Kapitel 3
Ljalja Rykowa schlüpfte leise unter der Bettdecke hervor, bibberte in der morgendlichen Kälte und schlich barfuß ins Bad. Der aristokratische Mafioso schnarchte nicht nur, er war auch noch ein Frischluftfanatiker und riß die ganze Nacht die Fenster weit auf. Dabei war es schon September, und bis zum Morgen war das Zimmer so ausgekühlt, daß der armen Ljalja die Zähne klapperten.
Fürst Nodar schmatzte im Schlaf und schnarchte ganze Tonleitern. Die jammervollen, heiseren Töne waren sogar im Badezimmer zu hören und übertönten das Geräusch des rauschenden Wassers. Ljalja verzog angewidert das Gesicht, riegelte die Tür ab und reckte sich vor dem riesigen Spiegel, der vom Boden bis zur Decke reichte und vom heißen Dampf schon leicht beschlug. Durch den feinen Dunst sah Ljalja noch schöner, noch verführerischer aus.
Ein echter Striptease unterscheidet sich von Pornographie durch das Flair des Geheimnisvollen. Aber wem sollte sie das erklären? Den groben, gierigen Kerlen, die zu sabbern begannen, wenn sie Ljaljas appetitlichen Körper betrachteten? Was bedeutete ihnen die raffinierte, exquisite Schönheit des erotischen Spiels, das so alt ist wie die Welt? Sie sind schon zufrieden, wenn du mit den Hüften wackelst, deinen Busen schwingen läßt, den Kopf in den Nacken wirfst und Ekstase mimst – dann greifen sie bereitwillig in die Tasche und zahlen.
Ljalja kletterte ins heiße Schaumbad und seufzte tief. Das Leben war ungerecht. Soviel Abgeschmacktes ringsum! Warum mußte sie, die schöne Ljalja mit der feinen Seele, sich jeden Abend vor groben Ganoven ausziehen? War sie etwa weniger wert als alle diese Schönheitsköniginnen, Supermodels und Filmstars? Bestimmt nicht.
Sie stellte sich gern vor, sie sei auf einem Ball, in einem Kleid von Dior, umringt von Milliardären, Diplomaten, Präsidenten, Hollywoodstars und anderen Berühmtheiten. Ljalja schreitet vorbei, in der einen Hand ein Champagnerglas, in der anderen eine Zigarettenspitze. Das Kreuz leicht durchgedrückt, die Schultern zurückgeworfen, das Kinn hoch erhoben, ein Bein aus der Hüfte heraus nach vorn gesetzt. Um ihren zarten Hals schmiegt sich ein antikes Brillantencollier in Platinfassung. Sie blickt niemanden an, denkt ihre eigenen, erhabenen Gedanken, und alle ringsum erbleichen und sind von Amors Pfeil getroffen.
Nein, die vollkommene, exquisite, zarte Ljalja war nicht auf die Welt gekommen, um sich jede Nacht vor betrunkenen Männern auszuziehen. Allerdings, sie hatte nichts anderes gelernt. Und sie war eine ausgezeichnete Striptease-Tänzerin. Sie verdiente nicht schlecht, und die Jungs von der Wachmannschaft paßten genau auf, daß niemand Ljalja einfach so, ohne Bezahlung und ohne Erlaubnis, angrapschte. Wenn der Chef sie manchmal anderen Männern, die für ihn wichtig waren, zur Verfügung stellte, dann war auch das nicht umsonst. Und sie hatte dabei immer irgendeinen kniffligen Auftrag zu erfüllen. Ljalja gefiel das. Sie kam sich nicht nur schön, sondern auch klug vor.
Mit Fürst Nodar hatte sie allerdings ihre liebe Not. Zwar war er vom ersten Moment an bereit, sein Leben für sie hinzugeben, wälzte sich mit orientalischer Leidenschaft zu ihren Füßen, sang zur Gitarre alte georgische Lieder, hielt aber gleichzeitig sein Geld sehr sorgsam beisammen.
Kalaschnikow hatte sie sofort vorgewarnt: Mit Liebe allein macht man den Fürsten nicht kirre. Man muß ihn mit etwas Handfesterem ködern, am besten mit Geld. Und Ljalja schaffte es, sie machte Nodar auf »Black Jack« heiß, obwohl er anfangs vor dem grünen Tuch zurückschrak wie vor der Pest. Er erzählte, sein Urgroßvater, ein georgischer Fürst und Offizier, hätte Staatsgelder verspielt und sich deswegen erschossen. In seinem Abschiedsbrief hatte er seinen adligen Nachkommen als letzten Willen ans Herz gelegt, niemals Karten anzurühren.
Ljalja stellte das Wasser ab. Der Fürst hatte aufgehört zu schnarchen und sprach jetzt mit jemandem. Zuerst dachte Ljalja, es sei ein Telefongespräch. Die Worte konnte sie nicht verstehen, aber Nodars Intonation und Stimme gefielen ihr nicht. Der Fürst sprach rasch, aufgeregt, mit starkem Akzent. Sie hatte schon vor längerer Zeit bemerkt, daß sein georgischer Akzent sich immer dann bemerkbar machte, wenn er aufgeregt oder verängstigt war. Dann ertönte ein leises Poltern und ein kurzes unterdrücktes Stöhnen. Ljalja zuckte zusammen. Nodar war nicht allein im Zimmer.
