Kapitel 8

»Was machst du gerade?« rief Irina aus der Küche. »Du solltest heute doch den Pilz waschen.«

Margarita saß am Schreibtisch über einem Chemielehrbuch für Studienanfänger, aber sie schaute nicht ins Buch, sondern in einen kleinen runden Spiegel, der auf der aufgeschlagenen Seite stand. Ihr eines Augenlid war mit einer dünnen Schicht blaßgrünen Lidschattens bedeckt, das andere bepinselte sie gerade sorgfältig mit Türkisblau.

»Hörst du mich? Du tust keinen Handschlag im Haushalt, lebst hier wie im Hotel!« schrie Irina weiter aus der Küche.

Margarita hielt den Spiegel dicht vors Gesicht, holte dann aus der Schreibtischschublade ein Fläschchen Waschlotion und rieb mit einem Wattebausch langsam den blaßgrünen Lidschatten ab. Nein, das war nicht ihr Farbton. Türkisblau stand ihr besser.

Irina stürzte ins Zimmer und packte ihre Tochter unsanft am Arm. »Ach, du Miststück! So bereitest du dich also auf die Prüfung vor?«

»Mama, man muß schon vollkommen bescheuert sein, um bei der Prüfung für dein erbärmliches Lebensmittelinstitut durchzufallen«, sagte Margarita ruhig und befeuchtete ihr Auge vorsichtig mit einem Kosmetiktuch. »Den Pilz wasche ich gleich, reg dich nicht auf. Schon’ deine Nerven.«

Sie stand auf, küßte ihre Mutter auf die mollige Wange und tänzelte in die Küche. Die ausgetretenen Pantoffeln rutschten ihr von den Füßen. Der Morgenmantel aus Kattun war uralt und abgetragen. Margarita hatte ihn schon im achten Schuljahr im Handarbeitsunterricht genäht.

»Schon’ deine Nerven! Als ob du dich für meine Nerven interessierst!« schrie Irina ihr hinterher. »Du bist genau wie dein Vater! Geld ausgeben, das kannst du, Kosmetika kaufen und dir die Fresse anmalen, dafür hast du Geld, aber deiner Mutter gibst du keine Kopeke! Wie lange liegst du Schmarotzerin mir noch auf der Tasche?«

Der weiße Plastiktisch in der Küche war schon längst rissig geworden, die karierten Gardinen waren alt und verblichen. Die Zwiebeln in den Milchkartons faulten, noch bevor sie keimen konnten, und ihr Geruch erinnerte an eine Bahnhofstoilette.

Jewgeni war zu der Frau gegangen, die nach billigem Parfum roch, hatte einige Monate bei ihr gelebt und war dann zurückgekehrt – bleich, abgemagert, in ausgeleierten Jogginghosen und fremden Altmänner-Filzpantinen anstelle seiner guten Hose und neuen Lederhalbschuhe.

»Ira, verzeih mir«, winselte er kläglich. »Ich höre auf mit dem Trinken, ich verdiene wieder Geld.«

Irina verzieh ihm nicht, aber sie jagte ihn auch nicht davon. Er trank natürlich weiter, Geld verdiente er nur wenig. So lebten sie.

Margarita tauchte ihren Arm in die gelbe Pilzbrühe und versuchte, das schleimige Ungeheuer zu fassen.

»Der Leutnant ergriff ihre Hand und führte sie an seine Lippen. Ihre Hand war klein und kräftig, sie duftete nach Sonnenbräune. Selig und ängstlich stockte ihm das Herz bei dem Gedanken, wie kräftig und braungebrannt wohl ihr ganzer Körper unter diesem leichten Baumwollkleid war«, deklamierte Margarita mit halbgeschlossenen Augen.

Für die zweite Runde des von der Stschepkin-Theaterschule ausgeschriebenen Wettbewerbs hatte sie die Bunin-Erzählung »Der Hitzschlag« vorbereitet. An der Schauspielschule des Künstlertheaters war für sie alles schon nach dem ersten Durchlauf zu Ende gewesen. An der Filmhochschule hatte sie ihre Papiere gar nicht erst eingereicht – hier war die Konkurrenz gnadenlos, auf einen freien Platz kamen hundertsiebzig Bewerberinnen. Aber an der Stschepkin-Schule hatte sie die erste Runde überstanden, und durchaus erfolgreich.

