger Kerl ist das, ein Fan von Katja, nicht besonders aufdringlich, aber hartnäckig. Er taucht auf allen Premieren und bei vielen Aufführungen auf, immer mit Blumen. Dieses Mal war Gleb etwas betrunken und hat sich mit ihm angelegt. Das ist schon öfter vorgekommen und hat nie zu etwas geführt.«

»Was heißt das?« fragte der Major verständnislos.

»Dieser Kerl dreht sich schweigend um und geht. Und genauso war es bei dieser Premiere. Gleb sagte etwas Grobes, der Verehrer ging einfach weg.«

»Und Jekaterina Filippowna?«

»Die war nicht in der Nähe. Alles passierte in der Pause am Büfett. Sie hat sich auch sonst nie eingemischt, hat diesen Mann nur höflich begrüßt, gelächelt, manchmal seine Blumen entgegengenommen. Wenn Gleb zu ausfallend wurde, hat sie gesagt, ›hör auf, beruhige dich‹. Mehr nicht.«

»Und in welcher Beziehung steht sie selbst zu diesem hartnäckigen Verehrer?«

»In gar keiner. Sie ist eine Künstlerin, eine Primaballerina. Die haben immer Verehrer.«

»Können Sie ihn beschreiben?«

»So zirka fünfunddreißig bis vierzig, mittelgroß. Aber so genau hab ich ihn mir nie angesehen! Außer mir haben ihn noch viele andere bemerkt, fragen Sie doch bei denen nach. Was geht mich das alles an?«

»Gut«, stimmte der Major bereitwillig zu, »ich frage die anderen.«

»Am besten, Sie beschäftigen sich gar nicht mit diesem Blödsinn.« Grischetschkin zuckte seine rundlichen Schultern. »Gleb ist von einem Auftragskiller ermordet worden, das ist offensichtlich.«

»Offensichtlich?« Der Major hob verwundert die Brauen. »Das heißt, der Mord an Kalaschnikow kam für Sie nicht weiter überraschend?«

»Nein«, Grischetschkin verzog das Gesicht, »Sie mißverstehen mich. Selbstverständlich hat das niemand erwartet, alle sind schockiert. Ich auch. Aber Sie müssen doch zugeben, daß heutzutage der Auftragsmord an einem Geschäftsmann, noch dazu einem wohlhabenden, schon etwas Alltägliches ist.«

»Da stimme ich nicht zu«, sagte der Major kopfschüttelnd, »Mord überhaupt, egal an wem, darf man niemals als etwas Alltägliches ansehen. Sie sind also überzeugt, daß es ein Auftragsmord war?«

»Sie nicht?« Grischetschkin runzelte die Stirn. »Haben Sie Gründe, daran zu zweifeln?«

»Wir sind verpflichtet, alle denkbaren Theorien zu überprüfen.«

»Mein Beileid.« Grischetschkin lächelte matt. »Ich persönlich kann mir auf Anhieb ungefähr ein Dutzend verschiedene Theorien vorstellen.«

»Zum Beispiel? Verraten Sie mir wenigstens eine.«

»Auf keinen Fall.« Grischetschkin schüttelte energisch den Kopf. »Da halte ich mich lieber zurück.«

»Warum?«

»Es wäre unverantwortlich, nicht nur Ihnen gegenüber, sondern auch gegenüber vielen meiner Bekannten. Ich kann Vermutungen anstellen, raten, aber das ist, da werden Sie mir zustimmen, kein hinreichender Anlaß, Ihnen konkrete Namen zu nennen. Jetzt habe ich zum Beispiel diesen unglückseligen Verehrer erwähnt, und mir ist schon ganz unwohl dabei. Womöglich werden Sie ihn nun verdächtigen? Das wäre wirklich lächerlich. Leute vom Kaliber eines Gleb Kalaschnikow werden selten aus Eifersucht oder aus Neid ermordet.« Grischetschkin schloß müde die Augen und schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, Sie werden im Laufe der Ermittlungen mehr als einmal auf mögliche persönliche Motive treffen. Falls Sie meine Meinung dazu interessiert – es lohnt sich nicht, darauf Zeit und Kraft zu verschwenden.«