»Nei-ein!« heulte er. »Ich weiß nichts!«
Im Schlafzimmer fand offenbar eine scharfe Auseinandersetzung statt. Das schloß Ljalja nicht nur aus dem Gepolter, dem Stöhnen und Entsetzen, das in der heiseren Stimme des Fürsten zitterte, sondern auch aus den einschmeichelnden, leisen Stimmen der ungebetenen Gäste. Wer war das? Was wollten sie? Ljalja war von ihnen nur durch die dünne Wand des Badezimmers getrennt, dessen Tür vorläufig noch abgeriegelt war, aber jeden Moment eingetreten werden konnte. Waren es vielleicht die Leute von Lunjok? Aber wieso sollte Lunjok seine Gorillas am frühen Morgen zu Ljalja nach Hause schicken? Der Fürst zappelte doch sowieso schon am Haken. Und wenn es Täuberich war? Er hätte leicht erfahren können, daß man seinen Mann mit Ljaljas Hilfe eingefangen hatte.
Sie hatte sich gerade in ihren weißen Frotteemantel gehüllt und den Gürtel zugezogen, da trat jemand plötzlich krachend gegen die Tür. Der Riegel sprang ab. Ljalja seufzte erleichtert auf – in der Badezimmertür stand Mitjai, einer von Valera Lunjoks Leuten.
»He«, sagte Ljalja, »was macht ihr für einen Rabatz in meiner Wohnung? Wozu mußt du die Tür eintreten? Kannst du nicht anklopfen?«
Mitjai gab keine Antwort. Ljalja stolzierte mit hochmütig zurückgeworfenem Kopf ins Schlafzimmer. Nodar lag nackt auf dem Fußboden. Im Sessel saß Lunjok persönlich. Er starrte Ljalja aus harten, kalten Augen an. Seine dünnen Lippen waren unheilverkündend zusammengepreßt.
»Guten Morgen, Valera.« Ljalja versuchte zu lächeln. »Was ist passiert?«
»Wo war dieser Spitzel heute nacht?« fragte Lunjok leise und fuhr fort, Ljalja mit stechendem Blick zu durchbohren. Seine Augen waren von einer undefinierbaren Farbe, halb grau, halb gelb.
»Was heißt wo? Bei mir.« Ljalja setzte sich in den Sessel, Lunjok gegenüber. »Kannst du mir vielleicht erklären, was los ist?«
»Weißt du sicher, daß er die ganze Nacht bei dir war?«
Nodar stöhnte etwas Unverständliches. Ljalja wunderte sich, wie schnell man ihn außer Gefecht gesetzt hatte. Gott sei Dank war kein Blut geflossen. Im Schlafzimmer lag ein teurer heller Teppich, die Flecken hätte man mit keinem Reinigungsmittel herausbekommen. Aber Mitjai machte saubere Arbeit, er schlug nur auf die inneren Organe. Ein, zwei Schläge, die keine Spuren, nicht einmal blaue Flecken hinterließen, aber der andere krümmte sich vor Schmerzen und war zu allem bereit.
»Na, bewacht hab ich ihn natürlich nicht«, sagte Ljalja schulterzuckend, »ich habe geschlafen.«
»Fest?«
»Du weißt doch sehr gut, daß ich schlafe wie ein Murmeltier«, gab Ljalja lachend zurück und funkelte Lunjok mit ihren leuchtendblauen Augen an.
Vor einem halben Jahr hatte sie mit Lunjok eine kurze Affäre gehabt. Von allen Mädchen im Club hatte Valera sie allein ausgewählt, und nicht nur für ein kleines Vergnügen, sondern weil sie ihm ernsthaft gefiel. Er sah keine andere mehr an. Überhaupt unterschied er sich von den anderen Ganoven durch sein stolzes, strenges Wesen. Er hatte so etwas Männliches, Ritterliches. Er wollte zum Beispiel auch wissen, ob er Ljalja als Mann gefiel oder ob sie nur ihre Arbeit tat … Wenn du nicht willst, sagte er zu ihr, bestehe ich nicht darauf und bin nicht gekränkt. Ljalja wußte, das waren keine leeren Worte, und sie war Valera Lunjok aufrichtig dankbar. Sie verstellte sich bei ihm auch gar nicht, spielte ihm keine Liebe vor, sondern empfand tatsächlich beinahe so etwas wie Liebe. Es fehlte nicht viel, und sie wäre auf Dauer bei ihm geblieben, hätte den Club verlassen und wäre ihm treu gewesen, nur ihm. Freilich hatte er so etwas nie vorgeschlagen.
»Deinen Chef hat man heute nacht kaltgemacht«, teilte Lunjok mit und zündete sich eine Zigarette an.
Ljalja konnte Tabakrauch am Morgen, auf nüchternen Magen, nicht ertragen.
»Was?« fragte sie heiser und mußte husten. »Wer?«
»Du hast also geschlafen, sagst du. Und wenn nun unser kaukasischer Spitzel für ein paar Stunden heimlich aus deinem Bett gekrochen wäre, hättest du es gemerkt?«
»Valera, glaubst du etwa, daß er …?« flüsterte Ljalja erschrocken und warf einen Seitenblick auf den stöhnenden, sich krümmenden Fürsten. »Nicht doch«, sie schüttelte den Kopf, »wozu sollte er?«
Valera hielt es nicht für nötig zu antworten und grinste nur spöttisch.