Der feste, schwere Körper des Teepilzes entzog sich ihren Fingern, als sei er lebendig. Der Pilz haßte Margarita, und Margarita haßte ihn.

»Wenn du an die Schauspielschule gehst, brauchst du hier nicht mehr aufzutauchen!« schrie Irina aus dem Wohnzimmer und wedelte mit dem Besen über den abgetretenen Teppich. »Wenn du hier was zu fressen haben willst, dann geh ans Lebensmittelinstitut!«

Vierzig Minuten später stand Margarita zwischen vielen anderen Mädchen und Jungen vor einer hohen Eichentür im alten Gebäude der Stschepkin-Theaterschule. Hinter der Tür tagte die Aufnahmekommission. Die zweite Prüfungsrunde war in vollem Gange. Ausgewählt wurden die Studenten von Professor Konstantin Iwanowitsch Kalaschnikow.

Es war Ende Juni 1991.

***

Olga Guskowa war gewohnt, in den realen Schwierigkeiten des Lebens einen verborgenen mystischen Sinn zu suchen, hinter den drückenden Problemen des Alltags etwas Magisches, Schicksalhaftes zu sehen.

Den Jahreswechsel 1996/97 beging Olga allein in ihrer ärmlichen Küche. Draußen heulte der Wind, es herrschte dichtes Schneetreiben. Im Wohnzimmer dröhnte der Fernseher, und die Oma stöhnte und ächzte. Olga stand am Küchenfenster und blickte ihrem verschwommenen Spiegelbild in die Augen. Es kam ihr vor, als schwebe dort, hinter der Scheibe, in der schneeerfüllten Finsternis ihre schwerelose, glückliche, wunderschöne Doppelgängerin.

Nebenan läuteten im Fernseher die Glocken der Kreml-Turmuhr. Olga hatte niemanden, mit dem sie hätte anstoßen können. Sie hatte auch keinen Sekt zum Anstoßen. Im Haus gegenüber waren die Fenster hell erleuchtet, eine lustige Gesellschaft kam auf den Hof gerannt, Böller krachten, man hörte betrunkenes Gelächter und quiekende Frauenstimmen. Alle waren in ausgelassener Stimmung, in Silvesterlaune.

Olga tat sich selber leid.

»Ich bin verhext worden«, klagte sie ihrer schwankenden Doppelgängerin. »Woher kommt diese Melancholie? Wieso fühle ich mich so schlecht? Das ganze Leben ist mir verhaßt.«

Ihre lebhafte, kranke Phantasie, angefacht durch die Erschöpfung, Einsamkeit und nervliche Anspannung malte ihr gruselige Bilder. Zottelige Weiber mit verkrümmten Fingern zerstießen in Mörsern getrocknete Kaulquappen und Schaben, fädelten die Zähne von dreizehn schwarzen Katzen auf einen Faden, formten aus Wachs ein Figürchen, das Olga darstellte, und durchbohrten die Brust des Figürchens mit glühenden Nadeln, links, wo das Herz sitzt.

Wenn man auf einem Klappbett in der Küche schlafen, die endlosen Launen einer unvernünftigen alten Frau erfüllen, jede Kopeke zählen und das neue Jahr ohne Tanne und ohne Sekt feiern muß, allein mit dem eigenen Spiegelbild im schmutzigen Küchenfenster, dann ist es kein Wunder, daß man in trüber Stimmung ist. Erst recht, wenn man dreiundzwanzig Jahre, gesund, hübsch und noch ungeküßt ist. Zwar folgen dir auf der Straße, in der Uni, in der Bibliothek gierige Männerblicke, du aber hast Angst, ohne zu wissen wovor, und fliehst vor diesen Blicken wie vor der Pest.