»Danke für den Rat«, sagte Kusmenko lächelnd, »wir werden ihn beachten.«

»Nein, ich will Ihnen gar keine Ratschläge geben. Selbstverständlich entscheiden Sie alles selber. Aber leider ist das ja nicht immer von Erfolg gekrönt. Ich bin schon deshalb Ihnen gegenüber aufrichtig, weil ich selbst bedroht bin. Ich schließe nicht aus, daß ich als nächster an der Reihe bin. Aber was die Neider, Rächer, betrogenen Frauen und eifersüchtigen Männer betrifft – das gehört doch alles ins Reich der Seifenopern.«

Kusmenko bemerkte, daß die Stimmung seines Gesprächspartners jede Minute umschlug. Sein Gesicht wurde abwechselnd rot und bleich. Gerade noch hatte er ruhig und besonnen gesprochen, dann sank er plötzlich in sich zusammen, als hätte man die Luft aus ihm herausgelassen.

Die Sekretärin brachte in dünnen Porzellantäßchen den Kaffee. Mittlerweile war Grischetschkin wieder munter geworden. Er rutschte in seinem Sessel herum, sprach hastig und aufgeregt:

»Ich weiß, daß Gleb von einem Auftragskiller erschossen wurde. Alle wissen es. Ja, Kalaschnikow hatte viele Neider. Er war außergewöhnlich begabt und erfolgreich. Da ist es nicht weiter verwunderlich, daß ihn viele beneideten. Aber doch nicht so, nicht bis aufs Messer. Damit konnte niemand rechnen. Gleb hat auch selber nicht damit gerechnet, er war ein Mensch, der das Leben sehr liebte. Ihm ging immer alles leicht von der Hand, er hatte Glück, er dachte, er würde ewig leben.«

Grischetschkin brach der Schweiß aus.

»Ich verstehe.« Kusmenko nickte, als hätte er die Erregung des anderen und seinen seltsamen letzten Satz nicht bemerkt. »Haben Sie irgendeine Vermutung in bezug auf den Auftraggeber? Einen konkreten Verdacht?«

»Ich weiß nicht.« Grischetschkin sank wieder in sich zusammen, wurde matt und abwesend.

»Und warum befürchten Sie, das nächste Opfer zu werden?«

»Einfache Arithmetik!« Grischetschkin seufzte. »Wenn man den Chef ermordet, ist als nächster der Geschäftsführer dran. Sie werden jetzt im Privatleben von Kalaschnikow herumstochern und dabei jede Menge Unrat finden, und inzwischen geht Ihnen der wirkliche Mörder durch die Lappen! Ja, Kalaschnikow war kein besonders anständiger und sauberer Mann, aber lassen Sie diese Dinge ruhen. Hören Sie? Viele haben ihn gehaßt, aber niemand hätte ihn deshalb aus dem Hinterhalt erschossen. Niemand.«

Der Dicke geriet wieder in Erregung, begann zu schreien, wurde dunkelrot und hob schon den Arm, um auf den Tisch zu schlagen, aber im letzten Moment überlegte er es sich anders, die mollige Hand sank kraftlos und weich auf die Tischplatte aus Eichenholz. Der Major beobachtete diesen sonderbaren Ausbruch von Nervosität und versuchte zu begreifen, was hier überwog – echte Hysterie und Angst oder ein wohlkalkuliertes Schauspiel.

Wieso will er mich unbedingt davon überzeugen, daß es nur ein Auftragsmord sein kann? Hofft er vielleicht, daß wir ihm unbesehen glauben und unsere Nase nicht in die Privatangelegenheiten seines Chefs stecken? Das kann nicht sein, er ist doch kein Trottel. Wieso also dann? dachte Kusmenko und sagte langsam: »Aber trotzdem hat ihn jemand erschossen.«

»Nodar Dotoschwili.« Grischetschkin nannte diesen Namen kaum hörbar und verstummte gleich darauf, sein Gesicht wurde abrupt bleich, er schloß die Augen und lehnte sich ermattet im Sessel zurück.