»Gleb hat mir die Schuld erlassen, ehrlich«, stöhnte der nackte Fürst vom Teppich, »und soviel Geld war das auch nicht, daß ich mir die Finger schmutzig gemacht hätte.«
»Soll ich ihm noch etwas einheizen?« schlug Mitjai, der die ganze Zeit geschwiegen hatte, träge vor.
»Nicht nötig.« Lunjok schüttelte den Kopf. »Er kann sich die Hose wieder anziehen. Soviel Geld war es also nicht?« Er beobachtete, wie der nackte Fürst sich schwerfällig vom Teppich aufrappelte. »Wieso hast du dann nicht bezahlt? Wenn man verliert, muß man bezahlen. Weißt du das nicht?«
»Ich hätte ja bezahlt.« Nodar zog sich die Jeans auf den nackten Körper und angelte mit dem Fuß vergeblich nach dem zweiten Hosenbein. »Ich weiß selber, daß Spielschulden Ehrenschulden sind. Gleb und ich, wir waren gute Kumpel. Er hat gewußt, ich geb’s ihm wieder, ‘nen Zähler brauchte er nicht einzuschalten.«
Ljalja wurde traurig. Wer würde jetzt das Casino übernehmen? Natürlich, sie würde nicht arbeitslos werden, doch es war ihr keineswegs egal, wo sie ihren Striptease tanzte. Das Publikum war längst nicht überall gleich, und die Wachleute und die Bezahlung auch nicht. Ljalja dachte plötzlich, wenn sie wüßte, wer den Chef erledigt hatte, würde sie dieses Scheusal mit eigenen Händen erwürgen. Nicht daß ihr Gleb Kalaschnikow so teuer gewesen war, aber durch seinen Tod würde sich vieles in Ljaljas Leben ändern, und zwar nicht zum Besseren. Ganz bestimmt nicht zum Besseren. Vielleicht hatte es dem Fürsten um das Geld leid getan? Irgendwann hätte er es ja doch zurückzahlen müssen. Nicht sofort, aber wenn er nicht für sein restliches Leben gebrandmarkt sein wollte, wäre er nicht daran vorbeigekommen.
Valera betrachtete inzwischen spöttisch den Fürsten, der endlich das Hosenbein getroffen hatte und nun in Jeans vor ihm stand, die nackte, mit schwarzer Wolle bewachsene Brust vorgestreckt und die Hände an die Hosennaht gelegt, wie ein Soldat vor dem General.
»Na denn«, sagte er weich, geradezu mitfühlend, »jetzt brauchst du ihm nichts mehr zurückzugeben. Jetzt bist du gewissermaßen niemandem mehr etwas schuldig. Stimmt’s?«
Lunjok wußte sehr gut, daß das nicht stimmte. Er sagte es absichtlich, um den Fürsten auszutricksen, ihn einzuschüchtern, noch bevor der erste Schrecken verflogen war.
Bereits auf der Fahrt hierher war ihm klar geworden, daß Nodar nicht der Mörder war. Jeder andere, aber nicht er. Doch ein eingeschüchterter, verwirrter Fürst konnte zu einem starken Trumpf in seiner Hand werden. Jetzt, wo zu der Schuld von fünfzigtausend noch der durchaus berechtigte Mordverdacht hinzukam, konnte man den kleinen Fürsten nach allen Regeln der Kunst über den Tisch ziehen und alles aus ihm herausholen, was er über seinen widerlichen Chef wußte – über Täuberich, den schärfsten Widersacher von Valera Lunjok.
»Auch wenn du es nicht selber warst, du könntest doch ohne weiteres der Auftraggeber sein. Denk doch mal nach, wer außer dir hat einen Nutzen davon?« sagte Lunjok ruhig.
»Da gibt’s wohl mehr als einen! Ich habe weder den Auftrag gegeben noch es selber getan.«
»Wer außer dir hat im Casino noch für Täuberich gearbeitet?«
Valera stellte diese Frage schnell und gleichgültig, wie nebenbei.
»Wenn ich dir das sage, buddelt mich Täuberich noch aus dem Grab aus«, sagte Nodar leise und ganz ohne Akzent.
Ljalja spitzte die Ohren. Sie spürte, daß der Fürst nicht mehr aufgeregt war. Er konzentrierte sich, spannte sich wie eine Stahlfeder. Davon, wie er sich jetzt verhielt, hing ab, ob er am Leben blieb oder nicht. Vielleicht war in seinem Kopf schon irgendein Plan gereift. Sie hätte gern gewußt, welcher.
»Wenn du nichts sagst, erledige ich dich jetzt gleich. Hier und jetzt«, drohte Lunjok.
»Sie soll erst raus«, der Fürst warf einen Seitenblick auf Ljalja, »dann rede ich.«
»Mach uns einen Kaffee, Ljalja. Ich hab noch nicht gefrühstückt«, bat Lunjok freundlich.
Ljalja begab sich in die Küche. Der Blick, mit dem Nodar sie begleitete, gefiel ihr überhaupt nicht. Ihr wurde davon ganz flau im Magen.