»Du mußt wählen«, hatte ihr einmal der alte, müde Diakon in der Himmelfahrtskirche gesagt, »wenn du ein rechtgläubiger Mensch bist, dann vertreibe die unreinen Kräfte mit Gebet und Kreuzzeichen. Du bist doch ein kluges Mädchen, aber du benimmst dich wie ein abergläubisches altes Weib, das glaubt, die Nachbarin habe ihr in die Suppe gespuckt und davon hätte sie Hämorrhoiden bekommen. Ich weiß, du hast es sehr schwer mit deiner Oma. Aber alles geht vorbei, du bist noch so jung, halt durch, es geht nicht anders. Jeder hat sein Kreuz zu tragen.«

»Sie verstehen mich nicht«, sagte Olga, »ich bin verhext worden, auf mir liegt ein böser Zauber, da hilft kein Gebet.«

»Du solltest heiraten«, seufzte der Diakon und blickte Olga mitleidig an. »Wenn du erst mal Kinder hast, verschwinden all diese Flausen von selbst aus deinem Kopf.«

»Heiraten?! Kinder?! Das ist zu einfach! Das sind niedere Instinkte, eines geistigen Wesens unwürdig! Das hätte ich von Ihnen nicht erwartet, Vater!« entrüstete sich Olga.

Niemand verstand sie. Und sie verstand sich selbst nicht.

 

»Olga! Ich muß mal groß!«

Die Oma hämmerte mit der Faust an die Wand. Olga rannte ins Wohnzimmer. Man hätte denken können, die alte Frau käme allein nicht mehr zurecht, würde es nicht bis zur Toilette schaffen. Aber besser war es, überhaupt nicht zu denken, sie einfach unterzuhaken, durch den Flur zu führen, vor der offenen Tür stehenzubleiben und zu warten, die Nase in den Ärmel der verwaschenen Bluse gesteckt.

Die Oma pflegte immer genau zu kommentieren, was gerade in ihrem Organismus vor sich ging. Nicht nur Olga, sondern auch alle alten Frauen auf dem Hof, auch der Arzt, der die Oma zweimal im Monat besuchte, und der junge Bursche vom Sozialamt, der die Rente ins Haus brachte – alle sollten genauestens wissen, wie Oma Iwettas Darm funktionierte.

»Warum drehst du dich weg? Ich merke schon die ganze Zeit, daß du dich vor mir ekelst. Vergiß nicht, ich war es, die dich aufgezogen hat, nächtelang habe ich nicht geschlafen. Wieso hast du gestern Reis gekocht? Von Reis bekommt man Verstopfung. Steh nicht herum wie ein Hornochse, hilf mir hoch.«

Die Psychiaterin hatte ihr erklärt, das völlige Fehlen elementarer Schamgefühle sei ein charakteristischer Zug für diese Krankheit.

»Du bist doch kein Krüppel, du kannst das doch allein!« rutschte es Olga heraus, und sofort tadelte sie sich: Jetzt wird es noch schlimmer.

»Ich werde einen Brief an die Behörden schreiben, es gibt eine Kommission, die überprüft, wie alte Menschen von ihren Verwandten behandelt werden.«

Und so ging es ununterbrochen weiter. Olga hörte gar nicht hin, sie bewegte sich wie aufgezogen, führte die alte Frau ins Bad zum Händewaschen, brachte sie dann ins Bett und machte den Fernseher aus. In die Küche zurückgekehrt, lehnte sie sich wieder gegen die Fensterscheibe. Auf dem Hof war noch immer die fröhliche Silvesterparty im Gange. Das Horoskop für das kommende Jahr prophezeite Olga Guskowa nichts als Unglück und Aufregungen, eine kleine, ganz persönliche Apokalypse.

Gleich nach Neujahr erkrankte Olga an einer schweren Grippe. Sie lag mit hohem Fieber, fast schon mit Halluzinationen, im Bett. Die Oma wurde vor Schreck für eine Zeitlang ganz klar im Kopf. Sie pflegte Olga, gab ihr Tee mit Honig zu trinken. Den Honig, den Himbeertee und die teuren ausländischen Medikamente brachte Margarita. Nach der Schule hatten die beiden sich nicht aus den Augen verloren. Margarita besuchte Olga weiterhin, zuerst in der alten Zweizimmerwohnung, dann in dem kleinen Einzimmerapartment.