»Pardon, Felix Eduardowitsch, aber wer ist Nodar Dotoschwili?«

»Spielen Sie nicht den Dummen.« Grischetschkin öffnete die Augen, die rot und entzündet aussahen. »Sie sind Einsatzleiter, Sie haben Ihr eigenes Informantennetz. Seit dem Mord sind mehr als vierundzwanzig Stunden vergangen, inzwischen haben Sie genug Zeit gehabt, die Geschichte von Golbidse und seinem Spitzel Nodar Dotoschwili zu erfahren. Golbidse, sein Spitzname ist Täuberich, hat versucht, sich unser Casino unter den Nagel zu reißen, es war freche, offene Erpressung. Und dann hat er seinen Mann bei uns eingeschleust. Dieser Typ hat überall seine Nase reingesteckt, hat den Croupier bei der Arbeit beobachtet, hat aufgepaßt, wer wieviel gewinnt und verliert, und hat sich überhaupt so dreist aufgeführt, als ob der Laden schon ihm gehöre.«

»Entschuldigen Sie«, unterbrach ihn der Major, »in welcher Eigenschaft wurde dieser Nodar Dotoschwili denn ins Casino eingeschleust?«

»In gar keiner! Das ist es ja gerade, er trieb sich einfach jede Nacht hier rum, schlenderte durch die Säle, spielte nicht und bestellte fast nichts.«

»Aber die Wache brauchte ihn doch nicht reinzulassen«, bemerkte Kusmenko.

»Begreifen Sie denn nicht?« Grischetschkin verzog das Gesicht. »Einen von Täuberichs Leuten ohne schwerwiegenden Grund nicht ins Casino zu lassen, ihn einfach an die Luft zu setzen – das wäre eine Provokation gewesen, das hätte Krieg bedeutet. Und ein offener Krieg mit Täuberich wäre für unseren Club praktisch das Ende gewesen. Wenn man jeden Moment mit einer Schießerei rechnen muß, bleiben bald die wichtigen Gäste weg. Wir können unseren Ruf nicht derart aufs Spiel setzen.«

»Logisch.« Der Major nickte. »Aber daraus, daß Golbidse sich Ihr Casino unter den Nagel reißen wollte, folgt noch keineswegs, daß einer seiner Männer Kalaschnikow ermordet hat.«

»Sie wissen noch nicht alles. Dotoschwili hat schließlich doch noch angefangen zu spielen und eine große Summe verloren, fünfzigtausend Dollar. Er konnte nicht gleich bezahlen und geriet in Panik. Die Hauptbedingung für seine Arbeit hier war ja, nicht zu spielen. Gleb gab ihm für unbestimmte Zeit Aufschub, hat ihm im Grunde genommen die Schuld erlassen.«

»Sie wollen sagen, Dotoschwili hat dieses Geld im Casino verspielt?« fragte der Major.

»Ja. Beim ›Black Jack‹.«

»Aber es gab doch Zeugen für das Spiel. Den Croupier, andere Spieler. Von der Schuld wußten genügend Leute. Ein Mord an Kalaschnikow hätte ihm nichts genützt, er blieb trotzdem Schuldner.«

»Gleb hat allen gesagt, Dotoschwili habe gezahlt.«

»Wie das?«

»Genau so. Alle glauben, daß Nodar Dotoschwili unserem Casino nichts mehr schuldig ist. Die Wahrheit kennen nur zwei – Gleb und ich. Und jetzt nur noch ich. Verstehen Sie, daß ich Grund habe, um mein Leben zu fürchten?«

Na, vermutlich wissen außer dir auch noch Ljalja Rykowa und Lunjok davon, dachte der Major. Höchstwahrscheinlich noch der eine oder andere mehr. Aber im großen und ganzen hast du recht. Allzu viele Eingeweihte gibt es wirklich nicht. Es gibt nur Gerüchte, nicht mehr.

Kusmenko wußte von der Geschichte mit Dotoschwili nur deshalb, weil er sich schon seit langem für Täuberich interessierte und überall, wo man seiner vielleicht habhaft werden konnte, Informanten sitzen hatte.

Ein Informant, der seit kurzem im Casino als Reinigungskraft arbeitete, war besonders eifrig gewesen, weil er als Krimineller mit langer Berufserfahrung gegen den blutjungen Täuberich einen persönlichen Groll hegte. Täuberich war auf diesen fetten Happen schon seit langem scharf und verfolgte hier seine speziellen Interessen. Und der Major interessierte sich schon seit einem Monat für alles, was in diesem Luxusschuppen vor sich ging.