***
»Olga! Hörst du mich denn nicht? Ich rufe schon seit zwei Stunden.«
Erst vor zwanzig Minuten hatte sie für die Oma Abendessen gemacht. Die Küche war in Unordnung geraten, Olga hatte erst aufräumen wollen, aber Oma Iwetta schrie, sie stürbe vor Hunger und es lohne nicht, das Geschirr zu spülen. Olga mußte ihre Schreibmaschine vom Tisch räumen, die Bücher und die Hefte mit den Vorlesungsmitschriften beiseite schieben und der Oma das Essen im Wohnzimmer servieren. Buchweizengrütze, zwei große Frikadellen, drei Butterbrote mit Kochwurst – alles verschwand in zehn Minuten. Die Oma aß gierig, schnell, unsauber, Krümel fielen auf den Schreibtisch, die Butter klebte ihr am Kinn und schmolz. Olga stand daneben und schaute zu, manchmal wischte sie ihr das Gesicht mit einer Serviette ab.
»Was ziehst du für eine Trauermiene? Du siehst so unzufrieden aus.«
»Ich bin ganz zufrieden. Nur müde.«
»Müde? Wieso bist du denn so spät nach Hause gekommen? Wo warst du?«
»In der Universität, und dann bei der Arbeit.«
»Aber du bist um halb zwei nachts gekommen, die Seminare sind um vier zu Ende, deine Arbeit dauert von sechs bis elf. Wo warst du?«
»Ich bin spazierengegangen«, murmelte Olga und räumte das schmutzige Geschirr vom Schreibtisch.
»Und mit wem bist du spazierengegangen?«
Oma Iwetta schlürfte geräuschvoll den Tee mit Milch und aß laut knirschend die Waffeln. Im Handumdrehen hatte sie die ganze Packung billiger Waffeln verspeist, es blieben nur die glänzende Hülle und ein paar süße Krümel übrig. Olga hatte gedacht, die Waffeln reichten mindestens für zwei Tage.
»Allein. Ich bin allein spazierengegangen.«
»Du lügst. Warum lügst du mich ständig an?«
Olga gab keine Antwort, sie brachte das schmutzige Geschirr weg, wischte die durchsichtige Plastikplatte mit einem feuchten Lappen ab, stellte die Schreibmaschine wieder an ihren Platz und legte die Hefte zu einem ordentlichen Stapel zusammen.
Nach dem Abendbrot setzte sie Oma Iwetta in eine Wanne mit warmem Wasser und seifte sie wie ein kleines Kind sorgfältig ein. Die Oma stöhnte und ächzte dabei, als sei das Bad eine einzige Qual für sie. Olga wußte, daß sie sich ohne weiteres selber hätte waschen können. Doch sie zog es schon seit zwei Jahren vor, die hilflose, fast gelähmte Greisin zu spielen.
Nun, nachdem alle abendlichen Prozeduren erledigt waren und sie endlich ein wenig in der Stille hätte sitzen können, ohne auf Fragen antworten und Belehrungen anhören zu müssen, schrie die Oma schon wieder und verlangte irgend etwas.
»Bin ich meiner einzigen Enkelin, für die ich mich mein Leben lang aufgeopfert habe, schon völlig egal? Was hast du für eine Jacke an? Hast du dir eine neue Jacke gekauft? Von welchem Geld? Für den Fruchtsaft, den ich für meine Gesundheit unbedingt brauche, reicht das Geld angeblich nicht, aber dich sehe ich dauernd in neuen Sachen.«
Olga hatte eine alte, graugelb karierte Flanelljacke an, die schon ganz verwaschen war. Diese Jacke trug sie schon rund drei Jahre lang zu Hause.
»Oma, es ist schon spät. Ich möchte schlafen. Sag mir bitte, was du brauchst, und laß mich dann ins Bett gehen.«
»Nichts.« Oma Iwetta drehte sich zur Wand. »Ich brauche nichts von dir.«
»Gut«, sagte Olga, »dann gehe ich jetzt schlafen.«
»Natürlich, geh du nur schlafen. Ich kann ja ruhig sterben. Ich möchte trinken, aber meiner einzigen Enkelin fällt es zu schwer, mir Wasser zu bringen.«
Olga ging, ohne ein Wort zu sagen, in die Küche und kam mit einem Glas Wasser zurück.
Oma Iwetta richtete sich auf ihrem Kissenberg auf, nahm das Glas und hielt es prüfend gegen das Licht.
»Was ist das?« fragte sie schließlich, und in ihrer Stimme schwang ein hysterischer Unterton.
»Wasser.«
»Und was hast du da noch hineingetan?«
»Oma, ich habe nichts hineingetan. Das ist pures, abgekochtes Wasser aus dem Teekessel.«
Sie nahm ihr das Glas aus der Hand und trank einen Schluck.
»Tee zu machen war dir wohl zu lästig? Oder willst du mich jetzt auf Wasser und Brot setzen, um mich schneller loszuwerden?«
»Wenn du Tee möchtest, mache ich dir sofort welchen.«
»Nein, Olga. Ich will gar nichts mehr. Geh.«
Oma Iwetta preßte vielsagend ihre dünnen Lippen zusammen und drehte sich wieder zur Wand. Olga stellte das Glas auf den Nachttisch und ging hinaus.
In der kleinen Küche herrschte eine furchtbare Unordnung. Das abblätternde Waschbecken war bis zum Rand mit schmutzigem Geschirr gefüllt, das rissige Linoleum hatte schwarze Streifen, die sich nicht mehr abwaschen ließen. Auf dem winzigen Tisch mit der schartigen gelblichen Plastikplatte häuften sich Zeitungen. Daneben stand ein zerbeulter Aluminiumtopf mit fettigen Suppenresten und eine Pfanne mit angebranntem Rührei. Es sah aus, als würde die Oma den ganzen Tag, wenn Olga nicht da war, essen und Zeitung lesen. Trotzdem begrüßte sie ihre Enkelin jedesmal mit den Worten:
»Wo warst du? Ich bin vor Hunger fast gestorben. Seit heute morgen habe ich keinen Krümel gegessen.«
Die Psychiaterin hatte gesagt, die unersättliche Eßgier sei charakteristisch für Altersschwachsinn. Man dürfe ihr das nicht durchgehen lassen.