 

»Sie kann ja, wenn sie nur will«, sagte Margarita lachend, als sie die energische, erschrockene Iwetta Tichonowna sah, »du solltest öfter mal krank werden, du hast sie ja völlig verzogen.«

Als es Olga schon besser ging, kam sie noch einmal, frisch, mit vom Frost geröteten Wangen.

»Du mußt an die Luft. Am Samstag fahren wir auf die Datscha zum Skilaufen.«

»Nein«, Olga schüttelte den Kopf, »ich habe keine Skier, ich kann auch nicht Ski laufen, und überhaupt will ich niemanden sehen.«

»Aber dort ist ja auch niemand. Skier werden sich schon finden, und das Skilaufen bringe ich dir bei. Du mußt mal raus aus dieser Umgebung, du brauchst Bewegung und frische Luft. Es tut einem ja weh, dich anzusehen.«

Am Samstag war strahlender Sonnenschein. Von der frischen eiskalten Luft wurde Olga schwindlig. Margarita gab ihr eine ganz leichte, mollig warme, schneeweiße Steppjacke, dicke flauschige Socken und Handschuhe aus Angorawolle. In dem riesigen warmen Haus fanden sich auch noch Skistiefel in der passenden Größe und nagelneue, gewachste Skier.

»Du mußt unbedingt einmal pro Woche Ski laufen«, sagte Margarita, als sie zu zweit durch den stillen Birkenwald glitten, »überhaupt brauchst du mehr Bewegung und Sport. Dann verschwinden alle deine fixen Ideen. Beim nächsten Mal nehme ich dich zum Tennis mit.«

»Ich kann nicht Tennis spielen.«

»Blödsinn. Weißt du noch, im fünften Schuljahr hast du beim Sport auf der Bank gesessen, man mußte dich gewaltsam zum Hochsprung zerren. Da hast du auch gesagt: Ich kann das nicht. Und dann bist du höher gesprungen als alle anderen. Ich verstehe sowieso nicht, wie du so leben kannst. Wie wäre es, wenn du dich mal verlieben würdest? Sich bei deinem Aussehen mit einer verrückten Oma lebendig zu begraben – ich verstehe dich nicht.«

Olga gab keine Antwort. Sie hatte den Kopf zurückgelegt und schaute zum klaren Winterhimmel empor, in dem langsam die weiße Spur eines Düsenjägers schmolz.

»Übrigens, heute ist nach dem alten Kalender Neujahr«, teilte Margarita vergnügt mit, »heute abend machen wir eine kleine Fete.«

»Wie, es kommt noch jemand?« fragte Olga erschrocken.

»Unwahrscheinlich. Mein Konstantin ist für eine Woche geschäftlich nach London gedüst. Und sonst gibt es niemanden.«

»Warum bist du nicht mitgeflogen?«

»Ich hab Aufnahmen beim Fernsehen. Überhaupt sollte man sich ab und zu mal trennen. Das tut dem Eheleben sehr gut. Merk dir das für die Zukunft.«

Als sie zurückkehrten, sahen sie vor dem Haus mehrere Autos stehen, ausschließlich teure ausländische Marken.

Schon seit einigen Jahren veranstaltete Gleb Kalaschnikow zum alten Neujahrsfest auf der Datscha seine Männerabende. Er holte sich die nötigen Leute zusammen, und dann erörterten sie bei Schaschlik und Bier alle möglichen geschäftlichen Fragen. Damen wurden zu diesen Arbeitstreffen nicht eingeladen, sie hätten nur abgelenkt.

»Was, zum Teufel«, hörte Olga eine wütende Männerstimme, als sie und Margarita an der Vortreppe gerade die Skier abmachten.

Die Tür sprang auf, es erschien ein untersetzter Mann in einem dicken weißen Pullover, dessen Ärmel er bis zum Ellbogen hochgeschoben hatte.