Von diesem Informanten hatte Kusmenko auch erfahren, daß sich hartnäckige Gerüchte hielten, der nervöse Geschäftsführer würde auf seinem einträglichen Posten noch zusätzlich einiges zur Seite schaffen. Gleb Kalaschnikow mochte auf viele den Eindruck eines leichtsinnigen und verschwenderischen Menschen machen, aber sein Geld zählte er genau. Auf frischer Tat hatte er Grischetschkin nicht ertappt – aber vielleicht nur deshalb nicht, weil er rechtzeitig umgebracht worden war?

Natürlich hatte Felix Grischetschkin nicht aus dem Gebüsch auf seinen Chef geschossen. Er war bis zwei Uhr nachts am Theaterbüfett geblieben. Mehrere Dutzend Leute hatten ihn dort gesehen – ein hieb- und stichfestes Alibi. Aber einen Killer hätte er ohne weiteres engagieren können. Seine Motive waren womöglich sogar noch gewichtiger als die von Nodar Dotoschwili.

***

»Irina Borissowna, wissen Sie vielleicht, wer heute dran ist, den Flur zu wischen?« fragte die fünfzigjährige Buchhalterin Grigorenko, ohne den Blick von der Zeitung zu heben.

Aus unerfindlichen Gründen trank sie ihren Tee nie in ihrem eigenen Zimmer, sondern immer in der Küche der Gemeinschaftswohnung, während sie am Fenster stand und ihre stinkenden starken Zigaretten qualmte.

»Nein«, erwiderte Irina aufgebracht und rührte den Grießbrei in ihrem Aluminiumtopf.

»Das sollten Sie aber. Ihre Kleine kriecht durch den Flur und steckt sich hinterher die Finger in den Mund. Das ist unhygienisch. Kaufen Sie lieber ein Laufgitter und behalten Sie das Kind im Zimmer.«

»Was geht Sie das an. Sie rauchen hier in der Gemeinschaftsküche und halten Vorträge über Hygiene«, giftete Irina zurück.

Die kleine Margarita erhob sich von den Knien, zog sich am Bademantel ihrer Mutter hoch und blickte bald zur Mama, bald zu der dicken bösen Tante empor, lauschte aufmerksam, wie beide schrien, und brach dann in ein ohrenbetäubendes Geschrei aus.

»Brüll nicht!« herrschte Irina sie an. »Brüll nicht, hab ich gesagt!« Und sie gab ihr einen schmerzhaften Klaps auf den Po.

Margarita schrie nun erst recht, fiel zu Boden und strampelte mit den in gestopften Socken steckenden Beinchen.

»Du Biest! Du Miststück! Hörst du endlich auf zu brüllen?!«

Irina versuchte, ihre einjährige Tochter vom Boden aufzuheben, von dem Geschrei klirrte es ihr in den Ohren. Der Grießbrei floß zischend auf den Gemeinschaftsherd. Die Grigorenko drückte ihre Zigarette aus und schnaubte von oben herab: »Das ist ja furchtbar! Wozu schaffen Sie sich Kinder an, wenn Sie nicht mit ihnen fertig werden?«

Irina klemmte sich Margarita, die sich vor lauter Brüllen schon verschluckte, unter den Arm, packte den Topf mit dem angebrannten Brei und rannte zurück in ihr Zimmer.

»Und wer macht den Herd sauber?« kreischte ihr die Nachbarin triumphierend nach.

Irgendwo in der Ferne löste sich Irinas Traum von einer eigenen, blitzsauberen Küche in regenbogenfarbigem Nebel auf.

Jewgeni kam immer später von der Arbeit nach Hause. Er roch nach Schnaps und billigem Parfum. In seinem Institut wurde von Personalkürzungen gesprochen. Irina wartete auf den Herbst, dann würde sie das Kind in die Krippe geben und wieder arbeiten. Aber ihr größter Wunsch war, endlich wieder einmal ausschlafen zu können. Margarita weinte jede Nacht, und die boshafte Grigorenko klopfte gegen die Wand. Irina ertappte sich manchmal dabei, daß sie im Stehen einschlief.

Man schrieb April 1975. Margarita war ein Jahr alt.

Die alte Nachbarin, die alle volkstümlichen Vorzeichen kannte und versichert hatte, es würde ein Junge, fror so heftig, daß sie über Nacht den Heizofen ganz nah an ihr Bett schob. Die Fransen des alten staubigen Bettüberwurfs kamen mit der glühenden Spirale des Öfchens in Berührung und begannen leise zu schwelen.