»Verziehen Sie sie nicht. Wenn diese Form von hysterischer Psychopathie in Verbindung mit dementia senilis sich ungehemmt entwickelt, verwandelt Ihre Großmutter sich sehr bald in ein Ungeheuer; sie wird nicht nur Ihre Nerven ruinieren, sie wird auch zu einer realen Gefahr.«
Leicht gesagt – verziehen Sie sie nicht. Olga brauchte nur ein wenig die Stimme zu heben, zu widersprechen oder nicht auf den ersten Ruf hin angelaufen zu kommen, dann begann die Oma schon zu schreien und zu toben wie ein in die Enge getriebenes wildes Tier. Manchmal rannte sie in Pantoffeln und Morgenmantel auf den Hof hinaus.
»Meine Enkelin bringt mich noch ins Grab! Sie gibt mir nichts zu essen, sie verhöhnt mich!« Ihre markerschütternde Stimme schallte über den ganzen Hof.
Dort draußen saßen den lieben langen Tag ebensolche »verhöhnten« alten Frauen, die dann schlagartig munter wurden und mit Vergnügen alle undankbaren Enkelinnen, Töchter und Schwiegertöchter im allgemeinen und Olga Guskowa im besonderen verfluchten. Danach klingelte gewöhnlich irgendeine Wohltäterin an der Tür.
»Hier, ich bringe etwas Brot für Ihre Oma. Sie geben der Armen ja nichts zu essen.«
Meist jagte Olga die Wohltäterin samt ihrem Brot davon, aber manchmal fehlte ihr die Kraft dazu. Dann ging sie schweigend in die Küche und saß dort, während Oma Iwetta der Besucherin lautstark von allen Schrecken ihres Zusammenlebens mit der furchtbaren Enkelin erzählte.
Überhaupt hatte Olga immer weniger Kraft. Die Oma aber wurde immer rüstiger und energischer, je mehr ihr Verstand nachließ.
Als Olga sich an die Geschirrberge machte, entdeckte sie zu ihrem Ärger, daß kein Spülmittel mehr da war und sie sich mit einem stinkenden, glitschigen Stück Haushaltsseife begnügen mußte. Sie seifte mechanisch die alten, zerstoßenen Teller ein, die Tassen mit den abgeschlagenen Henkeln, die schartigen Gabeln, und bemühte sich, an nichts zu denken.
Nach einer Stunde war die Küche einigermaßen sauber, so sauber, wie ein Raum sein kann, der seit fünfzehn Jahren nicht mehr renoviert wurde. Olga rückte den Tisch an den Herd, holte aus dem Wandschrank im Flur ein Klappbett, eine zusammengerollte Matratze und Bettzeug. Seit zwei Jahren schlief sie schon in der Küche. Die Wohnung hatte nur ein einziges Zimmer.
Nachdem sie das Bett gemacht hatte, setzte sich Olga darauf und starrte lange vor sich hin. Schließlich besann sie sich und tappte, sich nur mit Mühe auf den Beinen haltend, ins Bad. Aus dem Spiegel über dem Waschbecken blickten sie riesige tiefblaue Augen an.
»Das bin nicht ich«, flüsterte Olga und wandte sich von ihrem Spiegelbild ab.
Das Mädchen im Spiegel war schön wie eine Prinzessin aus einem Märchenbuch. Lange schwarze Wimpern, schwarze Brauen, erstaunt und hochmütig hochgezogen, eine schmale gerade Nase, ein frischer voller Mund, ein langer stolzer Hals. Keinerlei Make-up, eine Haut, an die nur kaltes Wasser kam und die doch ganz von selbst schimmerte, fein, durchsichtig, makellos rein.
Eine solche Schönheit können weder verwaschene und schäbige Kleider zerstören noch ständige Müdigkeit, chronischer Schlafmangel, Armut oder ruinierte Nerven. Nur das Alter würde dieses Geschenk der Natur zerstören können, das Olga Guskowa unnötig und nutzlos vorkam und das ihr bisher nichts als Unglück gebracht hatte. Aber bis zum Alter war es noch weit, sie war gerade erst dreiundzwanzig.
Olga zog die verschossene Jacke aus, schlüpfte aus den abgetragenen, längst farblos gewordenen Jeans, stellte sich unter die heiße Dusche und kniff die Augen zusammen. Durch das Rauschen des Wassers hörte sie deutlich eine hohe Männerstimme:
»Du verstehst nicht, Olga, das kostet mich überhaupt nichts. Probier das Kleid doch wenigstens an. Ich habe es ja nur nach Augenmaß gekauft. Die Schuhe auch. Sieh dich mal im Spiegel an, Olga, so wie du herumläufst, zieht sich heutzutage keine normale Frau mehr an. Natürlich bist du trotzdem wunderschön, aber ich kann mit dir in keine Kneipe gehen, wenn du solche gräßlichen Fetzen trägst.«
»Ich will in keine Kneipe, laß uns hier bleiben, zu zweit …« In der Erinnerung klang ihre eigene Stimme weit entfernt und völlig fremd.