»Gleb, mein Herzblatt, sei mir gegrüßt«, zwitscherte Margarita, sprang die Stufen der Treppe hoch und küßte ihren erzürnten Stiefsohn auf die Wange, »alles Gute zum neuen Jahr, ich hatte ganz vergessen, daß du kommen wolltest. Ehrlich, es war mir total entfallen. Olga ist meine Zeugin. Darf ich vorstellen, meine Schulfreundin Olga Guskowa. Sie hat gerade eine schwere Grippe hinter sich und mußte unbedingt mal an die frische Luft. Da ist mir nichts Besseres eingefallen als hierherzufahren, verzeih mir dummem Schaf. Aber wir werden euch nicht stören.«

Man sah Gleb deutlich an, daß er über das unerwartete Auftauchen seiner jugendlichen Stiefmutter äußerst verärgert war. Olga fühlte sich unbehaglich. Wer möchte schon gern ein ungebetener Gast auf einer fremden Datscha sein? Vor lauter Nervosität bekam sie die Skibindung nicht auf, die Metallklammer hatte sich verkeilt.

»Gleb, sei der jungen Dame behilflich, du bist doch ein Gentleman«, sagte Margarita lächelnd, »und gebt euch doch endlich die Hand. Olga, das ist Gleb Kalaschnikow, mein charmanter, wohlerzogener, gastfreundlicher Stiefsohn. Gleb, das ist Olga Guskowa, meine alte Freundin aus der Schulzeit.«

»Angenehm«, brummte Gleb, sprang von der Treppe herunter, hockte sich vor Olga auf den Boden und zog an der Klammer des Skis. »Ja, die hat sich gründlich verklemmt. Da bleibt nur eins übrig – den Fuß amputieren.«

Sie hob ihre erschrockenen blauvioletten Augen zu ihm empor. Nach der Grippe war ihr Gesicht schmaler, fast durchsichtig geworden. Die Augen wirkten riesig, phantastisch, auf den Wangen schimmerte eine zarte Röte. Gleb stieß einen leisen Pfiff aus. Er hatte schon viele schöne Frauen gesehen, aber diese hatte etwas Besonderes, wie von einem anderen Planeten. Und sie war völlig ungeschminkt, alles an ihr war Natur.

»Entschuldigen Sie«, murmelte sie, »ich fahre gleich ab.«

»Aber nicht doch!« Er schnürte ihr geschickt die Skistiefel auf, zog sie ihr mitsamt den Skiern aus, hakte sie unter und führte sie feierlich ins Haus.

Noch vor einer Stunde war er außer sich gewesen, als er Margaritas schwarzen Opel vor dem Haus erblickt hatte. Er konnte es nicht ausstehen, wenn jemand seine Pläne durchkreuzte. Aber jetzt löste sein Zorn sich in Luft auf. Er schenkte Olga Sekt ein, bewirtete sie mit frischen Erdbeeren und Kirschen, küßte ihr die Hand, machte ihr ein Kompliment nach dem anderen, erzählte Witze und spielte den Clown, kurz, er war ungeheuer aufgekratzt.

Aus den geschäftlichen Gesprächen wurde nichts. In der Gesellschaft der beiden schönen Frauen verwandelte sich der seriöse Männerabend in eine fröhliche Party. Margarita gab sich unwiderstehlich, flirtete heftig mit den beiden Bierbrauern aus Bremen und machte dem windigen Journalisten, der für die Werbung in einer soliden Bankerzeitschrift verantwortlich war, schöne Augen. Jeder der anwesenden Männer spürte ihre besondere Aufmerksamkeit, was der Eigenliebe schmeichelte, ohne große Illusionen zu wecken.

Olga verlor völlig den Kopf. Sie war zum ersten Mal im Leben in einem solchen Haus, in einer solchen Gesellschaft, aß zum ersten Mal in ihrem Leben im Januar auf einer verschneiten Datscha frische Erdbeeren und Kirschen. Die Schwäche nach der Grippe, die lange Skifahrt, die einlullende Wärme des Kamins, der Sekt mit dem süßen Likör taten ihre Wirkung. Gegen Mitternacht konnte sie kaum noch die Augen offenhalten. Die weichen Lippen des fröhlichen Gastgebers flüsterten ihr etwas ins Ohr, streiften wie zufällig ihre Wange, ihren Hals. Seine Finger strichen zärtlich durch ihr dichtes, seidiges Haar, und ihr schwirrte der Kopf immer mehr.

»Denk bitte daran, sie ist noch Jungfrau«, flüsterte Margarita ihm in einem passenden Moment rasch zu.