»Na gut, bleiben wir hier.«
»Gib diese Sachen deiner Frau. Ich brauche nichts.«
»Erstens hat sie schon alles, und zweitens ist sie dünner und einen halben Kopf kleiner. Und ihre Schuhe sind auch zwei Nummern kleiner. Außerdem kauft sie sich alles selbst und würde sich sehr wundern, wenn ich ihr etwas bringe. Olga, Schätzchen, warum kränkst du mich so? Ich bin herumgelaufen und habe für dich eingekauft, und du willst die Sachen nicht einmal anprobieren.«
»Ich brauche keine Klamotten. Ich brauche dich. Ich liebe dich, mehr als mein Leben.«
Unter dem heißen Wasser wurde es Olga eiskalt, ihr Herz schlug dröhnend wie eine Kirchenglocke. Beten müßte sie, zur Beichte gehen. Mein Gott, diese Sünde, diese schwarze, scheußliche, tödliche Sünde.
»Weh mir Sünder! Der verfluchteste aller Menschen bin ich, keine Reue ist in mir; gib mir Tränen, Herr, meine Taten bitter zu beweinen.«
Die Worte des Gebetes blieben ihr in der Kehle stecken, Olga spürte keinen Sinn in ihnen, wiederholte sie mechanisch wie ein auswendig gelerntes Gedicht. Konnte sie jetzt nicht mal mehr beten? Ohne Reue gab es keine Vergebung. Nicht einmal weinen konnte sie – keine einzige Träne.
Olga Guskowa hatte in ihrem ganzen Leben erst zweimal geweint. Das erste Mal, als sie erfuhr, daß ihre Mutter und ihr Vater ums Leben gekommen waren. Das zweite Mal, als ihr die kluge, müde Psychiatrieprofessorin erklärt hatte, ihre Großmutter habe den Verstand verloren.
Ihre Eltern hatte Olga fast gar nicht gekannt. Ihr Vater war Hauptmann beim Grenzschutz gewesen, der von Garnison zu Garnison reiste. Ihre Mutter, eine Militärärztin, reiste mit ihm. Mal Wüste, mal Taiga, ungesundes Klima, ein ungeordnetes Leben in wechselnden Garnisonsstädtchen – wozu sollte man das einem kleinen Kind zumuten? Olga war im Fernen Osten geboren worden. Als sie ein Jahr alt war, brachten die Eltern sie nach Moskau und gaben sie in die Obhut von Oma Iwa, Iwetta Tichonowna, ihrer Großmutter mütterlicherseits.
Die Oma war noch nicht alt, erst fünfundfünfzig, energisch und streng, aber sie liebte die kleine Olga sehr. Von Beruf war sie Schulinspektorin. Olga kannte Oma Iwa seit frühester Kindheit nur im klassischen blauen, schwarz gepaspelten Jerseykostüm und in weißer Bluse mit Schillerkragen. Kein Make-up, kein Schmuck. Ein schlichter Kurzhaarschnitt, flache Pumps.
Einmal im Jahr kamen die Eltern auf Urlaub. Dann wurde die stille Zweizimmerwohnung lebendig, füllte sich mit Musik, Gelächter, Geschenken, Gästen.
»Na, wen hast du denn im Kindergarten zum Freund oder zur Freundin?« fragte die Mutter, drückte Olgas hellbraunen Kopf an ihre Brust und küßte das zarte, engelhaft schöne Gesichtchen, die riesigen dunkelblauen Augen.
»Ich bin mit allen Mädchen und Jungen befreundet«, erwiderte das Kind.
»Aber wer ist denn dein bester Freund? Oder deine beste Freundin?«
»Meine besten Freunde sind Oma Iwa und Väterchen Lenin.«
»Welche Puppe möchtest du?« fragte der Vater im Spielzeuggeschäft.
»Ich spiele nicht mit Puppen. Sie sind nutzlos. Ich spiele nur mit nützlichen Spielsachen.«
»Und das wären?« fragte Hauptmann Guskow verblüfft.
»Buchstabenlotto, Holzbaukästen und Dias über Tiere.«
Der Vater kaufte Lottoschachteln und Diafilme.
»Olga, möchtest du ein Eis?«
»Eis ist ungesund. Davon bekommt man Halsschmerzen.«
»Eins darfst du, jetzt ist es ja warm«, redete der Vater ihr gut zu.
Sie widersprach nicht, biß vorsichtig winzig kleine Stückchen ab und ließ sie sorgfältig im Mund warm werden, bevor sie sie hinunterschluckte.
»Na, schmeckt’s?« fragte ihre Mutter.
»Danke, sehr lecker«, erwiderte das kleine Mädchen kopfnickend, ohne zu lächeln.
Auch auf dem Karussell und im Spiegelkabinett, wo die Erwachsenen sich ausschütten wollten vor Lachen, blieb das Kind ernst.
»Was habt ihr denn?« meinte Oma Iwa schulterzuckend abends in der Küche, während der Hauptmann nervös hin und her schritt und seine Frau am offenen Fenster rauchte und sich bemühte, ihre Mutter nicht anzublicken. »Das Kind hat eine feste Ordnung, es entwickelt sich gut, ohne Verzärtelung und andere Albernheiten. Olga kann schon nach Silben lesen, addieren und subtrahieren, sie bettelt nicht um Süßigkeiten und Spielsachen. Im Kindergarten hat sie zu allen gute kameradschaftliche Beziehungen, die Kindergärtnerinnen sind mit ihr zufrieden, es gibt keine Konflikte, keine Krankheiten und Erkältungen. Was wollt ihr denn noch? Wenn es euch nicht paßt, wie ich das Kind erziehe – bitte, nehmt es wieder mit, schleppt es durch eure Kasernen und Baracken.«
Die Eltern kochten vor Ärger, kühlten aber rasch wieder ab. Das Kind aus Moskau wegzuholen, aus dem warmen, sauberen Haus, wäre unvernünftig gewesen. In zwei Jahren kam es in die Schule. Und außerdem, Iwetta Tichonowna war ausgebildete Pädagogin, sie aber – was waren sie schon für Pädagogen?
Im Jahre 1979 brach der Afghanistankrieg aus. Am ersten September 1981 fuhr der Militärjeep, in dem Hauptmann Guskow und seine Frau saßen, bei Kandahar auf eine Mine und flog in die Luft.
Die siebenjährige Olga wurde mit weißem Schürzchen und drei roten Nelken in der Hand in die erste Klasse eingeschult. Erst einen Monat später erfuhr sie, daß sie keine Eltern mehr hatte. Sie konnte noch nicht begreifen, was das hieß, sie war noch zu klein, hatte Vater und Mutter zu selten gesehen und gar keine Zeit gehabt, sich an sie zu gewöhnen. Aber Oma Iwa weinte, und das war so seltsam und schrecklich, daß Olga wie von selbst die Tränen über die Wangen rollten.
Im zweiten Schuljahr hörte Olga, wie ein Mädchen aus der achten Klasse über sie sagte:
»Was für ein unglaublich schönes Kind!«
Abends kam Iwetta Tichonowna, um sie von der Hausaufgabenbetreuung abzuholen.
»Oma, bin ich schön?« fragte Olga.
»So ein Unfug!« schnaubte die Oma.
Auf dem Heimweg erzählte sie Olga ein altes Märchen der Jakuten von einem Mädchen mit dem sonderbaren Namen Ai-aga. Das Mädchen schaute sich den ganzen Tag in einem runden kupfernen Spiegel an und sprach zu sich: »Ai-aga ist schön.« Dann verwandelte sie sich in eine Ente, flog zum eisigen nördlichen Himmel empor, und in der Tundra hallte noch lange ihr kläglicher, schnatternder Schrei: »Ai-aga ist schön.«
»Schön zu sein ist also schlecht?« fragte Olga, als das Märchen zu Ende war.
»Es ist schlecht, darüber nachzudenken«, erwiderte die Oma, »es ist schlecht zu meinen, man sei etwas Besseres als andere.«
In der Schule hatte Olga nur Einsen. In den Pausen stand sie am Fenster und las. Man nannte sie Streberin und fand sie langweilig.
Als Olga vierzehn war, hörte sie von allen Seiten: ein erstaunlich schönes Mädchen. Neben ihren Altersgenossinnen, die die schwierige Zeit der Pubertät mit Pickeln, Unbeholfenheit und Minderwertigkeitskomplexen durchmachten, wirkte Olga Guskowa wie ein Wesen von einem anderen Planeten, märchenhaft schön, allen niedrigen irdischen Problemen entrückt.
Freunde hatte sie nicht. Sie hätte gern welche gehabt, aber es ergab sich nicht. Mit siebzehn diskutierte sie über den Agnostizismus Kants, über Neuhegelianer und Kierkegaard, träumte davon, in ein sibirisches Dorf zu fahren und die Bauernkinder zu unterrichten, irgendeine heilige Mission zu erfüllen, deren Wesen sie selber nicht richtig begreifen und formulieren konnte. Bald wollte sie sich für das Gute und die Gerechtigkeit aufopfern, die Menschheit beglücken und barmherzige Schwester irgendwo im hintersten choleraverseuchten Schwarzafrika werden, bald erörterte sie ganz ernsthaft die Notwendigkeit von Gewalt und Terrorismus, um das Böse in der Welt zu bekämpfen.
Nach der neunten Klasse beschloß sie, an der Universität Philosophie zu studieren. Die beiden ersten Prüfungen bestand sie mit »Eins«, zur dritten kam sie zu spät, zur vierten erschien sie überhaupt nicht mehr, weil sie beschlossen hatte, ins Gebiet von Wologda zu fahren, wo in der Nähe eines kleinen Klosters ein hundertjähriger Einsiedler lebte.
Iwetta Tichonowna durchlebte in dieser Zeit eine schwere persönliche Tragödie – ihre Pensionierung. Es kam ihr vor wie das Ende ihres Lebens, sie konnte sich nicht vorstellen, einfach nur eine alte Frau zu sein statt eine führende Kraft in der Volksbildung.
An die Universität ging Olga erst drei Jahre später. Bis dahin arbeitete sie in einer Bibliothek, reiste von Kloster zu Kloster und lebte weiter in ihrer eigenen komplizierten, seltsamen Welt, in der sich die Orthodoxie mit dem Zen-Buddhismus verwob, der alte Chinese Konfuzius friedlich mit Nikolai Berdjajew diskutierte, die Strumpfhosen immer zerrissen waren, die Pullover Fäden zogen, die Schuhe nicht wasserdicht waren, die dunkelblau-violetten Augen aber in einem geheimnisvollen kosmischen Licht strahlten.