»Du machst wohl Witze.« Gleb grinste spöttisch. »Dreiundzwanzig, eine solche Fassade und Jungfrau?«

»Ich hab dich gewarnt.« Margarita blinzelte ihm zu und lachte im selben Augenblick lauthals über einen plumpen Witz des Bremer Bierbrauers.

Als Olga sich am nächsten Morgen nackt im Bett mit Gleb Kalaschnikow wiederfand, war sie weder erschrocken noch überrascht. Sie fühlte sich so wohl, daß sie am liebsten die Augen gar nicht mehr aufgemacht hätte. Der ganze Vorrat an unverbrauchter romantischer Energie, der sich in ihr angesammelt hatte, konnte sich nun endlich in einer wahnsinnigen, ewigen Liebe verströmen. Die drückende Melancholie wich einem überschwenglichen Glücksrausch.

Gleb hielt sich für einen guten Kenner der weiblichen Psyche. Heute will sie noch für ihn sterben, aber morgen verlangt sie nörgelnd und launisch nach einem neuen Pelzmantel und einem Brillantring. Allerdings, sie war wirklich noch Jungfrau gewesen, wer hätte das gedacht.

Aber Olga verlangte weder am folgenden Tag noch nach einem Monat oder nach einem halben Jahr irgend etwas, das man für Geld kaufen konnte. Ihre Liebe war völlig selbstlos und rein. Sie wollte nur eins – immer mit Gleb zusammensein, jede Minute ihres Lebens. Sie wollte, daß er sich scheiden ließe, drohte mit Selbstmord, sprach von Sünde und Unzucht. In einer Scheidung sah sie nichts Schlimmes, da Gleb mit seiner Frau nicht kirchlich getraut war.

»Hör mal«, sagte die kluge Margarita eines Tages zu Gleb, »heirate Olga doch einfach heimlich, in aller Stille. Was kostet’s dich? Keiner wird davon erfahren, und sie beruhigt sich wenigstens ein bißchen. Sonst tut sie sich vielleicht wirklich noch etwas an.«

»Du bist wohl verrückt! Ich habe nicht die leiseste Absicht, mich von Katja scheiden zu lassen.«

»Es redet ja niemand von Scheidung«, meinte Margarita schulterzuckend, »du kannst weiterleben wie vorher. Mach ihr nur ein bißchen Theater vor. Und spiel auf Zeit, sag ihr, du kannst Katja nicht so plötzlich verlassen, du müßtest dir erst eine neue Wohnung suchen, und dafür hast du im Moment keine Zeit. Im übrigen brauche ich dir ja wohl keine guten Ratschläge zu geben.«

»Wahrhaftig«, schnaubte Gleb, »das brauchst du nicht.«

Zu einer kirchlichen Trauung mit Olga konnte er sich aber doch nicht entschließen. An Gott glaubte er zwar nicht, aber die Vorstellung war ihm nicht ganz geheuer, daß der alte Ritus nur eine Maskerade sein sollte. Außerdem kam es ihm makaber und widerlich vor, der seltsamen, unberechenbaren Olga das Versprechen ewiger Treue zu geben, während die eigene Ehefrau noch am Leben war.

Und so spielte er auf Zeit, versprach ihr das Blaue vom Himmel und erstickte ihre Hysterie mit Küssen. Bald wollte er sich von ihr trennen – allzu anstrengend wurde diese Affäre, allzu viel Kraft und Lügen forderte sie. Aber jedesmal, wenn er zu einem weichen, taktvollen »Verzeih« anhob, blickte er in ihre riesigen blauvioletten Augen, atmete den Duft ihrer seidigen hellbraunen Haare ein und dachte: Nein. Nicht jetzt. Nicht heute.

 

An jenem denkwürdigen, frostigen Abend auf der Datscha zum alten Neujahrsfest waren alle in fröhlicher, ausgelassener Stimmung. Nur einer schwieg, lachte nicht, aß und trank fast nichts.

Felix Grischetschkin, der dicke Geschäftsführer von Glebs Casino, starrte die schöne Olga aus seinen kleinen runden Augen unverwandt an. Aber niemand bemerkte es.