Mit der Krankheit ihrer Oma brach die rauhe Wirklichkeit in diese verworrene, schwer verständliche, aber im großen und ganzen glückliche Welt ein. Plötzlich mußte Olga wichtige Entscheidungen treffen, Alltagskram erledigen, viel Ausdauer und kolossale Geduld aufbringen und auch Geld heranschaffen.
Ihr fiel nichts Besseres ein, als die Zweizimmerwohnung gegen eine Einzimmerwohnung einzutauschen. Man erklärte ihr, der Altersschwachsinn sei nicht heilbar und schreite immer weiter voran, bald werde sie mit der Oma nicht mehr allein fertig werden.
Sie beschloß, für das Geld vom Wohnungstausch eine freundliche Frau einzustellen, die für die Oma sorgen sollte, damit sie selber in Ruhe ihr Studium beenden konnte. Doch eine solche Frau war nicht aufzutreiben, und das Geld war im Handumdrehen aufgebraucht.
Irgendwie schaffte sie es trotzdem, über die Runden zu kommen. Sie verdiente sich neben dem Studium etwas Geld – mal als Putzfrau, mal als Briefträgerin. Es waren nur Kopeken, aber mehr konnte Olga nicht erwarten. Ihre Kommilitonen standen nachts im Kiosk und verkauften abends in der Metro Zeitungen. Bei Olga rief schon das bloße Wort »Handel« Übelkeit hervor.
Ein Jahr verging. Olga hatte sich damit abgefunden, daß die Oma krank war und niemals wieder gesund werden würde. Doch da brach ein anderes Unglück über sie herein: Olga Guskowa verliebte sich.
Wenn eine dreiundzwanzigjährige Philosophiestudentin mit einem Bändchen Nietzsche und einem orthodoxen Gebetbuch in ihrem schäbigen Rucksack; in Jeans, die an den Knien zerrissen sind, nicht weil das modisch, sondern weil es ihr völlig egal ist; wenn ein Mädchen mit dem Gesicht einer Märchenprinzessin, der Seele einer Nonne und dem Geist einer Revolutionärin und Anarchistin – wenn ein solches Geschöpf sich zum ersten Mal im Leben verliebt, noch dazu in einen verheirateten, reichen und leichtsinnigen Mann, dann ist das wirklich eine Katastrophe.
***
»Reden Sie schon, ich höre«, seufzte Katja müde, »wahrscheinlich fällt Ihnen jetzt auch nichts mehr ein. Alles ist vorbei, Gleb ist tot.«
Sie wollte ihr Handy schon ausschalten, aber da hörte sie die leise Männerstimme:
»Entschuldige, ich bin es.«
»Pawel?« Ihre Stimme zitterte merklich.
»Ich wollte nur fragen, wie du dich fühlst?«
»Danke. Gut.«
»Bist du allein?«
»Nein, ich bin nicht allein«, log Katja, ohne zu wissen, warum. »Sag mir doch bitte, was war im Theater zwischen dir und Gleb?«
»Nichts Besonderes. Es ärgerte deinen Mann, mich am Büfett zu sehen. Er sprach mich an und schleuderte mir alles ins Gesicht, was er über mich dachte. Ich habe ihm keine Antwort gegeben, wie immer. Da wurde er noch wütender und hat versucht, mich zu schlagen. Er war betrunken und wußte nicht, was er tat. Ich habe ihn am Arm gepackt, ein paar Leute mischten sich ein. Die haben ihn beruhigt und weggeführt.«
»Und dann?«
»Ich bin gegangen. Ich hatte Angst, daß es einen Riesenskandal gibt, wenn er mich noch einmal sieht. Ich wollte nicht, daß so etwas bei deiner Premiere passiert.«
»Das heißt, im zweiten Akt warst du nicht im Theater. Wo hast du denn den Rest des Abends verbracht?«
»Ich bin einfach durch die Stadt geschlendert. Erst bin ich zu den Patriarchenteichen gegangen, habe eine Weile auf einer Bank gesessen, und dann bin ich nach Hause. Die Blumen für dich habe ich einer alten Frau geschenkt. Sie war sehr überrascht und hat den Strauß sofort, vor meinen Augen, an ein junges Pärchen verkauft, das auf der Nachbarbank saß und sich küßte. Für einen Zehner, nicht mehr.«
»Pawel, ich habe dich doch gebeten, mich niemals anzurufen«, sagte Katja, plötzlich zur Besinnung kommend.
»Wieso machst du dir etwas vor, Katja? Wovor hast du Angst? Besonders jetzt.«
»Pawel, ich habe dich darum gebeten … Warum hast du mich gerade jetzt angerufen? Was willst du?«
Katja ging in dem riesigen Wohnzimmer auf und ab. Die eigene Stimme kam ihr in der stillen, leeren Wohnung unangenehm laut vor.
»Ich weiß nicht«, gab er ehrlich zu, »ich dachte, du bist allein, es geht dir schlecht und du brauchst vielleicht meine Hilfe.«
»Nein, ich brauche deine Hilfe nicht. Ruf mich nie wieder an. Du hast Gleb gehaßt, und jetzt ist er tot. Und ich will nicht mit einem Menschen sprechen, der …« Sie begann zu weinen und schaltete das Handy ab, ohne noch ein Wort zu sagen.
Gleich wird er wieder anrufen, aber ich werde nicht abnehmen, dachte sie und versuchte sich zu beruhigen.
Aber er rief nicht mehr an.